Schein und Sein in Choderlos de Laclos' "Les Liaisons dangereuses"


Hausarbeit, 2003

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einführung

Zum soziokulturellen Hintergrund

Das Böse

Zur Funktion der Sprache

Verstellung und Manipulation bei Mme de Merteuil

Die Verführung der Présidente

Rhetorische Schwächen bei Valmont

Der Untergang des Bösen

Die Verführbarkeit der Opfer

Zur Rolle des Lesers

Quellennachweise

Bibliographie

Einführung

Es ist bemerkenswert, wie Laclos bereits durch die beiden Vorworte einen substantiellen Zug

seines Werks vorwegnimmt. Indem er sich einmal als Herausgeber (Editeur) und einmal als Redakteur ausgibt, jedoch nicht als der, der er tatsächlich ist, nämlich Autor des Romans, läßt er – wenn auch nur zum Spaß – selbst um seine eigene Person eine Divergenz zwischen Schein und Sein entstehen und kündigt damit die Rollenspiele der beiden Verschwörer Merteuil und Valmont an.[i] Hinter den Masken von Herausgeber und Redakteur verbreitet er zudem Unsicherheit über die Authentizität der Briefsammlung, wobei sich die Aussagen der beiden zunächst gar nicht widersprechen, da die offensichtliche Ironie, mit welcher der Herausgeber die dargestellte Sittenlosigkeit als Hinweis für die Fiktionalität des Geschriebenen wertet, dessen Realitätsbezug folglich geradezu unterstreicht.[ii] Die Echtheit der Briefe zu beweisen scheint auch Anliegen des Redakteurs zu sein, wenn dieser mit äußerster Pedanterie und Sorgfalt den Hergang seiner Arbeit sowie sämtliche widrigen Umstände derselben darlegt. Demgegenüber steht das Schlußargument des Herausgebers: Nous ne voyons point aujourd’hui de Demoiselle, avec soixante mille livres de rente, se faire Religieuse, ni de Présidente, jeune et jolie, mourir de chagrin. (Laclos 2002: 38) Ausgehend von einer kritischen Einstellung des Herausgebers gegenüber den Sitten seiner Zeit, kann es nicht als ironisch aufgefaßt werden, sondern muß als wirklicher Indikator für einen Roman gelten. – Doch darüber wird für den damaligen Leser, welcher mit dem Phänomen des Briefromans hinreichend vertraut war, ohnehin kein Zweifel bestanden haben. Mit Hilfe seiner literarischen Erfahrung, der Hinweise des Herausgebers sowie der auffälligen, übertriebenen Authentizitätsbekundungen des Redakteurs wird ihm schnell klar gewesen sein, daß er zwar kein reelles, wohl aber ein realistisches Spiegelbild herrschender Zustände zu erwarten hatte.° Doch ist die zeitkritische Haltung von Herausgeber und Redakteur überhaupt aufrichtig oder dient sie vielleicht nur dazu, auf spöttisch-durchtriebene Weise den moralischen Schein zu wahren, wo in Wirklichkeit die Dekadenz gefeiert wird? Das Rätsel, ob Laclos tatsächlich ein abschreckendes Mahnmal setzen oder das Treiben der Libertinage nicht sogar verherrlichen wollte, muß auch in bezug auf das gesamte Werk ungelöst bleiben.[iii] Selbst derjenige, dessen Empörung über die zynische Skrupellosigkeit der beiden Intriganten größer ist als die Faszination, welche von ihren meisterhaften Täuschungsmanövern ausgeht, der also eine moralische Verurteilung seitens Laclos’ annimmt, sieht sich mit der Frage nach einem tauglichen Gegenkonzept konfrontiert.[iv] Zwar geht die Scheinwelt der bösartigen Verführer letztlich zugrunde, – womit Laclos vielleicht nur einer ästhetischen Konvention der Klassik entsprechen wollte[v] - die bürgerlich-moralische Position der Mme de Tourvel erweist sich aber als ebensowenig tragfähig. Eine sozialkritische Interpretation legt folglich eine nihilistische Haltung des Autors zugrunde. Die Verurteilung bezöge sich dann auf alle im Roman vertretenen Konzepte, ohne daß irgendeine Lösung in Sicht wäre.[vi] Die in der Gesellschaft verbreitete Diskrepanz zwischen Schein und Sein wäre dann von Laclos als so unüberbrückbar empfunden worden, daß er Trost weder im Humanitätsglauben der Aufklärer noch im rousseauschen Vertrauen an die menschliche Güte finden konnte.[vii] Ungeachtet der Unlösbarkeit dieser Frage, führen uns derartige Überlegungen zunächst zu dem gesellschaftlichen Hintergrund, vor welchem sich das Geschehen abspielt.

Zum soziokulturellen Hintergrund

Unser Blick richtet sich dabei auf die Situation einer gesellschaftlichen Elite, welche in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s, als das mittlerweile marode Ancien Régime in den letzten Zügen lag, stärker als je zuvor mit ihrem sozialen Abstieg bzw. mit dem Verlust ihres Elitestatus konfrontiert wurde. Es handelt sich um den Schwertadel (noblesse d’épée), der seine politisch-gesellschaftliche Vormachtsstellung an den stetig aufsteigenden Amtsadel (noblesse de robe) abgeben mußte. Da die ständische Zugehörigkeit einen wesentlichen Teil der Selbstwahrnehmung ausmachte, führte dieser Machtverlust zu Identitätsunsicherheiten, welche auf unterschiedliche Weise kompensiert wurden. Natürliches Feindbild war das sich emanzipierende Bürgertum. Um sich von ihm abzugrenzen, begegnete die aristokratische Salonwelt den bürgerlichen, von der Aufklärung geprägten Tugenden und Werten mit äußerster Verachtung.[viii] Da die Schwertadligen ihren Ruhm traditionell im Kampf erlangten, verursachte neben dem zunehmenden Verlust gesellschaftlicher Funktionen auch der nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-63) bis auf weiteres herrschende Frieden das Bedürfnis nach neuen Feldern, in denen die jungen adligen Müßiggänger ihren Selbstbestätigungsdrang befriedigen konnten. Hierfür boten sowohl eine hochentwickelte Gesprächskultur als auch das Phänomen der Libertinage günstige Voraussetzungen.[ix] Das Leben in der ‚Gesellschaft’ wurde zum eigentlichen Sinn des Daseins, denn hier wurde Konversation betrieben, und zwar als eine Art Gesellschaftsspiel, in dem es den Gegner mittels Worten und Argumenten zu überwältigen und besiegen galt.[x] Ziel dieses verbalen Duells war einerseits, die eigene rhetorische Überlegenheit zu beweisen, andererseits ging es ebenso häufig darum, den Gesprächspartner möglichst geistreich zu verführen.[xi] Es liegt nahe, daß hierbei gewisse Darstellungsfähigkeiten erforderlich waren, daß es wichtiger war, in einem strategisch günstigen Licht zu erscheinen, als die wahren Befindlichkeiten allzu offenherzig zur Schau zu stellen. Heuchelei und Selbstverstellung gehörten daher zur gepflegten Lebensart. Mit ihrer Hilfe blieb man seinem Gegenüber unzugänglich, verwehrte ihm den Einblick in die eigene Gefühlswelt, um ihn nicht auf Schwächen aufmerksam zu machen, die er ausnutzen könnte. Zugleich gestatten sie aber, den anderen psychisch zu durchleuchten, ihn z.B. durch gespielte Vertrauensseligkeit oder Opportunismus zur Selbstenthüllung zu treiben, um ihn daraufhin manipulieren oder bloßstellen zu können.[xii] Die verschleierten Absichten und Anspielungen des anderen dekodieren sowie die eigenen verschlüsseln[xiii] - dies verlangt Menschenkenntnis und psychologisches Kalkül, wobei es trotz höchster Reflektiertheit immer den Schein des Spontanen und Natürlichen zu wahren galt.[xiv] Selbstbeherrschung im Sinne einer vollständigen Kontrolle der Ratio über jegliche Gefühlsäußerungen, darin besteht auch das wichtigste Prinzip der Marquise de Merteuil. Sobald sie in die Gesellschaft eingeführt wurde, erwies sich ihr der Verstand als das wichtigste Kapital: Entrée dans le monde dans le temps où, fille encore, j’étais vouée par état au silence et à l’inaction, j’ai su en profiter pour observer et réfléchir [] J’étais bien jeune encore, et presque sans intérêt: mais je n’avais à moi que ma pensée, et je m’indignais qu’on pût me la ravir ou me la surprendre contre ma volonté. (Laclos 2002: 246/247 – Brief 81) Doch auch innerlich will sich der Libertin nicht in die Abhängigkeit von Empfindungen begeben, sondern autonom bleiben. Dies korrespondiert mit seinem Anspruch, im Interaktionsprozeß immer die Rolle des Agierenden bzw. des Verführers und niemals die des Reagierenden bzw. Verführten einzunehmen.[xv] So sind die Briefe von Valmont und Merteuil Initiator der Handlung, indem sie als direktes Werkzeug ihrer manipulatorischen Machenschaften fungieren, während die Briefe von Cécile, Danceny und der Présidente im wesentlichen Reaktionen, Bekenntnisse und Zustandsbeschreibungen enthalten.[xvi] Eine leidenschaftliche Liebe kommt für den Libertin demnach nicht in Frage, da sie ihn zum Sklaven des/der Angebeteten macht und somit in die Position der/des Abhängigen drängt.[xvii] Gefühle gelten als Schwäche und Kontrollverlust. Dessen ist sich auch Valmont bewußt: J’ai besoin d’avoir cette femme, pour me sauver du ridicule d’en être amoureux. (Laclos 2002: 54 – Brief 4)[xviii] Daß die Rettung der Bauernfamilie, welche als rein strategische Maßnahme geplant war, in ihm plötzlich eine echte Rührung hervorruft, eine Anteilnahme am Glück der Elenden, ist eine peinliche und unerwünschte Entdeckung[xix]: J’avouerai ma faiblesse; mes yeux se sont mouillés de larmes, et j’ai senti en moi un mouvement involontaire, mais délicieux. J’ai été étonné du plaisir qu’on éprouve en faisant le bien. (Laclos 2002: 92 – Brief 21) So besteht auch der Reiz der Verführung für den Libertin weniger in der Sinneslust selbst als in den Strategien, mit denen er die Liebesvereinigung herbeiführt. Diese ist zwar notwendiger Abschluß, doch die eigentliche Bestätigung geht von der Bewährung der Methode aus, welche demgemäß nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck ist.[xx] Hindernisse auf dem Weg zum Ziel waren dabei eine willkommene Herausforderung. Die moralischen Bedenken der Mme de Tourvel bilden einen Widerstand, dessen Überwindung Valmont ganz besonders reizt: Qu’elle croie à la vertu, mais qu’elle me la sacrifie. (Laclos 2002: 60 – Brief 6) [xxi]

Der Nervenkitzel des libertinen Gesellschaftsspiels ging nicht zuletzt auf seine unbarmherzigen Spielregeln zurück, denn bei aller Durchtriebenheit mußte doch stets der moralische Schein gewahrt werden. Derjenige, dessen Treiben in der Öffentlichkeit bloßgestellt wurde, erlitt – wie Mme de Merteuil – einen sozialen Absturz aus großer Höhe.[xxii] In seinem Essay über die Liaisons dangereuses beschreibt Heinrich Mann den Reiz der Gefahr folgendermaßen: Die Liebe ist das herrschende Gesellschaftsspiel von unbegreiflichem Reiz, weil es immer im Begriff steht, ernst zu werden und den Kopf zu kosten. [] Der erste Anlaß, aus dem man Psychologe wurde, war der Müßiggang; aber der Zwang, durch den man es bleibt, ist die Gefahr. (zitiert nach Köhler 1984: 81)

Das Böse

Nachdem Heuchelei und Selbstverstellung als grundlegende Verhaltensmerkmale der Libertinage herausgestellt wurden, soll nun der Frage nachgegangen werden, inwiefern die beiden Protagonisten Valmont und Merteuil sich von diesem Hintergrund abheben. - Der entscheidende Unterschied liegt in den Motiven der Täuschung. Der herkömmliche Libertin widersetzt sich zwar gesellschaftlichen Moralvorstellungen und erfreut sich an der Untergrabung bürgerlicher Tugenden, betreibt die Zersetzung aber nicht um ihrer selbst willen,[xxiii] sondern weil es seinen Lebensprinzipien entspricht, keinerlei Autoritäten anzuerkennen und die Begierde als legitim zu betrachten.[xxiv] Was Laclos’ Hauptfiguren hingegen drängt, ist die Lust an der Vernichtung, ist das Vergnügen daran, das Opfer aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen sowie seine Reputation und seine soziale Stellung zu zerstören. Ihre Lügen und Täuschungsmanöver sind daher nicht mehr nur nützliches Mittel in einem Spiel, bei welchem das Gegenüber in seiner Partnerrolle anerkannt wird, sondern vielmehr Ausdruck einer Menschenverachtung, die den Interaktionspartner zum Objekt und Spielzeug des eigenen Machtwillens degradiert. Es ist dieser Trieb des Bösen, dem sich die beiden Intriganten verschrieben haben und aus dessen Befriedigung heraus sie sich selbstverwirklichen.[xxv] Zahlreiche Bemerkungen in ihren Briefen verweisen auf die Gegenwart des Bösen. So bekundet die Marquise ihre Lust am Perfiden und Grausamen sowie am Unglück anderer Menschen: Rien ne m’amuse comme un désespoir amoureux. Il [Danceny] m’appellerait perfide, et ce mot de perfide m’a toujours fait plaisir; c’est après celui de cruelle le plus doux à l’oreille d’une femme. (Laclos 2002: 57 – Brief 5) Auch Valmont malt sich genußvoll aus, wie er wohl die Gewissensqualen seines Opfers Tourvel intensivieren kann: Mon projet [] est qu’elle sente bien la valeur et l’étendue de chacun des sacrifices qu’elle me fera; de ne pas la conduire si vite, que le remords ne puisse la suivre; de faire expirer sa vertu dans une lente agonie; de la fixer sans cesse sur ce désolant spectacle; et de ne lui accorder le bonheur de m’avoir dans ses bras, qu’après l’avoir forcée à n’en plus dissimuler le désir. (Laclos 2002: 207 – Brief 70) Zeichen besonderer Geringschätzung ist zuweilen auch das Vokabular, mit dem die Verführung etwa einer Hetzjagd oder einem militärischen Feldzug gleichgestellt wird: Laissons le Braconnier obscur tuer à l’ affût le cerf qu’il a surpris; le vrai chasseur doit le forcer. (Laclos 2002: 99 – Brief 23) Ce n’est donc pas [] une simple capitulation […] c’est une victoire complète, achetée par une campagne pénible, et décidée par de savantes manœuvres. (Laclos 2002: 392 – Brief 125) In beiden Fällen wird das Opfer entmenschlicht, zu einem anonymen Gegenstand herabgewürdigt, den man unter rein technischen Gesichtspunkten behandelt.[xxvi] Und ähnlich wie ein tatsächlicher Feldzug meist zum Zwecke der Machterweiterung geführt wurde, so verführen auch Valmont und Merteuil weniger aus Liebe, als um Menschen zu beherrschen.° Damit setzen sie sich in Konkurrenz zu Gott. Valmont will Mme de Tourvel nicht nur von Gott abbringen, sondern als gottgleicher Dämon vielmehr selbst an dessen Stelle treten: J’oserai la ravir au Dieu même qu’elle adore. [] Qu’ [] elle me dise: «Je t’adore». […] Je serai vraiment le Dieu qu’elle aura préféré. (Laclos 2002: 60 - Brief 6) Ebenso genießt er es, den ahnungslosen Beichtvater für sein sündiges Vorhaben einzuspannen, indem er ihn ein Treffen mit der Présidente arrangieren läßt.[xxvii]

Darüber hinaus kennzeichnet sich das Böse durch seine Perfektion. Im Gegensatz zur galanten Heuchelei des gewöhnlichen Libertins, welcher vielmehr als Gelegenheitslügner einzustufen ist, dessen Heuchelei eine situative Verhaltenweise, aber keinen omnipräsenten Charakterzug darstellt,[xxviii] betreiben Laclos’ Protagonisten eine wahre Schauspielkunst, eine geradezu artistische Verstellung, die darauf abzielt, aufrichtigen Gefühlsausdruck so überzeugend zu simulieren, daß das gespielte Gefühl im Extremfall in reelle Empfindung übergehen kann, sozusagen im Sinne eines vorübergehenden Selbstbetrugs. Dies erfordert äußerste psychologische Sensibilität sowie das Wissen um die Wirkung des eigenen Scheins.[xxix] Die Marquise de Merteuil hat bereits in jungen Jahren erkannt, daß sich das Verhalten der sie umgebenden aristokratischen Gesellschaft in der Diskrepanz von Schein und Sein abspielt und daß ihr nur das absolute Beherrschen dieser Dialektik Macht über die Mitmenschen verleihen kann.[xxx] Der Perfektion ihres Schauspiels liegt der Absolutheitsanspruch des Rationalen zugrunde: Ils [mes principes] sont le fruit de mes profonde s réflexions; je les ai crées, et je puis dire que je suis mon ouvrage. (Laclos 2002: 246 – Brief 81) Sie selbst definiert sich als Produkt ihres eigenen Verstands.°

Zur Funktion der Sprache

Sei es in den adligen Salons des 18. Jh.s oder im Briefroman, immer erfolgt der Austausch zwischen den beteiligten Personen fast ausschließlich über das Medium der Lautsprache. Für Valmont und Merteuil ist diese demnach das wichtigste Werkzeug bei der Verführung ihrer Opfer. Damit wird bereits deutlich, daß ihr Sprachgebrauch durch Hintergedanken motiviert ist, durch die Absicht, das Gegenüber auf eine gewünschte Weise zu beeinflussen. Da der Hintergedanke, also das, was den Sprecher bzw. Schreiber tatsächlich bewegt, im Umgang mit dem Opfer nicht expliziert werden kann und das Ziel mit Hilfe von Täuschung erlangt werden muß, ergibt sich eine Inkongruenz von Geäußertem und Gedachtem, die mehrere Abstufungen kennt und von der Teilwahrheit bis zur kompletten Lüge reicht.[xxxi] Dadurch verändert sich auch die Funktion der Sprache. So wie der Lügner seinen Kommunikationspartner nicht als gleichwertig anerkennt,[xxxii] wird auch die Sprache bei der Heuchelei als Kommunikationsmittel entwertet. Sie dient nicht mehr der Wiedergabe der Wirklichkeit, der Offenbarung des Selbst und damit der Annäherung und Verständigung zwischen den Kommunikationspartnern, sondern wechselt in ihrer Funktion vom Ausdrucksmittel zum Manipulationsmittel und Machtinstrument.[xxxiii] Sprache wird zum Schutzschild, hinter dem sich der Angreifer versteckt, sowie zur Waffe, mit der er den anderen psychisch durchdringt und beeinflußt. Sie sorglos und unbedacht verwenden bedeutet, strategisch wichtige Informationen preiszugeben.[xxxiv] Eine zentrale Voraussetzung stellt daher die Sprachbeherrschung dar, d.h. die Fähigkeit, Sprache rhetorisch zu gebrauchen, ihre Mittel gezielt und in genauer Kenntnis ihrer Wirkung einzusetzen. Dies verlangt eine reflektierte Distanz zum eigenen Sprachgebrauch. Im Briefverkehr profitiert der Verführer diesbezüglich von der räumlichen Entfernung zum Opfer. Sie erlaubt es ihm, seine Worte in Ruhe auf ihren Effekt hin zuzuschneiden, und läßt den Text ohne die bedrängende Gegenwart seines Verfassers auf das Opfer einwirken.[xxxv] Zu den häufigen rhetorischen Phänomenen zählt u.a. die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der verwendeten Ausdrücke. Diese enthalten relativ wenige semantische Merkmale, lassen sich variabel interpretieren und auf unterschiedliche Sachverhalte beziehen, so daß es darauf ankommt, die jeweils gemeinte Lesart zu erschließen. So müssen die tatsächlichen Absichten und Einstellungen des Sprechers aus einer Fülle von Anspielungen, galanten Redewendungen und Höflichkeitsfloskeln herausgefiltert werden. Durch ihren ständigen floskelhaften Gebrauch erfuhren übrigens insbesondere Moral- und Gefühlsbegriffe eine erhebliche Entwertung im 18. Jh. - ein Effekt, der ganz im Sinne der Libertins war. Es entsprach aber außerdem der allgemeinen Stilästhetik, eine allzu konkrete Sprache, welche „alles plump beim Namen nennt“, zu vermeiden.[xxxvi] Zu den größten rhetorischen Leistungen von Valmont und Merteuil gehört sicherlich ihr wechselnder Sprachstil. Auf jedes Opfer schneiden sie ihre Rhetorik individuell zu, passen sie der jeweils gespielten Rolle an. Die Sprache ihrer Briefe ist also am jeweiligen Adressaten sowie an der gewünschten Wirkung auf diesen orientiert.[xxxvii] Daher ist es möglich, daß ein Schreiber ein- und denselben Sachverhalt gegenüber unterschiedlichen Adressaten verschieden darstellt. Ihre Affäre mit Prévan schildert die Marquise gegenüber Valmont in ihrem tatsächlichen Hergang, um ihn als Rivalen von ihren Fähigkeiten zu überzeugen. Gegenüber Mme de Volanges hingegen verzerrt sie den Vorfall so, daß Prévan in der Öffentlichkeit als Vergewaltiger bloßgestellt ist.[xxxviii] Im Brief an die Mutter nennt sie Cécile ein aimable enfant, während sie gegenüber Valmont von einer machine à plaisir spricht.[xxxix] Um beeinflussen zu können, muß sich der Verführer in einem günstigen Licht präsentieren und Vertrauen wecken. Dazu gilt es, die Sprach– und Denkkategorien des Opfers zu übernehmen bzw. sie als konform mit den eigenen darzustellen.[xl] In diesem Sinne wird der Adressat gleichsam zum „Koautor“ des Briefs.[xli]

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Schein und Sein in Choderlos de Laclos' "Les Liaisons dangereuses"
Hochschule
Universität Potsdam
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
19
Katalognummer
V59436
ISBN (eBook)
9783638533775
ISBN (Buch)
9783656805304
Dateigröße
446 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand
Schlagworte
Schein, Sein, Choderlos, Laclos, Liaisons
Arbeit zitieren
Thomas Roghmann (Autor:in), 2003, Schein und Sein in Choderlos de Laclos' "Les Liaisons dangereuses", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59436

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