Norbert Elias' Zivilisationstheorie: Die Prozeß- und Figurationsthese


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

25 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Theoriemethodischer Hintergrund

II. Die Prozeß- und Figurationstheorie

III. Resumee

Literaturverzeichnis

Einleitung

Ein Gedicht, von Norbert Elias selbst verfaßt, stellt auf poetische Weise dessen besondere Sichtweise von Gesellschaftsentwicklung dar:

„Und Zufall wächst/ im Wandel der Geschichte

dem Wesen ein/ wird mein/ und wird Geschichte

Und Strom wird Welle/ Welle stromdurchtränkt

Bin ich in dich/ seid ihr in sie versenkt

Verschlungen Dasein/ Mensch und Stern und Tier

Wächst eins im anderen/ Du und Ich sind Wir“[1]

Er beschreibt die unauflösbare Verflechtung von Geschichte, Menschen und ihrer Entwicklung, die sich in ihnen selbst wiederfindet. Daß Menschen und Natur in ständiger Wechselwirkung stehen, daß Geschichte in ihnen entsteht und doch in eigenständigen, unbeeinflußbaren Bahnen läuft - eben wie ein Fluß, der letztlich doch sein eigenes Ziel ins Meer sucht – dies ist Inhalt dieser Arbeit.

Man kann Elias’ Werke in drei Teile gliedern. Die Zivilisationstheorie, die sich auf die Wechselwirkung von Soziogenese und Psychogenese konzentriert, zweitens die Prozeß- und Figurationstheorie, welche Bestandteil meiner Arbeit ist. Letztens ist dann noch die Wissens- und Wissenschaftstheorie zu nennen.

Zuerst müssen einige anthropologischen Grundannahmen dargelegt werden. Sie sind insofern wichtig, als sie das grundlegende Menschenbild des Autors erklären, auf dem Theorien der Sozialwissenschaft aufbauen. Daran anschließen muß die Forschungsmethodik und die erkenntnistheoretischen Paradigmen, um darzulegen, von wo Elias in seiner Denkweise beginnt, wie er Gesellschaft sieht und mit welchen Werkzeugen er forscht. So kann der Hauptteil die Ergebnisse seiner so strukturierten Arbeit in Bezug auf „Figurationen“ als Prozesse darlegen. Dabei gehe ich auf Machtdifferenzen von Figurationen und auf historische Mechanismen der Staatsbildung näher ein. Als Abschluß dieser Arbeit füge ich zum einen meine persönlichen Ergänzungen hinzu, die sich durch die Arbeit mit seinen Schriften ergaben. Darin beschreibe ich Auffälligkeiten im Zusammenhang mit Elias’ Theorien sowie Anknüpfungspunkte und Erklärungen gegenwärtiger Phänomene. Den letzten Punkt dieser Hausarbeit stellt eine Kritik dar. Ich habe bewußt auf eine Autorenkritik verzichtet, weil ich statt dessen mit eigenen kritischen Gedanken an die persönlichen Ergänzungen von III. 1.) konsistent anknüpfen kann. Eine kurze Zusammenfassung fehlt, weil sie in meinen Augen nur das Gesagte wiederholen kann und statt dessen die persönlichen Überlegungen von III. 1.) und 2.) aus meinem Programm verdrängen würde.

Die Quellen für diese Arbeit sind verschiedene Werke. Hauptsächlich habe ich mich auf Norbert Elias zur Einführung und das Lehrbuch Soziologische Theorie bezogen. Beide liefern einen breiten, aber dennoch detaillierten Zugriff auf Elias’ Theorien. Der Elias- Kenner Goudsblom konnte darüber hinaus vertiefendes Material zu Figurationen und ihren Wandel liefern. Er ist auch Autor des Aufsatzes in Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, den ich u.a. als Sekundärquelle hinzuzog. Letztlich war selbstverständlich der zweite Band von Über den Prozeß der Zivilisation Teil der Primärliteratur, um besonders die Staatsbildungsmechanismen und langfristigen Prozesse der Makroebene abzuhandeln.

Die Prozeß- und Figurationsthese gilt als Schlüsseltheorie[2] im Gesamtkomplex der Werke. Deswegen stellt sie den Hauptkomplex meiner Arbeit dar. Wie wendet Elias diese Schlüsselthesen zur Analyse von Gesellschaft und ihrer Entwicklung an? Ich werde mich bei der Klärung dieser Frage auf die dynamische Verflechtungen menschlicher Interdependenz konzentrieren, auf ihre Wirkungen für die Makroentwicklung von Gesellschaft, also im speziellen auch auf Staatsbildung und ihre inhärenten historischen Mechanismen sowie auf Machtbalancen.

I. Theoriemethodischer Hintergrund

1. Anthropologische Grundannahmen

Für die menschenwissenschaftliche Analyse, die Elias leisten will, muß auf die offensichtlichen Unterschiede zwischen Mensch und Tier eingegangen werden. Und „Da die Leistungsfähigkeit einer menschenwissenschaftlichen Theorie mit ihren Prämissen steht oder fällt, bemüht sich die Prozeß- und Figurationstheorie, mit einem qualitativen Minimum an anthropologischen Prämissen auszukommen. So verzichtet Elias darauf,... festzulegen, ob der Mensch ein rationales oder ein triebbestimmtes Wesen ist... “[3]

Elias unterscheidet zwischen kategorialen und prozessualen Merkmalen. Der Mensch kann differenzierte Mimik und Sprache ausdrücken als andere Wirbeltiere; er kann mittels komplexer Sprache, Grammatik, Syntax etc. hochgradig abstrakt kommunizieren. „Die relative Instinktlosigkeit wird kompensiert durch die Ausbildung kognitiver Schemata, die... eine neuartige Verhaltenssteuerung ermöglichen. Ebenso zeichnet sich der Mensch durch ein hohes Phantasievermögen aus.“[4]

Neben diesen oft formulierten biologischen settings des Menschen (z.B. die sozialkommunikative Selbstprogrammierung des Verhaltens bei G. H. Mead) weist Elias aber auch darauf hin, daß seiner Meinung nach die Anthromorphie historischen Einflüssen und Wandlungen unterliegt. Das Verhaltens- Setting ist eben nicht universelle und genetisch festgeschriebene Eigenart der Menschen. Elias „... geht es um die Wandelbarkeit des Menschen, die sich als einzige nicht hintergehbare Universalie direkt aus dem evolutionären Prozeß heraus entwickelt hat.“[5]

Aus dieser wichtigen Annahme folgert außerdem die faktische Gesellschaftlichkeit des Menschen, seine Soziabilität und Sozietät. Menschen sind aufeinander angewiesen, sie müssen zwecks Bewältigung der Konflikte mit ihrer Umwelt mit anderen kooperieren. Der Einzelne lernt durch Sozialisation den „richtigen“ Verhaltenskodex, was eine soziogene Prägung von psychischen Funktionen bedeutet.[6] Es ergibt sich aus diesen Punkten das wirkliche „menschliche“ am Menschen. Er vermag eine psychische Selbststeuerung zu leisten, welche eine Modellierung seiner sozialen Beziehungen erlaubt.

Die genannte Wandelbarkeit des Menschen ist Ursache für den Zusammenhang zwischen psychischer Formung des Verhaltens in der Sozialisation (Psychogenese) und der Entwicklung von sozialen Interdependenzen und Strukturen (Soziogenese). Elias meint nun, daß „...sich mit der Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen auch die psychischen Funktionen ausdifferenzieren.“[7] Mit steigendem Verflechtungsniveau einer Gesellschaft erhöhen sich die Anforderungen an die Selbstregulierung von Trieben und Affekten des Individuums. Die zunehmenden und sich verlängernden Interdependenzketten erfordern langfristige Planung mittels kurzfristiger Affektbeherrschung.

Obwohl ich den Figurationsbegriff erst im Folgenden abhandle, muß ich ihn im Zusammenhang anthropologischer Axiome der Elias’ schen Zivilisationstheorie aufgreifen. Menschen sind nicht nur untereinander abhängig und in ihren Handlungen verflochten; der Mensch bildet auch mit seiner natürlichen Umwelt eine Figuration. Dies sollte nicht vernachlässigt werden, muß doch in den Sozialwissenschaften ein materialistische Verständnis von Gesellschaft und Entwicklung einen elementaren Platz einnehmen. Spätestens seit Karl Marx ist ein Grundlegendes für die Menschenwissenschaften eben die Auseinandersetzung zwischen der Natur und Mensch. „Die erste Vorraussetzung aller Menschengeschichte ist... die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. Der erste zu konstatierende Tatbestand ist also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. ... Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.“[8] Elias teilt diese Annahme; er beschreibt die Auseinandersetzung mit der Umwelt und die darauf aufbauende Gesellschaftsentwicklung als Teufelskreislauf. Emotionales Handeln („Engagement“), Wissensverluste und ein Kontrolldefizit über eine gefährliche Umwelt gehen Hand in Hand und schaukeln sich auf. Diese „... Theorie des Doppelbinders wird von Elias zunächst auf die Beziehung der Menschen zur Natur... angewendet. Die Umstände des menschlichen Lebens wurden... Jahrtausende lang von dieser geschlossenen, in sich wiederkehrenden Kette von Ursachen- und Wirkungszusammenhängen bestimmt.“[9]

Der Mensch kann nur in Interaktionsverflechtungen vieler Personen leben. Er ist von Anderen abhängig und kommt deshalb nur in als Pluralität vor. Der Mensch ist zwangsläufig auch mit der Natur verknüpft, was sich auf sein Handeln, Denken und Fühlen auswirkt. Er wirkt umgekehrt auf die Natur ein und bildet so Gesellschaft. Sie unterliegt historischen Prozessen, d.h. auch jedes Individuum in ihr. So läßt sich abschließend sagen, „... daß Menschen stets als Vielheiten >relativ offener, interdependenter Prozesse< erscheinen. Das falsche Bild vom >homo clausus<, der... auf die Maximierung ihres Eigennutzes bedachten Monade, wird ersetzt durch das Bild der >homines aperti<... Damit sind wir bei den zentralen Begriffen... angelangt, nämlich Figuration und Prozeß.“[10]

2. Methodik

a) Erkenntnisinteresse

Man kann den Fokus im Forschungsprogramm grob unterteilen. Elias forscht auf drei Ebenen. „Bei Zivilisationsprozessen auf der Ebene der individuellen Entwicklung führt die Spur geradewegs zur Psychoanalyse, zur Entwicklungspsychologie und zur Sozialpsychologie.“[11] Neben dieser ersten Ebene, die sich mit internalisierten Verhaltensstandards im Trieb- und Seelenleben des Einzelnen befaßt, richtet Elias sein Augenmerk auf die historische Entwicklung von kulturellen Verhaltens- Settings. Auf dieser Ebene sind die Verflechtungszusammenhänge zwischen Individuen relevant. Diese Figurationen bilden die Basis, auf der sich Verhaltensstandards wandeln und als „Fremdzwang“ durch Sozialisation zum „Selbstzwang“ werden. Zentral hierbei ist: „Diese Definition [von Sozialisation] widerspiegelt den herkömmlichen Gegensatz zwischen >Individuum< und >Gesellschaft<, wobei die in der Gesellschaft geltenden Werte... als Gegebenheiten betrachtete werden, ohne daß ihre... Soziogenese einer eingehenden Untersuchung unterworfen wird.“[12] So rückt die Veränderungen von individuellen, aber auch kollektiven Persönlichkeitsstrukturen im historischen Ablauf ins Blickfeld. Von der Zweiten Ebene gelangt man unwillkürlich auf die dritte, nämlich die der Verflechtungen zwischen Gesellschaften untereinander und die Mechanismen, die zwischen Nationen zu Entwicklung führen. Denn es ist für Elias zwingend, „... daß kein gesellschaftlicher Zivilisationsprozeß sich in vacuo, ohne Bezug auf... frühere und zeitgenössische Zivilisationsprozesse vollzogen hat.“[13]

[...]


[1] Hammer, Heike: Figuration, Zivilisation und Geschlecht. Eine Einführung in die Soziologie von Norbert Elias. IN: Klein, Gabriele/ Liebsch, Katharina (Hg.): Zivilisierung des weiblichen Ich. 1. Auflage, Frankfurt/M. 1997, S. 39.

[2] Morel, Julius (Hg.): Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. 6. Auflage, München 1999. S. 192.

[3] Baumgardt, Ralf/ Eichener, Volker: Norbert Elias zur Einführung. 1. Auflage, Hamburg 1991. S. 105.

[4] Morel, Julius (Hg.): Soziologische Theorie. S. 197.

[5] Morel, Julius (Hg.): Soziologische Theorie. S.198

[6] Morel, Julius (Hg.): Soziologische Theorie. S.198 f.

[7] Baumgardt, Ralf/ Eichener, Volker: Norbert Elias zur Einführung. S. 106.

[8] Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie. 1845-1846. IN: Marx-Engels-Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 5, Glashütten/ Taunus 1970. S. 10.

[9] Morel, Julius (Hg.): Soziologische Theorie. S. 206.

[10] Baumgardt, Ralf/ Eichener, Volker: Norbert Elias zur Einführung. S. 108.

[11] Goudsblom, Johan: Die Erforschung von Zivilisationsprozessen. IN: Korte, Hermann/ Gleichmann, Peter/ Goudsblom, Johan (Hg.): Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie 2. 1. Auflage, Frankfurt/M. 1979. S. 87.

[12] Goudsblom, Johan: Die Erforschung von Zivilisationsprozessen. S. 85.

[13] Goudsblom, Johan: Die Erforschung von Zivilisationsprozessen. S. 87.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Norbert Elias' Zivilisationstheorie: Die Prozeß- und Figurationsthese
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Soziologie)
Note
2,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
25
Katalognummer
V59803
ISBN (eBook)
9783638536400
ISBN (Buch)
9783640861989
Dateigröße
580 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Prozeß- und Figurationsthese gilt als Schlüsseltheorie des Kultursoziolgen Elias. Deswegen stellt sie den Hauptkomplex dieser Arbeit dar. Wie wendet Elias diese Thesen zur Analyse von Machtmonopolen,Gesellschaft und ihrer Entwicklung an? Ich konzentriere mich auf die dynamische Verflechtungen menschlicher Interdependenz, auf ihre Wirkungen für die Makroentwicklung von Gesellschaft, also insb. auf Staatsbildung und ihre inhärenten historischen Mechanismen sowie auf soz. Machtbalancen.
Schlagworte
Elias, Zivilisationstheorie, Figurationsthese, soziogenese, Psychogenese, Kultursoziologie, Developmentalism, Europa, Historische Soziologie, Prozeß der Zivilisation
Arbeit zitieren
Adrian Arnold (Autor:in), 2001, Norbert Elias' Zivilisationstheorie: Die Prozeß- und Figurationsthese, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59803

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