Neoliberalismus, Postmoderne und Soziale Arbeit - Von neuem Denken zu neuem Handeln?


Diplomarbeit, 2004

91 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Neoliberalismus
2.1 Entstehung und Denkrichtung des Neoliberalismus
2.2. Unterschiedliche Schulen des Neoliberalismus
2.2.1. Der Paleoliberalismus
2.2.2. Der Ordoliberalismus
2.3. Wegbereiter des neoliberalen Projekts
2.3.1. Friedrich August von Hayek
2.3.2. Milton Friedmann
2.4. Neoliberalismus und Moral
2.4.1. Solidarität
2.4.2. Migration
2.4.3. Geschlechter
2.4.4. Neoliberalismus und Ethik
2.5. Neoliberalismus und Medizin
2.6. Neoliberalismus und Soziale Arbeit

3. Postmoderne
3.1. Genealogie des Begriffs
3.1.1. Der Begriff in der Literatur s27
3.1.2. Postmoderne versus Posthistorie
3.1.3. Postmoderne und Architektur
3.1.4. Postmoderne Tendenzen in Malerei und Skulptur
3.1.5. Soziologie: postindustrielle und postmoderne Gesellschaft
3.1.6. Postmoderne Philosophie
3.2. Der Weg in die Risikogesellschaft
3.2.1 Bedingungen und Thesen der Risikogesellschaft
3.2.2. Vom Ohne-, Mit-, und Gegeneinander der Geschlechter
3.2.3. Fazit
3.3. Sozialarbeit als postmoderne Profession
3.4. Soziale Partizipation
3.4.1. These der Differenzierung der Begriffe
3.4.2. Notwendigkeit der Differenzierung der Begriffe
3.4.3. Spannungsfeld zwischen Integration und Inklusion
3.5. Fünf Merkmale der Postmodernisierung in der Sozialen Arbeit

4. Soziale Arbeit und Sozialpolitik
4.1. Entstehung und Funktion der Sozialen Arbeit
4.1.1. Soziale Hilfe als Ausgangspunkt der Sozialarbeit
4.1.2. Segmentär differenzierte Gesellschaft
4.1.3. Stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften
4.1.4. Funktional differenzierte Gesellschaften
4.2. Sozialpolitik
4.2.1. Sozialpolitik als Wirtschaftspolitik
Abb. 2. Magisches Viereck
4.2.2. Sozialpolitik als Verteilungspolitik
4.2.3. Sozialpolitik als Gesellschafts- und Wohlfahrtspolitik
4.3. Von der Umverteilung zur Anerkennung
4.3.1. Das Umverteilungs-Anerkennungsdilemma
4.3.2. Am Beispiel der Ausländer in Deutschland
4.3.3. Affirmation und Transformation, eine Lösung des Dilemmas?
4.3.4. Kleinarbeitung des Dilemmas
4.3.5. Schluss

5. Gelebte Utopien
5.1. Kommunitarismus, Renaissance der Sozialen Arbeit
5.1.1. Entstehung und These
5.1.2. Kontroversen und Kritiken
5.1.3. Soziales Kapital
5.1.4. Am Beispiel von Attac
5.1.5. Fazit
5.2. KGST Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsverein-
fachung
5.3. Freigeld
Das Beispiel Chiemgauer Regional
Besonderheit 1: Regiogeld
Besonderheit 2: Schenkungen neu denken
Besonderheit 3: Gestaltung von unten
Besonderheit 4: Alternde Gutscheine
Balance zwischen Schenkung und Lenkung
Was passiert mit den Euros?
Welche Projekte werden unterstützt?
So idealistisch diese Vorstellungen auch sein mögen, sie funktionieren!
5.4.1. Die Entwicklung der Personenbezogenen Dienstleistung
5.4.2. Der Siegeszug des betriebswirtschaftlichen Dienstleistungs-
konzeptes
5.4.3. Privatisierung und Wettbewerbsstrategien
5.4.4. Demokratie und Bürgerschaftliches Engagement
5.4.5. Fazit
5.5. Globalisierung der Wohlfahrtsstaaten
5.5.1. Das Beispiel Deutschland und EU
5.5.2. Weltweit gesehen

6. Schlussbetrachtungen und Ausblicke

Literaturliste:

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 Das Markt Preisbildungsmodell, Quelle Wilke 2003

Abb. 2 Das magische Viereck, Quelle: eigen

Abb. 3 Demografische Pyramide, Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland

Abb. 4 Tabelle Umverteilung/Anerkennung, Quelle : Fraser 2001

Abb. 5 Der Chiemgauer, Quelle: www.chiemgau-regional.de/

Abb. 6 Der dritte Sektor, Quelle: eigen

Abb. 6 Typen und Phasen der Staats- und Verwaltungsreform, Quelle: Olk 2003

1. Einleitung

Der Grund für meine Diplomarbeit ein so komplexes Thema zu wählen, war meine politische und gesellschaftliche Grundeinstellung. Ich habe zwar noch nie einer Partei angehört und ich sympathisiere auch mit keiner der traditionellen Parteien, denn meine Überzeugung wird von keiner der bestehenden Parteien vertreten. Meiner Meinung nach sollte Politik für Menschen gemacht werden und nicht für Systeme, oder für Weltanschauungen. Ein weiterer Grund dieses Thema zu wählen war meine Überzeugung, dass zwischen dem Gesellschafts- und Menschenbild des traditionellen Liberalismus und meinem Gesellschafts- und Menschenbild erhebliche Widersprüche bestehen, und diese zu betrachten war meine Absicht. Meine kritische Haltung mag mich manchmal dazu zu verleitet haben, dem wissenschaftlichen Anspruch einer Diplomarbeit vor allem im Hinblick auf Sachlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Objektivität nicht immer gerecht geworden zu sein. Sollte dies also der Fall sein, bitte ich im Vorfeld schon um Nachsicht.

Der entscheidende Anstoß zur Formulierung des Untertitels: Vom neuen Denken zum neuen Handeln? kam schließlich durch das Buch: „ Neues Denken in der Sozialen Arbeit. Mehr Ökonomie – mehr Markt – mehr Management “, das die Ergebnisse eines Hochschultages dokumentiert, der 1990 an der Katholischen Fachhochschule in Saarbrücken stattfand. Besonders der erste Artikel von Silvia Staub-Bernasconi mit dem Titel: „Stellen sie sich vor: Markt, Ökologie und Management wären Konzepte einer Theorie und Wissenschaft Sozialer Arbeit“ inspirierte mich zur Fragestellung, wie weit sich Ökonomie und Soziale Arbeit vereinbaren lassen, und wo es Unvereinbarkeiten gibt, die eine Übernahme von Modellen der Marktwirtschaft ausschließen. Auch die sehr widersprüchlichen Denkmodelle von Neoliberalismus und den Sozial- und Geisteswissenschaften haben mich angeregt, mich mit ihnen näher zu beschäftigen

Ich habe beim Thema Neoliberalismus die Kritik stets unmittelbar einfließen lassen, und sie nicht, wie sonst üblich, ans Ende eines Kapitels gestellt, da sie im Kontext verständlicher wird.

Die Wirklichkeit ist immer mehrdimensional. Dies wird im Kapitel über die Postmoderne ausführlich beschrieben. Darum lassen sich Probleme, die vordergründig wirken, doch nicht so leicht eingrenzen und lösen, wie uns dies die Wirtschaftstheorie glaubhaft machen will. Die Wirtschaftswissenschaft zeigt uns nur ein sehr einseitigen Bild des Homo oekonomicus, das in keiner Weise mit dem realen Bild des Menschen wie ihn z.B. die Psychologie, die Soziologie oder die Pädagogik beschreiben übereinstimmt. Dieses Bild ist implizit in allen Theorien des Neoliberalismus vorhanden. Im allgemeinen wird von der liberalen Wirtschaftstheorie nur sehr einseitig auf Fragen geantwortet, nämlich aus der Sicht einer auf Tausch und Konkurrenz basierenden Gesellschaft. Übersehen wird dabei die psychologische, biologische, soziale und kulturelle Wirklichkeit der Gesellschaft. Nicht nur dass die Wirtschafttheorie darüber ihre Sprachlosigkeit eingesteht, sie nimmt die Notwendigkeit der Einbeziehung dieser Wahrheiten nicht einmal wahr, und wenn, dann überlässt sie dies generös den betreffenden Disziplinen. Auch steht der Absolutismus der liberalen Wirtschaftstheorie im krassen Widerspruch zur komplexen und mehrdimensionalen Wahrheit der postmodernen Moderne. Deshalb habe ich im Kapitel über die Postmoderne einen Zusammenhang hergestellt zwischen dem Neoliberalismus, der Postmoderne und der Sozialen Arbeit.

Im Kapitel Soziale Arbeit wird auf die Entstehung und Entwicklung der Sozialen Arbeit und der Sozialpolitik näher eingegangen. Der Umverteilung und Anerkennung habe ich mich ebenfalls gewidmet, da beides in der postmodernen Gesellschaft mehr und mehr zum Thema wird. Die Solidarität wird im Zusammenhang mit Neoliberalismus und Moral eingehend behandelt, da sie sich in diesem Zusammenhang konturenreicher beschreiben läst. Das Kapitel Soziale Arbeit ist deshalb etwas kürzer ausgefallen, da bei den Einzelthemen stets der Bezug zur Sozialen Arbeit hergestellt wird.

Ich versuche in meiner Arbeit den Schritt vom „neuen Denken“ zum „neuen Handeln“ darzulegen, indem ich Möglichkeiten und Wege aufzeige, die im Kapitel gelebte Utopien zusammengefasst sind. Mir geht es in meiner Arbeit nicht darum ein Feindbild des Neoliberalismus zu zeichnen, den es zu bekämpfen und auszurotten gilt, sondern ich möchte eher mit Silvia Staub-Bernasconi betonen, „dass weder die keynesianische noch die monetaristische, aber auch nicht die sozialistische Theorie des Wirtschaftens und Haushaltens in der Lage sind, die ... globalen Problematiken zu lösen.“ (Staub-Bernasconi in Lewkowicz 1991, S. 25)

Hier noch einige Anmerkungen zu meiner Schreibweise und die Art wie ich wichtige Begriffe hervorhebe. Ich habe auf eine Form, die beide Geschlechter gleichermaßen berücksichtigt und wie sie heute oft gebräuchlich ist, aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet, und immer nur eine, meist die männliche Form, benutzt. Ich möchte aber klarstellen, dass meine Form des Schreibens keine Diskriminierung des anderen Geschlechts bedeutet.

Wichtige Begriffe habe ich fett gedruckt um deren Bedeutung hervorzuheben. Wenn Worte kursiv dargestellt werden, so geschieht dies um die besondere Bedeutung zu unterstreichen. Es handelt sich dabei um Begriffe oder Fremdwörter, die entweder zwei oder mehrere Bedeutungen haben, oder aber ich will Gegensätze klar machen, unterschiedliche Standpunkte aufzeigen oder Abgrenzungen vornehmen.

2. Neoliberalismus

„Ein Monster geistert durch die Welt. Sein Wortschatz: Profit und freie Marktwirtschaft, Globalisierung und Laisser-faire! Sein Projekt: Ausweitung der Marktzone. Sein Name: Neoliberalismus.“ (Wilke 2003, S. 11) Und weiter schreib Wilke im selben Tenor: Er vereint marktwirtschaftliche Gesinnung und wirtschaftsliberale Praxis, und hat als ideellen Inhalt: Konkurrenz und Profitmaximierung, Leistungsprinzip und Rentabilität, Deregulierung und Flexibilisierung, Kapital und Finanzmärkte, Globalisierung und Standortwettbewerb, IWF und WTO und so fort. „Neoliberale sind Verfechter des Wettbewerbs, des Egoismus und der Rücksichtslosigkeit, Apologeten eines Markt-darwinistischen Kultes des „survival of the fittest“, Propagandisten des „Molochs“ Markt und einer Wirtschaftsideologie, die nur ein Finale haben kann – die allgemeine Katastrophe.“ (ebd. S.12) Die aktuelle Neoliberalismusdebatte wird verstärkt durch eine Globalisierungsdiskussion und für viele sind Neoliberalismus und Globalisierung nur zwei Seiten der einen Medaille. Am deutlichsten ausgedrückt auf der Homepage von Attac, bei der es in der Überschrift heißt: „Für eine solidarische Weltwirtschaft – gegen neoliberale Globalisierung“ Wilke meint dazu: „Globalisierung sei entgrenzter Neoliberalismus – quasi ein Kolateralschaden des weltweit operierenden und zur Alleinherrschaft gelangten Kapitalismus.“ (ebd. S 14) in diesem Tenor ließen sich die Kritiken noch endlos weiterführen und ihre Zahl ist schier ungezählt. So zum Beispiel bezeichnet Habermas ihn als „Kolonialisierung der Lebenswelt“, Sennet als „den Imperativ der Rendite“, Lohmann als „gnadenlosen Ökonomismus“ und Antony Giddens als „Marktfundamentalismus“. Radikaler formulieren andere ihre Kritik und sprechen von der „Despotie“ des Marktes, schmähen die „infernale Maschine“ des Kapitalismus, entlarven einen „barbarischen Ultraliberalismus“ (Forrester) oder sprechen wie Schui vom „Totalen Markt“ (vgl. ebd S. 12). Verständlich, dass es da nur Gegner und keine Anhänger des Neoliberalismus gibt. Eine ökonomische Denkschule, die sich selbst als neoliberal bezeichnen würde, ist bisher klugerweise noch nicht in Erscheinung getreten. Anhänger marktwirtschaftlicher Positionen nennen sich wettbewerbsorientiert, marktorientiert, bestenfalls liberal.

Aber was ist denn nun die zentrale Aussage des Neoliberalismus und was macht ihn zum Schreckgespenst? Kerntheorie ist das Markt-Preis Modell, dass so simpel und doch, zum Leidwesen der Kritiker, in sich schlüssig ist:

Elemente eines jeden Marktes bilden Angebot, Nachfrage und der Preis, der für eine bestimmte Ware oder Dienstleistung gezahlt wird. Einerseits bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis, andererseits entscheidet der Preis über Angebot und Nachfrage. Erhöht der Anbieter sein Angebot (GA = Güterangebot) bei steigendem Preis (P) ist die Nachfrage (GN = Güternachfrage) gering, da nur wenige Käufer bereit sind einen hohen Preis zu zahlen. Der Profit des Unternehmens ist gering, da es nur eine geringe Anzahl der Produkte auf dem Markt absetzen kann. Sinkt der Preis dagegen, steigt damit auch die Zahl der Käufer und der Profit beginnt zu steigen, da die Nachfrage wächst und der Verkäufer größere Mengen absetzen kann. Bei weiterem Absinken des Preises steigt die Zahl der Käufer, aber der Profit des Verkäufers schrumpft, trotz erhöhtem Absatz, da die Gewinnspanne zu klein wird oder schließlich ganz verschwindet, oder im übertriebenen Fall zum Verlust wird. Im Schnittpunkt der beiden Kurven ergibt sich ein Gleichgewicht. Diesen Idealzustand, bei dem sich Angebot und Nachfrage treffen, nennt man Gleichgewichtspreis (G*). „Die typische Nachfragekurve fällt von links oben nach rechts unten, weil die nachgefragte Menge mit sinkendem Preis zunimmt... Die gleiche Methode der Entwicklung... lässt sich auf die Angebotsseite am Markt anwenden. Hohe Preise bieten für den Produzenten den Anreiz möglichst hohe Mengen anzubieten“ (im Kreislauf der Wirtschaft 1999, S. 95)

In einer Grafik lässt sich dies wie folgt darstellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 Das Markt Preisbildungsmodell
Quelle Wilke 2003

Die Marktsteuerung verläuft also im Sinne einer kybernetischen Rückkoppelung: Diskrepanzen zwischen Anbieter (hoher Preis, hoher Absatz und daraus hoher Gewinn) und Verbraucher (geringer Preis) werden so ausgeregelt, das heißt, über Rückkoppelung in Richtung Übereinstimmung gelenkt. Angebotene und nachgefragte Mengen nähern sich an und kommen zur Deckung. Darüber hinaus stellt dieser Ausgleich ein stabiles Gleichgewicht dar, das sich auch bei exogener Störung wieder in ein Gleichgewicht einpendelt. Daher besteht für alle Beteiligten kein Bedarf etwas zu ändern, so die Vertreter des Neoliberalismus.

Allerdings ist es nicht so, dass im Schnittpunkt G* kein unbefriedigter Bedarf mehr bestünde, wie sich aus der Nachfragekurve ablesen lässt. Aber eben nur ein potentieller Bedarf, der nicht zu dem Preis P* angeboten wird. Der Marktpreis P* rationiert also den potentiellen Bedarf genau auf die Menge, die zu diesem Preis angeboten wird, weil sich das für Anbieter rentiert.

Das Credo lautete also: Der Markt fungiert hier als Koordinationsinstanz und Regelwerk, das Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmt. Er ordnet und regelt das auf den eigenen Nutzen ausgerichtete Handeln der einzelnen Marktteilnehmer. Es werden individuelle Präferenzen und Zahlungsbereitschaften auf der Nachfrageseite mit den Knappheiten im Produktionsbereich (Angebotsseite) abgestimmt. Wenn alle Wirtschaftssubjekte in geregelten Tauschprozessen das nachfragen und anbieten (und also auch produzieren) was den höchsten Nutzen hat, bzw. den größten Gewinn abwirft, dann fördert das auch das Gesamteinkommen und somit das Gemeinwohl. (vgl. Wilke 2003, S.54)

„Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch die Erwerbstätigkeit so lenkt, dass ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs zu erwarten lässt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, dass das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird“, (zit. Nach Smith. 1996, S. 370 f: Wilke)

„Der Marktmechanismus bringt die „chaotischen“ Handlungen unabhängiger und konkurrierender Wirtschaftssubjekte in ein emergentes Muster: als ob eine „ unsichtbare Hand “ wirksam wäre.“ (ebd.) In der Systemik kennen wir dieses Phänomen als Autopoiesis. Neoliberalisten rühmen diese Eigenschaft als „nicht diktatorisch“ es ist von niemandem geplant, beabsichtigt oder erzwungen. Allerdings ist das Ergebnis nicht vorhersehbar, es ist als evolutionärer Prozess nach der Zukunft hin offen und niemand kann gewährleisten, dass die Entwicklung sich zum Guten oder zum Bösen, zum Fortschritt oder zur Katastrophe entwickelt.

Nun ist die Erkenntnis des Preismechanismus nicht gerade neu. Schon in den einfachsten Kulturen in denen Tauschhandel existierte wusste man, dass Waren, die von mehreren Anbietern bereitgestellt wurden, sich bald auf einen stabilen und verlässlichen Preis einpendeln würden. Dieser Preis stellt einen Kompromiss dar, der aus der Bereitschaft des Herstellers, zu diesem Preis zu produzieren, und der Bereitschaft des Käufers, diese Ware zu diesem Preis zu kaufen gebildet wurde. Wirksam war dieser Mechanismus schon immer, aber nie zuvor wurde er so zu einer Maxime erhoben wie in dem Zeitalter der Industrialisierung. Erst mit der Komplexität der heutigen Weltwirtschaft wurde diese Wirkungsweise zum alles umfassenden Erklärungs- und Handlungsmodell.

2.1 Entstehung und Denkrichtung des Neoliberalismus

Wie kam es nun zu dieser alternativlosen Lehrformel welche die ganze Welt unter ihr Diktat stellt? Die Ursachen liegen in der geschichtlichen Entwicklung. Zum einen richtet sich der Neoliberalismus gegen die keynesianische Konzeption der politischen Ökonomie, die von Schui als keynesianischer Wohlfahrtstaat bezeichnet wird.

John Maynard Keynes gilt als einer der bedeutendsten Wirtschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Hauptursache für Arbeitslosigkeit ist nach Keynes eine zu geringe effektive Nachfrage der Unternehmen und der privaten Haushalte. Diese Nachfragelücke soll durch zusätzliche staatliche Nachfrage ausgeglichen werden, was ein schnelleres Erreichen der Vollbeschäftigung ermöglicht. Des weiteren sollen in Depressionszeiten Maßnahmen der öffentlichen Arbeitsbeschaffung, ggf. im Weg der Defizit-Finanzierung, gegen die Arbeitslosigkeit eingesetzt werden. Er gilt als Begründer des modernen Wohlfahrtsstaates. Der Wohlfahrtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass der Staat mit öffentlichen Investitionen die Gesamtnachfrage stützt und wirtschaftslenkende Funktion übernimmt. „Es begann ein „ goldenes Zeitalter... das Zeitalter von Keynes“ (Wilke a.a.O., S. 30) Und schließlich war es auch der Keynesianismus, der Staatsintervention und Wirtschaftslenkung rechtfertigte, sich in eine Ideologie des Machbaren versteigerte, die in einer Vollbeschäftigungsgarantie und einer Feinsteuerung der Konjunktur gipfelte. Zu bedenken ist auch der Umstand, dass diese vehemente Staatslenkungspolitik in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs fiel, in der es noch viel zu verteilen gab. In den siebziger Jahren, als dann eine Stagflation der Wirtschaft einsetzte, begann daher auch das Waterloo des Keynesianismus. Wilke erklärt den Niedergang folgendermaßen: „ Stagnierendes Wachstum hätte expansive Maßnahmen des Staates erfordert, die hohe Inflation dagegen eine restriktive Geldpolitik der Zentralbank. Die Wirtschaftspolitik kann aber nicht zugleich expansiv und restriktiv einwirken; der keynesianische Ansatz war blockiert. Das Krisenszenario mit Massenarbeitslosigkeit, Investitionsschwäche und steigender Staatsverschuldung bekräftigte den Eindruck, die keynesianische Wirtschaftspolitik habe versagt und antizyklische Interventionen seien nicht nur nutzlos, sondern verschlimmern eher noch die wirtschaftspolitischen Fehlentwicklungen.“ (ebd., S. 33)

Genau diese Wirtschaftslenkung steht nach Ansicht der Neoliberalisten im Gegensatz zu ihrer Theorie und ist hemmend und kontraproduktiv. So war es der Österreicher Friedrich von Hayek der in den dreißiger Jahren an der Londoner School of Economics formulierte: „Nicht staatliche Interventionen á la Keynes, sondern die Kräfte des Wettbewerbs sollen dem Marktsystem neue Dynamik verleihen und so zur Krisenbewältigung beitragen... (und) niemand dürfe sich der Illusion hingeben, die Menschen könnten ihre Gesellschaft willkürlich nach ihren Wunschvorstellungen „bauen“. Vielmehr müssten bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung die Regeln und „Gesetze“ beachtet werden, denen das wirtschaftliche und politische Handeln unterliegt.“ (ebd., S. 30) Vergessen wurde dabei zu erwähnen, dass es auch Regeln gibt, denen das gesellschaftliche Handeln unterliegt. Auf diese Tatsache werde ich in Kapitel 2.4.1. näher eingehen.

Zum anderen wage ich zu behaupten, dass der Neoliberalismus nur durch das ausgeprägte Ausleben dessen ermöglicht und begünstigt wurde, was wir unter Postmodernismus verstehen. Diese Epoche, oder dieses Zeitalter, ist stark geprägt durch übersteigerten Individualismus und einem damit verbundenen Niedergang der Solidarität und des Gemeinschaftsdenkens. Daraus entspringt Egoismus, und es kommt zu einer Pluralisierung von Wahrheit und somit zu einem Verschwinden von gewachsenen Werten, oder wie es viele ausdrücken, zu einem Wertepluralismus. Das Thema Postmoderne werde ich in einem eigenen Kapitel ausführlicher behandeln.

Den endgültigen Durchbruch des neoliberalen Projekts verhalf eine Wende in der politischen Großwetterlage Ende der siebziger Jahre: In Großbritannien wurde 1979 die „eiserne Lady“ Margaret Thatcher gewählt (Thatcherismus), in den USA 1980 Ronald Reagan (Reagonomics) und in Westdeutschland 1982 Helmut Kohl (Angebotspolitik). (vgl. Wilke, S. 33) Liberale Ökonomen stießen mit ihren Forderung des „roll- back“ Weniger Staat, mehr Markt ! - auf offene Ohren bei den neu gewählten Politikern und die Monetaristen riefen mit der Parole „Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung“ zu einer Revolution gegen den Wohlfahrtsstaat auf. Inhalte dieser Parolen waren: „Abkehr von der Nachfragesteuerung zugunsten einer Steuerung der Angebotsseite, Abbau überzogener Regulierungen, Verschlankung des Staates (Privatisierung), Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Zurückdrängen des Einflusses der Gewerkschaften (vor allem in Großbritannien, und neuerdings auch in Deutschland), Steuerreform, Umbau des Sozialstaates, Forschungs- und Technologiepolitik, Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und so fort.“ (ebd., S. 34) Angesichts diese Aufzählung, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Bundeskanzler Schröder die Politik, die einst von seinem Vorgänger Kohl begonnen wurde, noch perfektioniert. Simpel formuliert könnte man auch sagen, die Politiker haben sich entschlossen, nach einer langen Ära der Politik für die Arbeiter und die Bürger des Staates, wieder eine Politik für die Wirtschaft und somit für das Kapital zu machen.

2.2. Unterschiedliche Schulen des Neoliberalismus

Wie bereits eingangs erwähnt, gibt es keine Bekenner des reinen Neoliberalismus. Anhänger marktwirtschaftlicher Positionen nennen sich wettbewerb- oder marktorientiert, allenfalls liberal. Trotzdem lassen sich zwei grundlegende Unterscheidungen treffen, die Wilke als Paleoliberale und Ordoliberale bezeichnet.

2.2.1. Der Paleoliberalismus

Seine Anhänger sehen sich als Vertreter eines „ Laisser-faire-Liberalismus “ der dem Staat nur die Funktion eines Nachtwächters zugesteht. Er soll auf Konjunkturpolitik gänzlich verzichten, sich aus der Wirtschaft zurückziehen, da diese zu einem stabilisierenden Gleichgewicht neigt. Dies bedeutet in konsequenter Folge „Privatisierung staatlicher Betriebe und die Deregulierung administrativer Märkte“ (Bartz 2002, S. 37). Diese Theorie ist angebotsorientiert im Gegensatz zum Keynesianismus der die Nachfrageseite betont und sie zum Ziel staatlicher Subventionen und Interventionen macht. Der Staat soll lediglich den „ordnungspolitischen Rahmen für Wettbewerb und Konkurrenz intakt halten, und auch gegen unternehmerische Lobbys für funktionierende Märkte sorgen“ und „ Eine aktive Wettbewerbspolitik ist bei neoliberalen Theoretikern umstritten, weil einige Ökonomen jede Form des Marktversagens verneinen und nur Politikversagen anerkennen.“ (Bartz 2002, S. 323 Hervorhebungen R. B.) Dieser Wunsch der Paleoliberalen erlaubt also dem Staat Schutzfunktionen gegenüber der Wirtschaft wahrzunehmen, damit diese nicht durch Wettbewerbsverzerrungen aus dem Gleichgewicht gerät. Schutzmaßnahmen der Abnehmer, der schwächeren Seite der Marktteilnehmer, der Bürger und Menschen die in Marktsystemen leben und wirtschaften, sind laut Paleoliberalen aber unerwünscht, da sie das Gleichgewicht nur stören.

2.2.2. Der Ordoliberalismus

Ordoliberalismus oder ursprünglich ORDO-Liberalismus geschrieben, ist ein Kunstwort. Ordo, lateinisch für Ordnung, sollte das Hauptmerkmal der Theorie sein. Diese Denkrichtung lehnt die Sozialstaatsfeindlichkeit des Paleoliberalismus ab. Hauptvertreter in Deutschland ist die „Freiburger Schule um den Ökonomen Walter Eucken, der damit eine deutsche Variante des Neoliberalismus schuf und die soziale Marktwirtschaft beeinflusste.“ (Bartz. 2002, S. 342) Diese Richtung lässt regulierende Maßnahmen des Staates zu. Es sind dies: „(1) eine aktive Verhinderung wirtschaftlicher Machtkonzentration, ein Verbot von Monopolen und, wenn sie nicht auflösbar sind, ihre staatliche Beaufsichtigung, (2) eine sozialpolitische Korrektur der Einkommen z.B. mit Hilfe der Steuer- und Vermögenspolitik, und (3) einen Ausgleich in der Wirtschaftsrechnung, wenn die Gesamtheit der Kosten des Wirtschaftsprozesses nicht selbst finanziert, sondern Teile externalisiert werden; dieser Ausgleich kann im Falle von Umweltzerstörungen als Frühform von Ökoabgaben gelten.“ (Bartz a.a.O., S.342)

Beiden Richtungen gemeinsam ist aber die Überzeugung, dass der Markt die Koordinationsaufgaben besser bewältigt als der Staat. In der Praxis funktioniert die neoklassische Theorie, und das macht sie so erfolgreich. Dieser praktische Erfolg ist die entscheidende Stärke sowohl des Marktes als auch der Theorie und nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. „Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist das Pro-Kopf-Einkommen in Europa mit 1,5 Prozent pro Jahr zehnmal so schnell gestiegen wie im Jahrtausend davor. Nach dem zweiten Weltkrieg schafften die OECD-Länder eine Epoche des stärksten Einkommens- und Wohlstandswachstums der bisherigen Wirtschaftsgeschichte. In Deutschland vervielfachten sich die Realeinkommen und Vermögen während dieser Periode.“ (Wilke 2003, S. 18) Solche Erfolge des Marktkapitalismus sollen aber die Schattenseite nicht verhüllen: Massenarbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit, neue Formen der Armut und Umweltzerstörung. Beides, Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Aufschwung, gehören zu einem Gesamtbild. Kritiker des Neoliberalismus fallen hier sehr gerne in eine polemisierende Argumentation, indem sie Missstände aufzeigen und aus diesen Teilaspekten heraus ein „besseres“ System fordern. Nun lässt sich kein komplexes soziales System nur aus einem Teilaspekt heraus verändern und der Ruf zurück zum Sozialstaat mit mehr staatlicher Steuerung ist ebenso verfehlt wie die Forderung der Neoliberalen nach dem Verzicht der staatlichen Lenkung und Steuerung. Es geht nicht um die Alternative Staat oder Markt, sondern um die komplizierte Frage, wie viel staatliche Regulierung des Marktes nötig und optimal wäre für die Bewältigung konkreter Probleme.

2.3. Wegbereiter des neoliberalen Projekts

„Friedrich von Hayek und Milton Friedmann sind die beiden Meisterdenker, die dem neoliberalen Projekt den Weg geebnet haben. Hayeks Schrift Der Weg zur Knechtschaft (1944) ist eine eindrückliche Warnung vor den Gefahren des Kollektivismus: Wenn der Markt ausgeschaltet und dem Staat die Aufgabe der Wirtschaftslenkung übertragen werde, sei es um die Freiheit der Wirtschaftssubjekte geschehen. Friedmann unterstellt in seinem einflussreichsten Buch Kapitalismus und Freiheit (1962) die wirtschaftliche Freiheit als Voraussetzung der politischen. Als glühender Verfechter des Marktkapitalismus führte Friedmann die monetaristische Revolution gegen den Keynesianismus an – eine Bewegung, die dem Neoliberalismus zum Durchbruch verhalf.“ (Wilke 2003, S. 107) Keiner von beiden hat allerdings den Begriff „neoliberal“ zur Selbstbeschreibung oder Kennzeichnung des eigenen Denkansatzes verwendet. Für sie gab es lediglich den Liberalismus, in dessen Zentrum die Freiheit des Individuums stand.

2.3.1. Friedrich August von Hayek

Friedrich August von Hayek (1899 – 1980) kam auf Umwegen zur Wirtschaftswissenschaft. Zunächst sympathisierte er, wie viele junge Leute seiner Zeit, mit sozialistischen Ideen. Mit zunehmender Einsicht in die ökonomischen Probleme seiner Gesellschaft wandelte sich aber seine Einstellung in die eines radikalen Anti-Sozialisten. Wie ein Schock traf ihn die Lektüre des Buches „Die Gemeinwirtschaft“ seines Lehrers von Mises. Der Erzliberale hatte in diesem Werk den Versuch unternommen, die Unmöglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsrechnung nachzuweisen. 1931 wurde Hayek an die London School of Economics (LSE) eingeladen. Dort berief man ihn als ersten Ausländer auf einen Lehrstuhl. So war es auch unvermeidlich, dass er in eine Kontroverse um die keynesianische Revolution hineingezogen wurde. Konträrer hätten die Auffassungen dieser beiden Theoretiker, die gleichwohl einen freundschaftlichen Umgang pflegten, nicht sein können. Gemeinsam war beiden Denkern die Besorgnis über die ökonomische Misere ihrer Zeit. Hayek hatte den „dringenden Wunsch, eine Welt neu zu gestalten, die Anlass zu tiefer Unzufriedenheit gibt“ und er sprach von der Notwendigkeit „eine bessere Welt zu schaffen.“ (Wilke 2003, S. 110) Keynes seinerseits bezeichnete anhaltende Massenarbeitslosigkeit als „unerträglichen öffentlichen Skandal der Ressourcenvergeudung“ (ebd.) In dem Wunsch nach einer besseren Welt waren sich beide einig. Konträre Auffassungen hatten sie jedoch in der Frage nach dem richtigen Weg: Keynes setzte auf den Staat, Hayek auf den Markt. 1950 folgte Hayek dem Ruf nach Chicago auf den Lehrstuhl für „Social and Moral Siences“ Dort blieb er die folgenden zwölf Jahre und begründete zusammen mit Milton Friedmann und anderen die Chicagoer Schule der streng neoklassischen monetaristischen Ökonomik. 1962 erhielt er den Ruf an die Universität nach Freiburg, wo er bis zu seiner Emeritierung blieb. Höhepunkt seiner Karriere war der Nobelpreis, den er zusammen mit Gunnar Myrdal, einem glühenden Sozialisten, erhielt; „der Kritiker der Anmaßung von Wissen zusammen mit dem Verfechter der politischen Machbarkeit.“ (ebd.)

In der Nachkriegszeit setzte sich zunächst der keynesianische Ansatz durch. Der Triumph der mixed economics mit einer Kombination aus Markt und staatlicher Lenkung wurde als das “Goldene Zeitalter” empfunden. Ende der 70er jedoch bahnte sich ein Paradigmenwechsel an, der den Niedergang des Keynesianismus einläutete. Immer mehr Länder schlossen sich der marktorientierten, quasi neoliberalen, Ausrichtung an.

Eine von Hayeks Leitideen war die spontane Ordnung. „Wirtschaft und Gesellschaft sind Hayek zufolge Ergebnisse evolutionärer Prozesse – und als solche „spontane“ Ordnungen, die sich nicht aus menschlicher Planung oder aus einem konstruktivistischen design ergeben, sondern aus dem ungeplanten Zusammenwirken komplexer und unplanbarer Kräfte. Der Kern dieser „spontanen Ordnung“ ist die Marktordnung. Sie ist Produkt menschlichen Handelns, jedoch nicht menschlicher Planung.“ (ebd., S.112) Er wandte sich gegen den Irrtum eines geplanten Konstruktivismus, der nur in den Ruin führen könne, wie er am Beispiel des Sozialismus zu beweisen versuchte. Im Konflikt zwischen Keynes und Hayek stehen sich zwei Auffassungen von Vernunft gegenüber. Keynes hält die Anwendung der ratio zur Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur für möglich, sondern auch für notwendig um den Kapitalismus zu organisieren und vor dem Zusammenbruch zu retten. Hayek hingegen, hält diesen Versuch nicht nur für unmöglich, sondern auch für gefährlich und sieht in ihm einen Schritt in die Knechtschaft. Moderne Gesellschaften sind nach Hayeks Auffassung viel zu komplex für eine planvolle Gestaltung und sein Verständnis von Freiheit bedeutet, dass wir unser Schicksal in gewissem Maße Kräften anvertrauen, die wir nicht beherrschen. Dies scheint den Konstruktivisten unerträglich, die glauben, dass der Mensch sein Schicksal beherrschen und lenken kann. Trotzdem unterstützt Hayek nicht einen Laisser-faire Liberalismus im Sinne von Verzicht auf staatliches Handeln im allgemeinen, sondern auf eine Politik, die auf Wettbewerb, Märkte und Preise setzt und das gesetzliche Regelwerk dazu nutzt, den Wettbewerb so effizient und nützlich wie möglich zu gestalten.

2.3.2. Milton Friedmann

Zusammen mit Keynes gehört Milton Friedmann zu den einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Als 16 jähriger ging Friedmann mit einem Stipendium an die Rutgers-Universität in New Jersey, wo er Wirtschaftswissenschaft studierte. Durch Vermittlung seiner Lehrer F. Burns und Homer Jones erhielt er ein Stipendium an der Universität von Chicago. 1946 wurde er auf eine Professur an diese Universität berufen. Für seine Leistung auf den Gebieten der „Konsumtheorie, der Geldtheorie und für den Nachweis der Komplexität der Stabilisierungspolitik erhielt Fredmann 1976, zwei Jahre nach Hayek, den Nobelpreis. Eine Studie die er gemeinsam mit Anna J. Schwartz am NBER (National Bureau of Economic Research Washington, D.C.) durchführte löste heftige Kontroversen über die Bedeutung der Geldmengenentwicklung aus. Die Schlussfolgerungen aus dieser empirisch fundierten Studie bestätigten den Gegensatz zum vorherrschenden keynesianischen Paradigma – während sie seine libertären Ansichten über die Rolle des Staates und die überlegene Effizienz der Märkte voll bestätigte. Daraus ließ sich folgern, dass eine expansive Geldmengenpolitik konjunkturell günstige Auswirkungen habe, während Variationen der Staatsausgaben sich nur marginal auf Wachstum und Beschäftigung auswirken würden. Aus dieser Kontroverse entwickelte sich unter Führung von Friedmann eine neue Denkschule, die von Karl Brunner[1], wegen der Betonung der Rolle der Geldmenge, den Namen Monetarismus bekam. „Friedmanns Monetarismus steht für die Wiederentdeckung des Geldes als einer bedeutenden ökonomischen Größe im Unterschied zum Keynesianismus, wo es als selbstverständlich angesehen werde, dass Geld in ökonomischen Prozessen keine Rolle spielt.“ (Wilke a.a.O., S. 135) Die Idee dahinter lautet: „Inflation ist immer und überall ein monetäres Problem; Inflation wird dadurch ausgelöst, dass die Geldmenge rascher zunimmt als die gütermäßige Wertschöpfung“ (zit. nach Friedmann 1973, S. 13 in Wilke ebd.)

Friedmann verstand seine Arbeiten als Revolte gegen den Keynesianismus, und stellte seine Hypothese des „permanenten Einkommens“ (Wilke a.a.O., S. 130) der Idee der „kurzfristigen keynesianischen Konsumneigung“ (ebd.) entgegen. Demzufolge waren die Konsumausgaben nicht abhängig vom laufenden Einkommen, sondern von dem als dauerhaft angesehenen längerfristigen Durchschnittseinkommen. „Darüber hinaus lehnte Friedmann das keynesianische deficit spending auch ab, weil steigende Staatsschulden mögliche positive Konjunktureffekte gleich wieder zunichte machten, und weil der Ansatz zur Ausweitung der Staatsinterventionen führen müsste.“ (zit. nach Friedmann 1971, S. 105; in Wilke a.a.O.) Als geeignete Stabilisierung empfahl er die Steuerung der Geldmenge. Es waren zwei Fehlentwicklungen die nach wirtschaftsliberaler Auffassung das Marktsystem zunehmend gefährdeten: Staatsintervention und Inflation. Während Keynesianer eher gleichmütig dem Problem der Inflation gegenüberstanden und sie über kurz oder lang mehr Beschäftigung hervorrufen würde, sahen die Liberalen in ihr die Gefahr der Zerstörung der Koordinationsfunktion des Preismechanismus.

„In der Freiheit sehen Liberale das höchste Ziel und im Individuum das höchste Wesen innerhalb der Gesellschaft“ (zit. Nach Friedmann 1971, S. 23; in Wilke a.a.O. Hervorhebungen R. B.) Die größte Bedrohung liegt nach deren Ansicht in der Konzentration von Macht – politischer wie ökonomischer Macht. Sie ist Voraussetzung für die Realisierung materieller Ziele, insbesondere eines menschenwürdigen Lebens und sie ist beschränkt durch die Rechte und Freiheiten der anderen. (vgl. Wilke a.a.O. S. 139) Freiheit ist das wichtigste Argument ihrer Markttheorie. Der Markt funktioniert nur durch freiwilligen und kooperativen Tausch unter den Marktteilnehmern. Der wichtigste Aspekt besteht darin, dass alle Marktteilnehmer sich einen Nutzen daraus versprechen. Wegen dieser gains from trade erachten es die Beteiligten auch als günstiger am Tauschprozess teilzunehmen als ihn zu unterlassen. Es müssen sich zwar nicht immer alle Erwartungen der Marktteilnehmer erfüllen, aber längerfristig werden sich diese gains einstellen, wenn das Marktspiel sich als gesamt gesehen positiv erweist. Laut Friedmann ist die „freie, auf privatem Unternehmertum basierende Marktwirtschaft – der Wettbewerbs-Kapitalismus - das Modell einer Koordination ohne Zwang“ (zit. Nach Friedmann 1971, S. 34; in Wilke a.a.O.) Der Handlungsspielraum der Regierung beschränkt sich nur darauf unsere Freiheit zu beschützen, für Gesetz und Ordnung zu sorgen, die Einhaltung privater Verträge zu überwachen und für Wettbewerb auf dem Markt zu sorgen. Dem Streben nach höheren Werten und der Geringschätzung materieller Werte hält Friedmann entgegen, dass wirtschaftlichte Freiheit auch für politische Freiheit sorge. So fasste auch Karen Horn (2002) ihre Würdigung an Friedmann zusammen: “Immer ging es ihm (Friedmann) auch darum, „wie wir verhindern können, dass die Regierung ein Monster wird, das die Freiheit vernichtet““ (Wilke a.a.O., S.141) Die Kritiker des Neoliberalismus sehen dies genau umgekehrt, nämlich im ausufernden imperialistischen Herrschaftsanspruch des Marktparadigmas. Der kritischen Bewegung geht es eher um die Frage, wie man verhindern kann, dass der Markt das alles übergreifende Monster wird, das Würde und Freiheit des Menschen vernichtet. Vermutlich muss sich jede Gesellschaft entscheiden, welches „ Monster “ – Markt oder Staat – in der heutigen Realität die größere Gefahr darstellt. Oder besser: Anstatt Staat oder Markt ausschließlich wirken zu lassen, sollten beide in ausbalancierter Kombination zum tragen kommen.

Ein weiterer Kritikpunkt an der neoliberalen Theorie ist deren mangelnde Wissenschaftlichkeit im allgemeinen. Nach Mario Bunge, der von Staub-Bernasconi zitiert wird gibt es keine empirische Evidenz, wonach Menschen alle Dinge arrangieren und ihnen einen numerischen Nutzen zuordnen können. (vgl. Staub-Bernasconi in Lewkowicz 1991. S.23) Auch an weiteren Aussagen neo-klassischer Theoretiker setzt Staub-Bernasconi zur Kritik an: „Die Aussagen des Monetarismus sind Sätze wie „Y ist irgendeine Funktion von X“, was weder Erklärung noch Prognose zulässt. Friedmann umgeht diese Schwierigkeit, indem er behauptet, das einzige was zähl ist, „das die individuelle Firma sich so verhält, als ob sie ihren Gewinn maximieren würde und volles Wissen in bezug auf die für den Erfolg notwendigen Daten hätte“ (Friedmann 1953, S. 21, zit. Nach Bunge 1985, S. 291 zit. in Lewkowicz 1991, S. 23) Es ist bei eingehender Betrachtung monetaristischer Leitsätze so, dass es nicht darauf ankommt ob sie wahr sind, sondern nur, dass sie für wahr gehalten werden. (vgl. Lewkowicz 1991, S. 23)

Ein wichtiger Aspekt in der Theorie des Neoliberalismus ist die freie Tauschbeziehung. „Märkte ermöglichen und fördern den Gütertausch zwischen Wirtschaftssubjekten. Sind Ressourcen und Güter knapp, relativ zum Bedarf, bilden sich Marktpreise als Indikatoren dieser Knappheit; daran richten die Marktakteure ihre Entscheidungen aus.“ (Wilke a.a.O., S. 37) Tausch findet statt, wenn Menschen über ihren Eigenbedarf hinaus produzieren. Der Tausch als soziale Interaktion eignet sich dafür, dass Menschen das, was sie benötigen und nicht selbst herstellen können, im Tausch von anderen bekommen, und dafür gewisse Gegenleistungen erbringen. Wichtige Faktoren dieser Tatsache sind aber, die Gleichheit der Tauschpartner und die Freiwilligkeit der Tauschbeziehung.

Die Gleichheit der Tauschpartner ist aber nicht vorhanden, wenn der Zugang und damit das Verfügungsrecht über Güter, auch ideeller Güter wie Bildung, sinnvolle Arbeit oder der Zugang zu Arbeit überhaupt, zwar formal existieren, aber tatsächlich nicht gegeben ist. „Ein Tausch ist nur dann materiell freiwillig, wenn er zwischen Gleichgestellten passiert. Bei starker Ungleichverteilung von Verfügungsrechten und Ressourcen kann die benachteiligte Seite ihre „Rechte und Freiheiten“ faktisch nicht wahrnehmen. Eine vergleichbare, faire Ressourcenausstattung in der Ausgangssituation ist somit unabdingbare Voraussetzung für den freiwilligen Tausch.“ (Wilke a.a.O., S.43) Eine solche Ausgangssituation ist rein hypothetisch, weil es in evolutionären Prozessen wie der Wirtschaft, keinen Anfang gibt. Von Freiwilligkeit kann aber nur gesprochen werden, wenn Gleichheit vorhanden ist. Hierzu hat Weddigen schon ausführlich nachgedacht und sinngemäß folgendes geschrieben: Der Arbeitnehmer besäße „alle nur erdenklichen Freiheiten, einschließlich derjenigen, zu hungern und zu verhungern, wenn er seine Arbeitskraft am Arbeitsmarkt nicht oder nur zu unzureichenden Preisen absetzen könnte, oder wenn ihm seine Arbeitskraft infolge von Alter oder Krankheit verloren ging.“ (Weddigen 1957, S 14 zit. in Mühlum 2000) Diese Überlegung bekommt durch die neue Arbeitsmarktreform, die Arbeitslose zwingt unter Tarif zu arbeiten, eine ganz neue aktuelle Dimension. „Vom nächsten Jahr an sollen Erwerbslose jede Arbeit annehmen müssen. Andernfalls droht massive Leistungskürzung.

Als zumutbar gilt dann auch ein Arbeitsplatz, dessen Bezahlung 30 Prozent unter dem ortsüblichen Lohnniveau liegt.“ (Frank Bsirske am 3.4.2004)

2.4. Neoliberalismus und Moral

Eine der Kritikpunkte die gerne von Gegnern des neoliberalen Projektes vorgebracht wird ist der des schrankenlosen Marktliberalismus, der Laisser-faire! Haltung der Wirtschaftstheoretiker. Es ist aber anzuerkennen, dass „überall ... das Wirtschaften an Regeln und Normen gebunden (ist), die zwar mehr oder weniger eng sind – und wie alle Regeln – mehr oder weniger eingehalten werden, die aber doch in Form von Wirtschaftsordnungen, Gesetzen, Vorschriften, Auflagen und Verboten das wirtschaftliche Handeln binden.“ (Wilke 2003 S. 20) Es geht bei der Forderung nach Deregulierung nicht um die Durchsetzung des „Totalen Marktes, sondern um den Abbau staatlicher Regulierungen – ausgehend von einer Staatsquote von 50% und einer Regeldichte, die in Europa ihresgleichen sucht. „Der politische Liberalismus betont die individuelle Freiheit durch Rechtsschutz gegen staatliche Willkür (rule of low) sowie die personelle Selbstbestimmung (pursuit of happiness).“ (Ebd) Das neoliberale Projekt zielt auf eine Gestaltung der Wirtschaft derart, dass die Individuen darin ihr Streben nach Glück mit einem Minimum an staatlicher Regulierung und einem Maximum an individueller Selbstbestimmung verwirklichen können.

Zwei Aspekte die oben erwähnt werden bedürfen einer eingehenden Betrachtung. Es sind dies: Staatliche Willkür und Personelle Selbstbestimmung. Wenn hier von den Neoliberalen staatliche Willkür unterstellt wird, so kann im Gegenzug auch der Wirtschaft Willkür unterstellt werden. Die Theorie sowie die Praxis des Neoliberalismus sollen in der Folge näher erläutert werden.

Zur Theorie des Neoliberalismus schreibt Staub-Bernasconi „Das größte Kuriosum in bezug auf die neo-klassische Theorie besteht wohl in der Tatsache, dass sie sich auch als Gesellschaftstheorie und –ethik versteht, obwohl in ihrer strengsten Anwenderin das Diktum überliefert wird: Die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur das Individuum und die Familie! (Margret Thatcher)“ (Lewkowicz 1991, S. 21) Und weiter: “Der Monetarismus ist keine Theorie, sondern lediglich das Programm für eine Theorie. Um eine Theorie zu sein, müsste er als absolutes Minimum eine psychosoziale und eine sozialkulturelle Erklärung und nicht nur eine Deskription des Evaluations- und Preisbildungsmechanismus liefern.“ (ebd., S. 23) Wenn eine psychosoziale Beschreibung des Individuums überhaupt gegeben wird, so entspricht sie dem des künstlich entworfenen Homo oekonomikus, der ein Kosten-Nutzen-Rechner ist und über den Staub-Bernasconi schreibt: „Gemäß der heute vorherrschenden neo-klassischen ökonomischen Theorie ist „der Mensch“ mental und handlungsmäßig ein kontextloses soziales Atom, im genaueren ein ego-zentrischer Nutzen- und Gewinnmaximierer, der das Nutzen- und Effizienzprinzip auf alle biologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Güter anwendet. Bei Lichte betrachtet ist dieser Mensch weiß, vornehmlich männlich, im Erwerbsleben stehend, in der nördlichen Hemisphäre und vornehmlich in Großstädten und deren Agglomerationen wohnend.“ (ebd., S. 20) Auch wenn dies eine überspitzte Formulierung ist, so kommt es dem Idealtypus des „Marktteilnehmers“ vieler Wirtschaftsvertreter und Wirtschaftswissenschaftler ziemlich nahe. Die Bezeichnung „Marktteilnehmer“ (eine gängige Bezeichnung durch Neoliberalisten) besagt alleine schon, dass das Bild des Menschen lediglich auf seine Marktteilnahme reduziert wird.

Die Praxis sieht allerdings völlig anders aus. Wirtschaftswachstum wird durch das Wachsen einzelner Wirtschaften, also einzelner Betriebe und hier vor allem einzelner Großkonzerne, ausgedrückt. Dass dieses Wachstum vor allem an den Börsen geschieht ist kein Geheimnis, sondern eher unweigerliche Praxis. Egal wie gut Firmen arbeiten und wie hoch ihre Erträge sind, immer wird ihr Kurs an der Börse danach beurteilt wie hoch die Rendite einer Aktie ist. Und dieser drückt sich in den Prognosen über die Gewinnaussichten eines Unternehmens aus. Steigende Aktien drücken gute Prognosen aus und sinkende Aktien schlechte Prognosen. Da in den meisten Unternehmen, zumindest in denen mit hohen Personalkosten, die Gewinnaussichten gekoppelt sind mit den Personalkosten, lösen Meldungen über Stellenabbau eine vermehrte Nachfrage dieser Aktien aus, oder schaffen zumindest mehr Vertrauen in die bestehende Aktie. Der Wert der Aktie an der Börse steigt. Durch diesen Mechanismus werden Direktoren und Vorstände eines Unternehmens angehalten, ihren Personalstand so gering wie möglich zu halten, und diesen bei jeder Gelegenheit zu verringern. Steigende Gewinne eines Unternehmens, höhere Rendite und damit größere Ausschüttungen an die Aktionäre gehen daher fast immer einher mit umfassenden Personalentlassungen. Tagtäglich nachzulesen in der einschlägigen Presse. Die gains from trade fallen hier offensichtlich nur den Aktionären und der Unternehmensführung zu. Diese kassieren dicke Belohnungen und Abfindungen, wie jüngst im Fall von Mannesmann und Vodafone, ungeachtet der Tatsache ob die Manager gut oder schlecht gewirtschaftet haben. Ich kann mich hier nur der Aussage meines Dozenten Professor Doktor Layer anschließen, dass die größten Ursachen der bestehenden und weiter wachsenden Arbeitslosigkeit auf Managementfehler zurückzuführen sind, und nicht wie von diversen Vertretern der Wirtschaft immer wieder gebetsmühlenartig behauptet, vom maßlosen und fehlerhaften Eingreifen seitens der Politik oder des Staates.

2.4.1. Solidarität

Beim Betrachten des Menschenbildes wie es das neo-klassische Weltbild beschreibt fällt auf, dass dem homo oekonomikus jedes solidarische Denken fremd ist. Der Solidaritätsgedanke drückt sich, wenn überhaupt, lediglich in der These aus, dass gewinnmaximierendes Handeln der Gesamtgesellschaft zugute kommt, da es angeblich Wohlstand erzeugt. Vergessen wird dabei die Tatsache, dass Wohlstand zwar prinzipiell erzeugt wird, aber noch lange nicht garantiert ist, dass auch alle Wirtschaftsteilnehmer in gleichmäßigem und gerechtem Maße daran teilhaben können. Damit ist aber in keiner Weise gesagt, dass Gleichheit auch zwangsläufig Gerechtigkeit erzeugt, oder dass Gerechtigkeit nur auf dem Grundsatz der Gleichheit beruht. Aber die Zugangsvoraussetzungen um überhaupt an den Früchten des vom Markt erzeugten Wohlstands teilhaben zu können, müssen für alle Menschen geschaffen werden. Welches sind aber die Zugangsvoraussetzungen zur Marktteilhabe und somit zu den gains from trade ? Aus neoliberaler Sicht sehr wenige: Die Bereitschaft zum freiwilligen Tausch, das Streben nach eigener Gewinnmaximierung und damit verbunden ein gesunder Egoismus, ausgedrückt im gegenseitigen Konkurrenzdenken, der die beste Voraussetzung für ein Wachstum der Wirtschaft ist. Eine wachsende Wirtschaft komme, so neoliberales Denkmuster, allen zugute.

Im Kapitel 2.1 wurde erwähnt, dass es Regeln gibt, denen wirtschaftliches Handeln unterliegt. Hier sollen nun Regeln aufgezeigt werden denen gesellschaftliches Handeln unterliegt. Der Maxime der neo-klassischen Theorie des gesunden Egoismus soll hier die Notwendigkeit der Solidarität gegenübergestellt werden. Sie ist eine der Regeln der gesellschaftliches Handeln unterliegt. Jane Addams, Friedensnobelpreisträgerin, Soziologin und Sozialarbeiterin schreibt dazu: „ Wenn Solidarität der menschlichen Interessen verwirklicht werden soll, wird es undenkbar sein, dass eine Klasse von Menschen für die vermeintlichen Bedürfnisse einer anderen Klasse von Menschen geopfert werden soll... Für verschiedene Gruppen von Männern und Frauen in der ganzen Welt ist offenbar die Zeit gekommen, um sicherzustellen, das alle Menschen gegen den Hungertod versichert werden müssen. “ (Jane Addams Calender 1974 in Staub-Bernasconi 1995, S. 5)

Paul M. Zulehner und andere gaben in einer Studie des Ludwig-Boltzmann-Instituts und der Arbeitsstelle für kirchliche Sozialforschung zur Werteforschung eine vorläufige[1] Definition von Solidarität:

Solidarität ist die Fähigkeit (Kompetenz) eines Menschen, sich für das Gemeinwohl und darin für eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen (wie bewohnbare Welt, Nahrung, Wohnen, Familiengründung, freie Erziehung, Bildung, Arbeit, gemeinsame öffentliche Religionsausübung) stark zu machen.“ (Zulehner 1996, S. 54 Hervorhebungen R. B.)

Der Begriff wird ob seines vielseitigen Gebrauchs deutlich abgegrenzt von den Begriffen Gruppenzusammenhalt, Gruppenkonformität und Empathiesolidarität. Es geht den Autoren um ein Verständnis von Gemeinwohl und sie berufen sich dabei auf eine Rede Johannes Paul II: Solidarität ist also „ nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen in Nah und Fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das „ Gemeinwohl “ einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir für alle verantwortlich sind.“ (zitiert nach Johannes Paul II, Sollicitudo rei socialis, Rom 1987, Nr.38 in Zulehner 1996, S. 52) Und weiter: „Solidarität lässt erwarten, dass diese sich im Alltag bewährt, und zwar nicht nur reaktiv, sondern aktiv und vorausplanend, also politisch im weiten Wortsinn. Von ihrer inneren Dynamik ist Solidarität universell.“ (ebd) Im Systemischen Denken ist Gesellschaft mehr als nur die Summe einzelner Menschen. Sie ist universelles Zusammenspiel der gesamten Menschheit und interaktiver Prozess, der in jeder Sekunde neu entsteht und gestaltet wird. Die Gesellschaft gestaltet die Weltordnung, und das tut sie unentwegt, ungeachtet der Tatsache ob die Mehrheit der Menschen sich unter ein Diktat (z.B. das der Wirtschaft) stellt, oder sich in einem revolutionären Prozess ihr entgegenstellt. Solidarität kann sich in diesem Sinne also nicht nur auf die Beseitigung von Leid und Ungerechtigkeit beschränken, sondern sie ist immer auch gestaltende Kraft, die gewollt oder ungewollt unsere Zukunft formt. Verständlich daher der Angriff der neoliberalen Theorie auf die Bedeutung des Begriffs. In ihrer Theorie wird der Begriff daher ersetzt durch gesunden Egoismus , Konkurrenzdenken und Gewinnmaximierung.

Wie wichtig Solidarität ist wird an der Globalisierung deutlich. Durch das weltweite Wirken neoliberaler Unternehmen werden Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, weil dort das Lohnniveau wesentlich unter dem der westlichen Länder liegt. Aber Unternehmer schätzen die in diesen Ländern fehlenden sozialen und ökologischen Standards, und die Konsumenten kaufen bevorzugt billige Textilien, Elektrogeräte und Nahrungsmittel, die nur in diesen Ländern so billig produziert werden können. Das damit Leid produziert wird, obwohl andererseits Arbeitsplätze entstehen, interessiert niemanden, vor allem nicht Konsumenten, die durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland arbeitslos geworden sind, und gar nicht mehr das Geld haben teure und gerecht erwirtschaftete Produkte zu kaufen. Wenn dann die Menschen, in ihren Ländern mit den geringen Löhnen unter das Existenzminimum geraten, nicht mehr leben können und in reichere Länder wandern, wird unsere Solidarität auf eine harte Probe gestellt. Allzu leicht lassen wir uns vom Vorurteil der Wohlstandsflucht überzeugen (die Menschen aus ärmeren Ländern fliehen nur aus dem Grund zu uns, weil sie ohne eine Gegenleistung zu erbringen von unserem Wohlstand profitieren wollen) und verschließen die Augen vor deren wahren Not, die von den reichen Ländern erzeugten wurde.

Der Club of Rome schrieb schon 1991 „Erst wenn die Bewohner der Erde erkennen, dass sie von den gleichen unmittelbaren Gefahren bedroht werden, kann ein universaler politischer Wille entstehen und jene Kooperation, die für das Überleben der Menschheit notwendig ist. Deshalb rufen wir zu weltweiter Solidarität auf.“ (zit. nach Club of Rome 1991, Die globale Revolution, 11. in Zulehner 1996, S. 17) Und Zulehner schließt sich in einer These dieser Forderung an: „Ohne ein ausreichendes Maß an belastbarer Solidarität wird es künftig in der einswerdenden Welt, damit auch in Europa kein Leben in Gerechtigkeit, (und daher) Frieden und Freiheit geben.“ (ebd., S. 19)

Anhand von zwei zentralen Themen werde ich versuchen den Bedarf an Solidarität herauszuarbeiten. Diese sind die anwachsende Migrationsbewegung in Europa und das Ringen um die Neuverteilung der Lebenschancen der Frauen.

2.4.2. Migration

Große Wanderbewegungen sind vorhersehbar und auch unvermeidlich und das nicht nur auf Grund politischer Unruhen, sondern wie schon dargestellt, aus Gründen des wirtschaftlichen Überlebens. „Die demografische Entwicklung ist im Süden der Erde eine andere als im Norden. Bis Mitte des kommenden Jahrhunderts (also dieses Jahrhunderts, R. B.) werden die Bewohner der heutigen Industrieländer nicht einmal mehr 20% der Weltbevölkerung stellen. Das schafft im Süden der Erde einen enormen Bevölkerungsdruck, der in Verbindung mit fehlender Chancengleichheit sowie Tyrannei und Unterdrückung einen massiven Auswanderungswillen in Richtung Norden auslösen wird, der sich nicht eindämmen lässt“ (Zulehner 1996, S. 20) Der Grund ist in ethnischen, religiösen und politischen Gründen zu finden. Viele dieser Menschen haben auch nicht mehr die Perspektive, dass sich die Lebensgrundlagen in ihrem Land verbessern werden. Und die „Wirtschaftsflüchtlinge“ wie sie gerne genannt werden verdienen eher die Bezeichnung „ Armutsflüchtlinge “. Gleichzeitig werden von den großen transnationalen Konzernen Gastarbeiter angeheuert, deren „Mobilität“ diesen Konzernen zugute kommt. Die Auswahlkriterien jung, gebildet und ethnisch-religiös integrierbar sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ungeregelte Aufnahme in Industriestaaten nicht gewünscht ist. Diese Wanderungsbewegung betrifft aber auch die Bevölkerung der aufnehmenden Länder, die eine zunehmende Abwehrhaltung entstehen lässt, die von vielfältigen Ängsten geschürt wird. Die vorhersehbaren politischen und sozialen Konsequenzen sind zwingend und verlangen vorbeugendes solidarisches Handeln. Auf der einen Seite wird Entwicklungshilfe als Instrument zur Vermeidung von unnötiger Armutsmigration einzusetzen sein. Auf der anderen Seite wird die Frage nicht mehr sein, ob ein reiches Land überhaupt Einwanderungsland sein will, sondern wie diese Länder mit der unvermeidlichen Einwanderung fertig werden. Deshalb rät Zulehner: „Die vorhersehbaren Wanderbewegungen und die zu ihrer politischen Bewältigung erforderliche Steigerung der Entwicklungszusammenarbeit in den Auswanderländern sowie die Aufnahme von Migranten durch eine geordnete Einwanderungspolitik verlangen nach einer breiten Unterstützung der demokratisch Regierenden durch die Bevölkerung. Voraussetzung dafür ist neben einem starken Eigeninteresse ein hohes Maß an belastbarer Solidarität in den Menschen.“ (ebd., S. 23 Hervorhebungen R. B.)

2.4.3. Geschlechter

„In Fachkreisen unbestritten ist, dass es in nahezu allen Lebensbereichen auch moderner Gesellschaften eine beträchtliche Benachteiligung von Frauen gibt,“ (Zulehner a.a.O. S. 24) Natürlich ist diese Ungleichverteilung gerade in modernen Gesellschaften nie unwidersprochen hingenommen worden. Doch erst in den letzten zwei Jahrhunderten hat sich eine politisch wirksame Aktivität von organisierten Frauen entwickelt. Viele Teilergebnisse wurden erzielt, und Gesetze zur Gleichstellung von Frauen wurden verabschiedet, doch noch immer sind viele Anliegen uneingelöst.

In der Berufswelt werden Frauen als „industrielle Reservearmee“ (ebd., S. 26) gehandelt, die bei knapper werdender Arbeit wieder freigesetzt werden. Vor allem fordern Frauen den Zugang zu Leistungspositionen in der Politik, der Verwaltung, der Rechtssprechung, in der Wissenschaft und in den Kirchen. Bei all diesen Bemühungen stoßen Frauen häufig auf hinhaltenden männlichen Widerstand.

In der Familienwelt sehen sich Frauen hinsichtlich eines angemessenen Arbeitsplatzes stark benachteiligt. Frauen, die ihren Beruf durch eine Erziehungspause unterbrechen haben es nachweislich besonders schwer wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Alleinerziehende Frauen sehen sich mit der Unmöglichkeit, Arbeit und Erziehung für ihre Kinder befriedigend zu regeln, konfrontiert. Zuwenig Betreuungsangebote, geringe flexible Arbeitszeitregelungen und die Forderung der Betriebe, die Arbeitszeit wirtschaftlichen Notwendigkeiten anzupassen, überfordern viele Frauen. „Immer stärker wird daher eine gemeinsame Veränderungsarbeit der veränderungswilligen Anteile der Frauen und Männer für nützlich erachtet, nicht zuletzt deshalb, weil die größeren Leiden der Frauen bei diesen eine größere Veränderungskompetenz vermuten lassen.“ (ebd., S. 30)

2.4.4. Neoliberalismus und Ethik

Von den neo-klassischen Denkern wird Ethik und Moral als etwas beschrieben, das hervorzubringen der Markt nicht imstande sei. Der Versuch mancher ordoliberaler Schulen, mehr E­thik in den Markt zu bringen, kann laut Wilke nur scheitern, da nur Menschen Ethik in den Markt einbringen können. Der Markt ist dazu nicht in der Lage. Und der Wunsch nach der „Guten Gesellschaft“ scheitert an der Begriffsdefinition, da es keinen Konsens geben kann was lebensdienlich sei, oder was eine gute Gesellschaft ausmacht. Auch kommt es auf die Motive in der Ökonomik nicht an, sondern nur auf die Wirkung. Es sei eben egal was am Markt gehandelt werde, ob Kaugummi oder Waffen, ob Porno oder Goethe. Bei allem funktioniere der Preismechanismus. Alles was sich in Warenwerten niederschlägt, lasse sich auf dem Markt anbieten. Der Markt orientiert sich nach kaufkräftigem Bedarf, und diese Waren oder Leistungen werden bei entsprechender Aussicht auf Rentabilität auch zur Verfügung gestellt. Wichtige Waren wie gesunde Nahrung oder qualitativ sinnvolle Freizeitgestaltung, können nicht befriedigend bedient werden, wenn keine ausreichende, sprich zahlungskräftige Nachfrage besteht.

„Die idealtypisch gedachten Marktakteure gehen miteinander immer nur instrumental um ... Nicht die unbedingte (kategorische) wechselseitige Achtung und Anerkennung als Person in ihrer Menschenwürde und ihren unantastbaren Grundrechten, sondern immer nur der eigene Vorteil ist dann die bedingte Basis der Vergesellschaftung. Als Person sind sich Homines oeconomici wechselseitig gleichgültig.“ (zit. nach Ulrich 2002 in Wilke 2003 S. 77)

Laut neoliberalen Theoretikern versagen Prinzipien zur sozialen Regelung wie Autorität, Macht oder Glaubensnormen ebenso wie das Prinzip der Nächstenliebe oder der Forderung nach Solidarität. Also bleiben in der Arena der Tauschbeziehungen nur das Rationalprinzip der Reziprozität. Dem Argument des einseitigen Vorteils bei einem Tausch, halten Theoretiker entgegen, dass diese Art des Tausches keine Zukunft hätte, da weitere Tauschgeschäfte ausblieben. Dies mag so bei gleichwertigen und gleich starken Tauschpartnern zutreffen. Bei ungleichen Verhältnissen, oder Abhängigkeitsverhältnissen, wie es z.B. bei Großkonzernen Milchbauern gegenüber der Fall ist, ist dieses Argument aber wertlos.

Werte und Normen müssen von der Gesellschaft bestimmt werden. Die Politik ist die geeignete Plattform um Ethik ins praktische Leben zu übertragen. Durch Gesetze, Regelungen und Verordnungen können ethische Prinzipien im gesellschaftlichen Leben verankert werden. Dabei ist zu beachten, dass präzeptorale Vorgaben des Staates fast immer autoritär sind, da sie auf dem Prinzip konsensfähiger universalisierbarer Normen beruhen, und es diese aber nicht gibt. Werte die aus der Gesellschaft heraus entstehen, wird eher in Form von Gesetzen Rechnung getragen. Ein Beispiel ist der Sinneswandel in Bezug auf Abtreibung in diesem Jahrhundert, und die darauf folgende Gesetzesänderung. Erst als ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber bestand, dass Abtreibung nicht mehr und unter allen Umständen moralisch zu verurteilen sei, wurden Gesetzesänderungen beschlossen, die Abtreibung unter gewissen Bedingungen und Voraussetzungen erlaubte.

2.5. Neoliberalismus und Medizin

Kurt Langbein, Hans-Peter Martin und Hans Weiss beschäftigen sich schon seit den frühen Achziger-Jahren mit den Nutzen und Risiken von Arzneimitteln. Ihr Dauerbrenner „Bittere Pillen“ war lange Zeit in den Bestseller Listen. In minutiösen Recherchen stellten sie Ermittlungen über die Geschäftspraktiken, Absatzstrategien und Verkaufspraktiken der Pharmakonzerne an. Als wissenschaftliche Berater standen ihnen eine große Zahl von Ärzten, Krankenkassenmanagern, Wissenschaftlern, Professoren und medizinischem Personal zur Seite. In dem Vorwort zum Buch „Gesunde Geschäfte“ zeigen sie die Konzentration der Pharmakonzerne auf. Demzufolge bestreiten rund ein Viertel des Weltmarktes an Medikamenten deutsche Unternehmen, und 13 % werden von Schweizer Firmen kontrolliert. „Schon 1973 produzierten die Heilmittelunternehmen aus nur acht Staaten (USA, BRD, Frankreich, Italien, Schweiz, Spanien, Japan und Großbritannien) mit einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent rund 80 Prozent der Medikamente in der westlichen Welt.“ (Langbein u.a. 1983 S. 11)

„Die fünf umsatzstärksten Heilmittelhersteller – unter ihnen Bayer – haben laut industrieinternen Statistiken in der Bundesrepublik bei den zwölf größten Krankheitsbereichen einen Marktanteil von 70%. Doch selbst diese Firmen sind noch eng miteinander verflochten. Die Großbanken haben einen entscheidenden Einfluss auf die Politik vieler Konzerne. Bei der Bayer-Aktiengesellschaft lagen z.B. 1974 78,5 % der präsenten Stimmen bei Bankenvertretern, in der Mehrheit bei solchen der drei deutschen Großbanken.“ (ebd., 12) Angesichts dieser Verflechtungen ist es nicht verwunderlich, dass eine effektive Kontrolle der Konzernstrategien kaum möglich ist. Preise, Informationspolitik, ja selbst die medizinische Bedeutung der jeweiligen Präparate können von national organisierten Behörden und Krankenkassen kaum überblickt werden. Dass dabei der „Dienst am Menschen“ an erster Stelle steht, ist höchstens noch plakatives Konzept in Werbestrategien, aber nicht mehr Inhalt der Konzernpolitik. In ihr geht es um Aufrechterhaltung und Ausweitung von Marktanteilen, Vermehrung von Profit und Eroberung neuer Märkte.

Roland Werner, einer der Autoren der als Insider unter Pseudonym an dem Buch mitschrieb, machte bei einem der Pharmakonzerne eine steile Karriere. Nach seinem Ausstieg aus der Pharmabranche schrieb er: „Am Anfang, als ich begonnen habe, in der Pharma-Industrie zu arbeiten, habe ich immer gedacht, meine Tätigkeit hätte irgendwas mit der Heilung von Menschen zu tun. Je höher ich in der Hierarchie hinaufgestiegen bin, umso mehr bin ich unter dem Druck gestanden, mehr Umsatz machen zu müssen. Medizinische und gesundheitspolitische Überlegungen spielen bei der Vermarktung nur eine untergeordnete Rolle. Als Pharma-Manager wird man zum Schreibtischtäter. Ich bin in immer größere Gewissenskonflikte gekommen. Bis ich mich entschlossen habe auszusteigen.“ (ebd., S. 214)

Ich möchte nicht im einzelnen auf das Buch eingehen und über Menschenversuche, Forschungsmethoden oder Marketingstrategien schreiben. Das Inhaltsverzeichnis spricht hier eine deutliche Sprache. Es geht dabei unter anderem um:

- Erfahrungsberichte über Pharmaberater und deren Verkaufsstrategien
- Statt Krankheit wird der Markt untersucht
- Verkaufsgespräche statt objektiver Beratung
- Preispolitik
- Der Ärzteberater als Marketinginstrument
- Umsatz, Umsatz über alles
- „Bestechende“ Argumente
- Das Geschäft wird immer schmutziger
- Vertraulich behandeln – Das Geschäft mit einer tödlichen Krankheit
- Experiment gelungen – Patient tot
- Forschungsergebnisse manipuliert?!
- Wissen ist Macht – Geheimhaltungspolitik der Pharma-Industrie usw.

Eine gute Theorie wird immer an der Praxis gemessen. Gerne werden Vertreter der neoliberalen Theorie entgegnen, dass schlechte Sitten eine gute Theorie nicht unbedingt außer Kraft setzt. Aber wenn in Großkonzernen wie den Pharmaunternehmen Profit an erster Stelle steht, dann treten ethische Werte immer in den Hintergrund. Zumindest fördern sie nicht deren Umsetzung und Anwendung.

Der Kritik der neoliberalen Theoretiker, dass der Markt von sich aus, für die Entwicklung und Umsetzung von ethischen Normen nicht zuständig sei, und das dies Sache der Gesellschaft, der Politik und der Gerichtsbarkeit sei, kann entgegensetzt werden, dass das neoliberale Marktmodell durch seine Dominanz und Alternativlosigkeit wenig Spielraum für ethisches Handeln lasse. Wenn sich Manager zwischen Ethik, Moral und Profit entscheiden müssen, werden sie sich immer dem Diktat des Profits beugen und dabei in Kauf nehmen, ihre eigenen ethischen Vorstellungen hintan zu stellen. Streng nach dem Motto: „ Wes´ Brot ich ess, des´ Lied ich sing.“

2.6. Neoliberalismus und Soziale Arbeit

Das neoliberale Lager fordert von der Sozialen Arbeit Effektivität und Effizienz. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu erwidern, besonders in Zeiten leerer Kassen der Sozialversicherungsträger und der Gemeinden. Im Bereich der Rentenversicherungen wird die demografische Entwicklung als Ursache der Misere ausgemacht. Am Arbeitslosensektor ist in Deutschland ein stetiger Anstieg der Arbeitslosen zu verzeichnen, der noch immer ungebremst zunimmt. Hier ist eine doppelte Einbuße zu verzeichnen. Arbeitslose zahlen keine Beiträge mehr zur Sozialversicherung, beziehen aber Sozialleistungen in Form von Arbeitslosengeld. Im Gesundheitssektor sucht man die Ursache in der Tatsache, dass Kranke einen Ärztetourismus pflegen, der die Kosten unnötig in die Höhe treibt. Und im Sektor der Sozialhilfe, also bei denen, die sich oft aus Scham und mangelnder Ressourcen gar nicht gegen Vorwürfe der Ausnutzung sozialer Sicherheiten zur Wehr setzen können und wollen, wird ein „ Ausruhen in der Hängematte des Sozialstaates “ als Ursache lokalisiert. „Kein Recht auf Faulheit“ ist die politische Parole, mit der versucht wird, Sozialhilfeempfänger als „Sozialschmarotzer“ zu denunzieren. Das hierbei das Kind mit dem Bad ausgeschüttet wird, liegt auf der Hand. Nur ein einstelliger Prozentsatz aller Sozialhilfeempfänger bezieht Hilfe zum Lebensunterhalt und ist überhaupt bedingt arbeitsfähig. Der große Rest bezieht Hilfe in besonderen Lebenslagen und steht dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht zur Verfügung. (Quelle Herr Wolfgang Reinhard, Leiter des Sozialamtes Heidelberg und Lehrbeauftragter an der FH Heidelberg, in Vorlesungen im 4. und 5. Semester)

Während Politiker keinen Rat mehr auf die zunehmende Misere wissen, und in Anbetracht der umstrittenen These, dass Privatinitiatoren besser wirtschaften und effizienter sind als bürokratisierte Verwaltungen, fällt oft das Zauberwort: „ Privatisierung “. Diese wird den Erwartungen und Problemlagen aber in keiner Weise gerecht, und kann die Misere schon gar nicht lösen. Dem Einwand der Wirtschaft, dass Privatunternehmen effektiver sind, da sie dezentraler arbeiten und mit weniger bürokratischem Ballast behaftet sind, kann nichts entgegengesetzt werden. Gerade hier hat die Soziale Arbeit aber inzwischen viel an Marketingstrategien aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaft übernommen. Evaluation, Case-Management, der Einsatz computerunterstützter Arbeitsmethoden und das Subsidiaritätsprinzip, das Hilfe durch Vereine, Privatinitiativen und karitativen Vereinen Vorrang vor der Hilfe durch den Staat gewährt, hat längst Eingang in der Sozialen Arbeit gefunden.

Doch lassen sich die Prinzipien des Neoliberalismus nicht bedingungslos auf den Sektor der Sozialen Arbeit anwenden. Auf dem Markt geht es um Gewinnmaximierung, in der Sozialen Arbeit meist um die grundsätzliche Befähigung erst überhaupt am Markt teilnehmen zu können. Auf dem Markt geht es um Tauschhandel, in der Sozialen Arbeit meist darum, dass Menschen erst in die Lage versetzt werden Tauschgüter zu erlangen, im Sinne von einsetzbarer Arbeitskraft und dem Aufbau psychischer, sozialer oder mentaler Ressourcen. Auf dem Markt geht es um Konkurrenz, in der Sozialen Arbeit oft darum, Menschen, die dem Konkurrenzdruck erliegen wieder in die Lage zu versetzen am gesellschaftlichen Geschehen und auch wieder am Markt teilnehmen zu können.

Auch sind die Werte auf beiden Sektoren unterschiedliche und erfahren unterschiedliche Bewertung. Alles was der Markt an Werten anzubieten hat, muss sich in Preisen ausdrücken lassen. So hat das Gut X einen Wert von Y Euro, sofern in einem freien Markt die Käufer bereit sind den Preis Y für die Ware X zu bezahlen. Der Wert eines Gutes fällt so mit seinem Marktpreis zusammen. Und dies gilt nach Meinung der Neoliberalen für alle Güter, auch für biologisch-ökologische Güter wie: z.B. Rohstoffe, Soja versus Fleisch, Schokolade und Champagner, eine medizinische Heilmethode versus eine chirurgische Schönheitsoperation.

Psychische Güter wie: z.B. Zuneigung, Liebe, Freundschaft, Loyalität,

soziale Güter wie: z.B. Behinderung und Ausbildung, Arbeit, Fürsorglichkeit, familiäre nachbarschaftliche Hilfe, ein Freizeitzentrum, soziale Organisationen und schließlich für

kulturelle Güter wie: z.B. die Sonnenblumen von van Gogh, wissenschaftliche Theorien, Wissen und Patente. Das heißt darüber hinaus, dass dies alles wertlos ist, wenn sich kein Käufer findet.

Silvia Staub-Bernasconi schreibt dazu: „In einer wissenschaftlich sorgfältigen Austauschtheorie des Marktes müsste es immer „unter der Bedingung eines kompetitiven Marktes...“ heißen. Diese Bedingung ist aber heute je länger desto weniger erfüllt, angefangen bei den Waren und Preiskartellen, den protektionistischen Maßnahmen, den Patenten als vom Staat verliehenen Produktionsmonopolen als auch angesichts der rasant zunehmenden Unternehmenskonzentration zur Beherrschung des Weltmarktes“ (zit. Nach Tober 1990 in Staub-Bernasconi 1991 S. 21 Hervorhebungen R. B.) Dass diese Theorie des freien Marktes nur wenig bis gar nicht adaptierbar für den Sozialen Sektor ist wird hier besonders deutlich. Nichts desto weniger ist der Eroberungswille des neoliberalen Projektes ungebrochen und es hat sein konzeptionelles Expansionsprogramm auch auf die Eroberung aller anderen sozialen Teilsysteme wie Bildung, Wissenschaft, Politik und Kultur ausgerichtet. „Ohne Alternativtheorie ist es eine Frage der Zeit, bis sich dieses Effizienzdenken aller gesellschaftlicher Bereiche bemächtigt hat, die noch nicht nach Marktgesetzen leben und produzieren, weil sie bis jetzt Werte schufen, mit denen sich keine ökonomische Rendite erzielen ließ.“ (zit. Nach Galtung 1987 in Staub Bernasconi a.a.O. S. 22)

Von Seiten der Sozialen Arbeit ist größte Wachsamkeit geboten, wenn es heißt: Mehr Ökonomie in der Sozialen Arbeit Die Beweisführung, die Ökonomen gerne verwenden lautet: Ohne Ökonomie keine Soziale Arbeit. Der Umkehrsatz ist ebenso richtig wie wichtig: „ Ohne Haus- Familien- und Pflegearbeit als sogenannte Schattenarbeit, aber auch ohne Soziale Arbeit im engsten wie im weitesten Sinne keine, oder nur menschenunwürdigste Ökonomie. Eine gemeinsame Diskussionsbasis ergäbe sich dann, wenn auf beiden Seiten erkannt würde, dass weder die keynesianische noch die monetaristische, aber auch nicht die sozialistische Theorie des Wirtschaftens und Haushaltens in der Lage sind, die eingangs skizzierten Problematiken zu lösen.“ (Staub-Bernasconi a.a.O., S. 24 Hervorhebungen R. B.)

Ausgehend von dieser Erkenntnis müssten beide Parteien voneinander lernen und gewisse Grundwahrheiten erkennen. Bezüglich des Menschenbildes müsste Soziale Arbeit zu der Einsicht gelangen, dass Arbeit und Leistung keine Erfindungen des Kapitals sind, sondern menschliche Bedürfnisse. Gesellschaftliche Nichtanerkennung der selben, miteingeschlossen der Hausarbeit kann schwere psychische uns soziale Störungen bewirken. Bezüglich menschlicher Austauschformen müsste Soziale Arbeit anerkennen, dass Menschen durchaus kooperations- und wettbewerbsorientiert sind. Alleinige Nicht-Belohnung von Leistung oder gar deren Bestrafung führt tendenziell zu Stagnation (Beispiel Osteuropa), ebenso wie die einseitige Förderung von Wettbewerb und die Belohnung des Stärkeren anstelle von Hilfsbereitschaft zur sozialen Desintegration führt. (siehe Beispiel westliche Welt) Innerhalb der Organisationen des Sozialwesens sind teilweise positive Seiten der Marktidee übernommen worden, z.B. Herausforderung der Anbieter zu Qualitäts- und Quantitätsverbesserung, Überprüfung des Verhältnisses zwischen Aufwand und Ertrag, Wirksamkeitsvorstellungen und Gewohnheitsrechte und Stärkung der Selbstbestimmung von Klienten bei der Auswahl der Qualität und Quantität der Hilfeleistungen. Ein Gesellschaftsmodell der Neoliberalisten müsste mit großer Deutlichkeit abgelehnt werden. Eine Theorie in welcher der Finanzstärkere auch der Bessere ist und in der rücksichtslose Expansion a priori wertvoll ist, verfehlt und zerstört das Gesellschaftliche im empirischen, theoretischen wie im ethisch-moralischen Sinne. (vgl., Staub-Bernasconi a.a.O., S. 26)

Ein Weiterdenken in diese Richtung führt uns zu dem Verständnis, dass Wirtschaftsorganisationen als Organisationen in der Gesellschaft verstanden werden müssen. Neben ökologischen Umweltverträglichkeiten müsste eine Dimension der Menschen- und Sozialverträglichkeit eingeführt werden. Dies würde z.B. bedeuten, dass die Verursacherdiskussion nicht nur auf ökologische, sondern auch auf Probleme der physischen und psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz, der Arbeitslosigkeit, aber auch der rasant zunehmenden Probleme des Boden- und Wohnungsmarktes, der weltweiten Migrations- und Flüchtlingsprobleme ausgeweitet werden müsste.

[...]


[1] Brunner gehörte zusammen mit Allan Metzler zu den Mitbegründern des Monetarismus. Friedmann selbst hielt die Bezeichnung „Monetarismus“ in seiner Formulierung für unglücklich.

[1] Da sich die Autoren in einer annähernden Weise zu dem Begriff vortasten, ihn abgrenzen, seine Herkunft untersuchen und sich empirisch an seine Dimensionen herantasten, gestatten sie sich auch nur eine „vorläufige“ Definition, sozusagen als Arbeitsdefinition. Am Ende der Studie wird als deren Ergebnis der Weg in eine neue Solidaritätskultur als Forschungsergebnis aufgezeigt.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Neoliberalismus, Postmoderne und Soziale Arbeit - Von neuem Denken zu neuem Handeln?
Hochschule
Fachhochschule Heidelberg
Veranstaltung
Diplomarbeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
91
Katalognummer
V59703
ISBN (eBook)
9783638535663
ISBN (Buch)
9783638697040
Dateigröße
907 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es wird gezeigt, dass der Neoliberalismus zwar eine gute Praxis in der Wirtschafttheorie ist, er aber als Gesellschaftstheorie versagt. Im Anschluss daran wird die Postmoderne in ihrer Wechselwirkung zum Neoliberalismus behandelt und hervorgehoben, dass beide als Wegbereiter zur Risikogesellschaft angesehen werden können. Um Alternativen aufzuzeigen werden Projekte und Ideen vorgestellt, die im Alltag schon realisiert worden sind.
Schlagworte
Neoliberalismus, Postmoderne, Soziale, Arbeit, Denken, Handeln, Diplomarbeit
Arbeit zitieren
Reinhard Bracke (Autor:in), 2004, Neoliberalismus, Postmoderne und Soziale Arbeit - Von neuem Denken zu neuem Handeln?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59703

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