Die Fernsehreportage


Seminararbeit, 2002

35 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung: Die Reportage, eine journalistische Darstellungsform

2. Reportage in den Printmedien
2.1 Historischer Abriss
2.2 Definitionsansätze und definitorisches Problem
2.3 Funktionsleitende Merkmale der Reportage

3. Reportage im Hörfunk
3.1 Formen
3.2 Gelegenheiten der Anwendung
3.3 Gestalterische Elemente
3.4 Konkurrenzverhältnis Fernsehen-Hörfunk

4. Folgerungen für die Fernsehreportage
4.1 Definitorisches Problem
4.2 Funktionsleitende Merkmale
4.3 Formen und die Gelegenheiten der Anwendung
4.4 Gestalterische Elemente
4.5 Stil- und Wirkungselemente

5. Geschichte der Fernsehreportage

6. Theoretischer Produktionsablauf der Fernsehreportage
6.1 Idee
6.2 Recherche und Kostenkalkulation
6.3 Dreh
6.4 Schnitt
6.5 Text und Ton

7. Wirklichkeit und Inszenierung

8. Analyse einer Beispielreportage: „Der Landarzt aus der Heide“
8.1 Inhalt und Kontext
8.2 Funktionsleitende Merkmale
8.3 Gestalterische, Stil- und Wirkungselemente

9. Schlusswort: Stärken und Schwächen der Fernsehreportage

10. Quellen
10.1 Monographien
10.2 Lexika und Jahrbücher
10.3 Sammelwerke und Aufsätze
10.4 Zeitungsartikel
10.5 Fernsehreportagen

Anhang

1. Einleitung: Die Reportage, eine journalistische Darstellungsform

Wer regelmäßig das Programm der öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland verfolgt, kennt den Sendeplatz: Freitags um 21:15 Uhr läuft die ZDF-reportage im Zweiten Deutschen Fernsehen. Sie hat fast jede Woche eine der attraktivsten Sendezeiten. Die 41 Sendungen des Jahres 2000 sahen im Schnitt 3,14[1] Millionen Menschen. Die Einschaltquote schwankte zwischen zwei und knapp fünf Millionen. Der Marktanteil lag zwischen 16,3 und 6,2 Prozent.[2] Die Bedeutung dieses Reportageformats für die Medienlandschaft ist offensichtlich.

Die Reportagethemen sind vielfältig. So berichteten die ZDF-Reporter[3] in drei aufeinander folgenden Wochen im Frühjahr 2002 über die Missstände in der deutschen Altenpflege und einen Sozialarbeiter, der dagegen ankämpft[4], über die deutschen Soldaten in Kabul[5] und über Schauspieler, die in Hollywood vergebens nach ihrem Glück suchen.[6] Von sozialen Brennpunkten über Politik hin zu Lifestyle und Gesellschaft, in allen Bereichen des Lebens lassen sich Themen für Reportagen aufspüren.

Obwohl ich mich bisher auf das ZDF bezogen habe, bleibt zu festzustellen, dass andere Sendeanstalten sowohl die Privaten als auch die Öffentlich-Rechtlichen ebenfalls Reportagen in ihren Programmen senden. Aufgrund des öffentlichen Auftrages und der Lage der Medienlandschaft in Deutschland ist allerdings die journalistische Qualität der Reportagen in den öffentlich-rechtlichen Programmen hervorzuheben.

Die Arbeit der Journalisten beginnt mit der Ideenfindung, der Themenwahl und der Recherche. Sie zieht sich über Planung und Dreh bis hin zum Schnitt. Eine Vielzahl von Arbeitsschritten muss erfolgen, bevor der Beitrag sendefertig vorliegt. Oft dauert es Monate. Unzählige Autoren, Kameramänner, Cutter, um nur die wichtigsten Beteiligten zu nennen, stecken hinter den dreißig Minuten am Freitagabend, die der Zuschauer so flüchtig konsumiert.

Was ist das Ziel dieser Hausarbeit? Schon dem Titel „Die Fernsehreportage“ und den ersten einleitenden Worten ist zu entnehmen, dass hier ein weites Feld ohne konkrete Spezialisierung zu bearbeiten ist. Deswegen muss darauf verwiesen werden, dass die Hausarbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Dafür ist das Thema zu komplex. Ein Nachteil, der der Hausarbeit jedoch zum Vorteil gereichen sollten, denn die wichtigsten Teilbereiche des Themas werden in ihren wesentlichen Aspekten zusammengestellt. Außerdem sollen die Literaturhinweise dem interessierten Leser ermöglichen, schnell und einfach tiefer in die Materie vorzudringen.

Die Hausarbeit soll sowohl theoretische Grundlagen aufzeigen als auch die Theorie an Beispielen aus der Praxis überprüfen. So werden die Formen der Fernsehreportage, ihre Stärken und Schwächen betrachtet. Ebenso wird auf die handwerkliche Gestaltung und Umsetzung, auf die Macher und die Technik eingegangen. Mit der Untersuchung einer Beispielreportage, die dem eingangs erwähnten Reportageformat des ZDF entnommen ist, wird der Bezug zur Praxis hergestellt.

Bevor die Fernsehreportage in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, müssen die Medien Print und Hörfunk auf ihren Umgang mit der Reportage untersucht werden. Es kann vorweggenommen werden, dass die Fernsehreportage dort Vorläufer hat, die entscheidend Funktion, funktionsleitende Merkmale und die Elemente der Darstellungsform und damit auch ihres Fernsehablegers geprägt haben. Fest steht, dass allein die verschiedenen Präsentationsformen der Reportage - in der Zeitung auf dem Papier, im Hörfunk rein akustisch oder im Fernsehen mit betexteten Bildern - eine getrennte Untersuchung erfordern. Da es sich um drei verschiedene Medien handelt, existieren zwangläufig Unterschiede. Ob diese ausschließlich auf technischem Gebiet zu suchen sind und ob es Parallelen in der Anwendung der Reportage zwischen den Medien gibt, wird in dieser Hausarbeit erörtert.

2. Reportage in den Printmedien

2.1 Historischer Abriss

Auf den ersten Blick scheint es, als hätte die Printreportage wegen der grundverschiedenen technischen Präsentation nicht viel mit der Fernsehreportage gemeinsam. Doch wie ihr Medium ist sie in der Geschichte früher entstanden und prägte Reportagenormen lange bevor an Fernsehen und Radio zu denken war. Einen Teil dieser Normen haben Hörfunk und Fernsehen für sich übernommen. Das ist Grund genug, die Entwicklung der Printreportage näher zu betrachten.

Folgt man den Spuren der Reportage in der Geschichte, gelangt man zurück bis in die Antike. Es gibt frühe Formen der Reiseberichte unter anderem von Herodot, die reportagehafte Züge erkennen lassen. Diese Reiseberichte dienten in der Antike der Information über Fremdes und der Unterhaltung. Der Erzähler - die Berichte wurden oftmals mündlich vorgetragen - ließ das Publikum an seinen Erlebnissen teilhaben. Aus der gleichen Motivation heraus schreiben Journalisten noch heute Reportagen. Die Grundlagen der Reportage sind vermutlich so alt sind wie die literarische gestaltete Kultur. Das erscheint logisch, denn in gewisser Weise dient die Reportage der Befriedigung eines Bedürfnisses des Menschen: Sie stillt seine Neugier.

Bei unserem Streifzug durch die Geschichte finden wir weitere reportageähnliche Texte in den Reisetagebüchern zu Beginn der Frühen Neuzeit. In der Epoche der Eroberungen und Expeditionen nach Afrika oder Westindien sollten die Beschreibungen aus der fernen Welt daheim über Profitchancen, Gold, Ruhm und Ehre Bericht erstatten. Vor allem die spanischen und portugiesischen Seefahrer schrieben im 16. Jahrhundert aufregende und Aufsehen erregende Berichte über Südamerika. Dass dabei die reportageähnlichen Beschreibungen missbraucht wurden, um die Einheimischen als primitiv abzustempeln und ihre Ausbeutung und Ausrottung zu rechtfertigen, sei nur am Rande erwähnt.

In Deutschland erreichte die Reiseberichterstattung mit dem Niedergang der höfischen Barockdichtung eine neue Qualität. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden Reiseberichte zur dichterischen Erzählung ausgefeilt und stilisiert. Vor allem im Sturm und Drang feierten Schriftsteller den Reisebericht als eine vom Zwang zur Authentizität und Wahrhaftigkeit befreite Gefühlsschilderung. Ein Beispiel dafür sind Goethes Tagebucheinträge während der Italienreisen der Jahre 1786 und 1788. Doch entfernte sich von nun an und insbesondere in der folgenden Epoche der Romantik die Literatur vom Journalismus. Die Befreiung von Authentizität verbannte zugleich die Alltagserfahrungen, weil sie als mit der Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit des Lebens behaftet galten, in den Bereich des Trivialen. Die Literatur wurde ein Bestandteil der Kunst.

Die Gegenposition äußerte sich im Realismusstreit, dessen Streitobjekt das Genre des Reiseberichts war. Ein Befürworter der handwerklich seriösen Arbeitsweise des Reporters war Johann Gottfried Seume (1763 bis 1810). Er sprach sich dafür aus, dass der Reporter präzise zu beobachten und seine Beobachtungen zu belegen habe.[7] Darin ist die Forderung nach gründlicher Recherche erkennbar. Doch erst in der Biedermeierzeit und der Epoche des Realismus wurde Seume verstanden und aufgegriffen. Seitdem gibt es zahllose Texte, die den Kriterien der Reportage genügen.

Es soll noch ein zweiter Versuch der historischen Annäherung unternommen werden. Diesmal steht die journalistische Tradition im Vordergrund. Der Augenzeugenbericht ist wie der Reisebericht als Vorläufer der Reportage zu betrachten. Schon der römische Historiker Tacitus ließ sich von einem Augenzeugen das Erdbeben von Pompeji beschreiben. Doch blieb es für lange Zeit ein Zufall, ob ein Reporter Augenzeuge eines wichtigen Ereignisses wurde.

Im 19. Jahrhundert bildeten sich Spezialisten heraus. Aus der Tradition des journalistischen Augenzeugen entwickelten sich der Polizeireporter und der Kriegsberichtserstatter.

Auch auf politischer Ebene kamen Augenzeugenberichte zur Anwendung. Mehrere Zeitschriften begannen im 18. Jahrhundert, Parlamentsreportagen zu veröffentlichen. Zu den Bekanntesten zählen die von 1736 an regelmäßig publizierten Berichte des „Gentleman’s Magazine“. Die Entwicklung des professionellen Journalismus ging einher mit der Demokratisierung der Gesellschaften. Dementsprechend war England der wichtigste Vorreiter.

Doch welche Rolle spielten diese Entwicklungen für die Ausprägung der Reportage? Die Reporter begannen stellvertretend für ihre Leser Mauern und Barrieren zu überblicken, die für den Bürger unüberwindbare Hindernisse waren. Die moderner Reportage entstand aus der Symbiose von Reisebericht und Augenzeugenbericht. Ihre Wegbereiter waren vor allem englische und französische Schriftsteller. Honoré Balzac, Emile Zola aber auch Heinrich Heine, Georg Weerth und Theodor Fontane prägten das Genre in seiner Entstehungsphase.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Massenpresse. Seit 1872 gab es die erste Rotationsdruckmaschine, 1884 wurde die erste vollmechanische Setzmaschine in Betrieb genommen. 1914 war die erste Sechsrollen-Rotationsmaschine bereits in der Lage, pro Stunde zweihunderttausend Exemplare einer achtseitigen Zeitung zu drucken. In dieser Zeit setzten sich die Tageszeitungen endgültig durch. Deutsche Blätter erlangten teilweise Weltruhm. Zum Beispiel galt die „B.Z. am Mittag“ als schnellste Tageszeitung der Welt. Mit den technischen Innovationen ging eine journalistische Professionalisierung und Standardisierung einher. Deswegen kann davon ausgegangen werden, dass in dieser Zeit die Zeitungsreportage ihre moderne Form annahm. Allerdings gab es seit diesen Tagen eine neue Gefahr für die seriöse Reportage, der Erfolgsdruck der Massenauflagen zwang große Zeitungen immer mehr in den Boulevard-Journalismus. Die Qualität der journalistischen Texte, auch der Reportage, litt häufig darunter.

Das in der Geschichte nun folgende Regime des Nationalsozialismus kann in dieser Hausarbeit getrost übersprungen werden. Eine Untersuchung der Reportage vor dem Hintergrund des NS-Verlautbarungsjournalismus bringt wenig. Wenn man überhaupt in diesen zwölf Jahren von Reportagen sprechen kann, denn das Kriterium der Authentizität und recherchierten Fakten wurde allzu oft durch staatliche Vorgaben verletzt.

Doch bevor die Wiedergeburt der Reportage betrachtet wird, muss kurz eine historische Entwicklung erwähnt werden, die vor dem NS-Regime stattgefunden hatte. Es handelt sich hierbei um eine Veränderung in der Recherchetechnik, die direkten Einfluss auf die Reportagengestaltung hatte.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert begannen Reporter, sich nicht länger mit dem Standpunkt des Beobachters zu begnügen. Sie fingen an, inkognito zu recherchieren. Erst in ihren Artikeln gaben sie ihr Rollenspiel der Öffentlichkeit zu erkennen. Die Rollenreportage war geboren. Eine der Ursachen für diese Entwicklung lag in der sozialen Not der Großstädte, die förmlich eine verdeckte Recherche, deren Ergebnisse zur Anprangerung von Missständen dienen sollten, provozierte. Große Namen werden mit dieser Recherchetechnik verbunden. William Thomas Stead, ein britischer Journalist, deckte durch ein aufwendiges Rollenspiel 1885 den Handel mit minderjährigen Mädchen auf. Max Winter durchstreifte die Armenviertel Wiens und verarbeitete seine Erlebnisse in aufrüttelnden Sozialreportagen.[8]

Einen Mann gilt es, besonders hervorzuheben: Egon Erwin Kisch (1885 bis 1948). Kisch, der unter dem Spitznamen „rasender Reporter“ berühmt wurde, hat zweifellos viel für die Reportage geleistet. Er verfasste eine Vielzahl hervorragender Reportagen und Rollenreportagen.[9] Darüber hinaus setzte er sich aktiv mit der Theorie des Reportagen-Schreibens auseinander. Obwohl seine Positionen nicht immer in sich schlüssig waren und sich im Laufe seines Lebens veränderten, kann seine Bedeutung für den deutschen Journalismus kaum zu hoch eingeschätzt werden.

Doch kommen wir zurück zur Recherchetechnik der Rollenreportage. Im angloamerikanischen Raum ist diese Technik tiefer verwurzelt als in Deutschland. Daher leitet sich aus dem Englischen die Bezeichnung des „investigativen Recherchierens“ ab. In Deutschland ist dieses Vorgehen umstritten. Die bewusste Vorspiegelung falscher Tatsachen gilt als zwielichtig. Für den Leser sind derartig recherchierte Texte aber spannend zu lesen, wie der Erfolg der Bücher Günther Wallraffs zeigte. Wallraff hatte sich in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auf das Einschleichen in Milieus und Unternehmen spezialisiert und damit für einige Aufregung in der deutschen Öffentlichkeit gesorgt.[10]

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und der Niederlage der Nationalsozialisten stand beim Wiederaufbau der westdeutschen Publizistik der an den angelsächsischen Ländern orientierte, faktengläubige Nachrichtenjournalismus im Vordergrund. Die klare Trennung zwischen Meinung und Nachricht führte dazu, dass die subjektiv gefärbte Reportage in den Hintergrund geriet. Einige Zeitgenossen wie der Kisch-Herausgeber Erhard Schütz glaubten sogar, die Reportage habe sich überlebt. Doch in den frühen 60er Jahren erkannten Zeitungshäuser, dass die alleinige Wiedergabe von Nachrichten die Realität verzerrt. Das Problem war offensichtlich: Ereignisse bestehen nicht nur aus abstrakten, objektiv gegebenen Informationen und die Gesellschaft ist kein Strukturgebilde aus Daten und Merkmalen. Genau den gegenteiligen Eindruck musste aber ein reiner Nachrichtenjournalismus vermitteln. Aus diesem Widerspruch heraus erlebte die Reportage ihre Renaissance in den deutschen Zeitungen. Seitdem hat sie ihren Platz, häufig auf Seite 3 der Tagespresse in Deutschland, fest eingenommen.[11]

2.2 Definitionsansätze und definitorisches Problem

Verfolgt man die sprachliche Herkunft des Begriffes zurück, findet sich der Ursprung im lateinischen „reportare“, dass als „zurücktragen“, „zurückführen“ oder „zurückbringen“ übersetzt wird. Allerdings gab es schon zu Zeiten der alten Römer die metaphorische Bedeutung „etwas überbringen“, „etwas melden“ oder „etwas berichten.“[12]

„Die Reportage ist ein tatsachenbetonter, aber persönlich gefärbter Erlebnisbericht“[13], schreiben die Autoren des Fischer Lexikons der Publizistik. In ihre Dreiteilung der journalistischen Gattungen (tatsachenbetonte Formen, meinungsbetonte Formen, phantasiebetonte Formen) ordnen sie die Reportage als tatsachenbetonte Form ein. Allerdings verdeutlichen die Autoren ihre Behauptung, dass es bei mehreren Darstellungsformen verschiedene Interpretationsmöglichkeiten gibt, ausgerechnet anhand des Beispiels der Reportage. Sie könne ebenso als meinungsbetonte, interpretierende Form angesehen werden.[14]

„Reportage: Bericht über ein Ereignis mit ‚Dramatik’. Der Reporter war dabei, war Augenzeuge und schreibt in der Präsensform.“[15] So definiert das Kleine Journalistenlexikon die Reportage. Es bietet darüber hinaus eine weitere Untergliederung an: die Rollenreportage. Sie sei eine „Reportage, die der Reporter nicht nur selbst geschrieben hat, sondern die von ihm gestaltet wurde. So zum Beispiel, wenn er einen Bettler oder Ladendieb oder Fremdarbeiter spielt und dann über seine Erlebnis berichtet.“[16]

Auch das Fischer Lexikon unterteilt die Reportage in zwei Grundformen: den farbigen Bericht über ein handlungsreiches Ereignis und die Milieustudie, die eng mit dem Reisebericht verwandt ist. Es wird betont, dass die Reportage Themen aus allen Bereichen behandeln kann. Dabei berichtet der Reporter entweder aus eigener Augenzeugenschaft oder er verwendet die Auskünfte von Augenzeugen als Rohmaterial. Es ist wichtig, diese subjektive Erzählerperspektive des Journalisten hervorzuheben.[17]

Es gibt eine Vielzahl von Versuchen, für die Reportage eine allgemeingültige Definition zu finden. Sie alle stehen im Zusammenhang mit der Genretheorie des Journalismus. Zwei Vorschläge aus dem Fischer-Lexikon und von Sonderhüsken wurden schon zitiert. Eine weitere soll angeführt werden. Walter von La Roche schreibt: „Die Reportage ist kein Ersatz für Nachricht oder Bericht sondern deren Ergänzung. Der Reporter schildert, was er sieht und erfährt, notiert sich bezeichnende Einzelheiten (...) und schreibt in der Redaktion nieder, was er (...) zurückgebracht hat.“[18] Er betont, die Reportage solle so konkret und so anschaulich wie möglich gestaltet werden. Sie liefere Anschauung von Zuständen und Abläufen. Ihr Aufbau sei nicht hierarchisch sondern dramaturgisch.[19]

Doch macht es überhaupt Sinn, nach einer Lehrbuchdefinition für die Reportage zu suchen? Viele der Autoren wollen unbedingt eine geschlossene, nominalistische Definition aufstellen. Dabei wollen sie ausdrücken, was eine Reportage genau ist. Ziel ist es, Nachwuchsjournalisten etwas zum Auswendiglernen in die Hand zu geben. Doch diese Definitionsversuche enden zumeist in einem engen Korsett, das der Praxis nicht gerecht werden kann.

Ein Ausweg wäre, zu erklären, was die Reportage mit Themen, Ereignissen und Sachverhalten anstellt, wie sie Informationen und Erlebnisse gestaltet und vermittelt. Eine funktionale Annäherung kann der ständigen Veränderung, der journalistische Darstellungsformen unterliegen, gerecht werden.[20] Man darf nicht vergessen, dass auch demokratische Gesellschaften in Bewegung sind und sich der Journalismus weiterentwickelt. So hat sich zum Beispiel die Magazin-Geschichte in den letzten 50 Jahren als eigenständige Darstellungsform herausgebildet, obwohl ihre Merkmale nicht in bestehende theoretischen Modelle hineinpassen. Um sich einer Definition für die zeitgemäß zu nähern, werden im nächsten Kapitel, funktionsleitende Merkmale der Reportage herausgearbeitet und an einem aktuellen Beispiel belegt.

2.3 Funktionsleitende Merkmale der Reportage

Die Reportage ist eng mit einer anderen journalistischen Darstellungsform verwandt: dem Feature. Während die Abgrenzung der Reportage von den nachrichtlichen Darstellungsformen (Meldung, Bericht) und den meinungsbetonten Darstellungsformen (Leitartikel, Kommentar, Glosse) sowie dem Interview verhältnismäßig leicht über die Funktionalität und Subjektivität vorgenommen werden kann, kommt es zwischen Reportage und Feature häufig zu Verwechslungen. Um die funktionsleitenden Merkmale der Reportage herauszuarbeiten, bietet sich ein vergleichendes Vorgehen an. Die Unterschiede zwischen Feature und Reportage werden dabei als Nebeneffekt deutlich.

Zunächst werden Kriterien für die Unterscheidung von Feature und Reportage anhand der Fachliteratur erarbeitet. Werner Meyer widmet in seinem Buch „Zeitungspraktikum“ der Differenzierung von Reportage und Feature nur einen kurzen Abschnitt. Darin unterscheidet er: Eine Reportage zeige Einzelschicksale, ohne einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben, während das Feature Allgemeingültiges erfassen und an einem Beispiel dokumentieren soll. Darüber hinaus sei das Feature nicht, wie die Reportage, an einen aktuellen Anlass gebunden. Zudem liefere es mehr Hintergründe durch eine Vielzahl von Zusatzinformationen (Daten, Statistik, Fakten).[21]

Wesentlich ausführlicher geht Siegfried Weischenberg in „Nachrichtenschreiben“ auf die Klassifizierung des Features ein. Er betrachtet es dabei, wie schon der Titel des Buches andeutet, als Verwandten der Nachricht und des Berichts. Das Feature sei eine durch die W-Frage „Welche Schlussfolgerung?“ ausgeweitete Nachricht. Eine Abgrenzung von der Reportage nimmt er nicht vor. Für ihn spielt beim Feature der „human-interest“-Aspekt eine tragende Rolle. Das Feature basiere auf dem Nachrichtenfaktor des Publikumsinteresses. So sei es auch, und diese Aussage steht im Widerspruch zu Michael Hallers Ausführungen (siehe unten), einem Realitätskern verpflichtet.

Aktuelle Vorgänge würden in einem Feature über scheinbare Randaspekte aus einem spezifischen Blickwinkel dargestellt, Beobachtungen und Einzelinformationen dienten nur als Aufhänger. Damit einher ginge die sprachlich freiere Beschreibung eines aktuellen Ereignisses.[22]

Der Kern von Weischenbergs Ausführungen lässt für die Differenzierung ähnliche Folgerungen zu wie Meyer. Im Feature kann man anhand einzelner Personen und Beispiele Sachverhalte konkretisieren, die eine größere Gruppe betreffen oder größere Zusammenhänge ausmachen. Beispielszenen, die reportagehaft anmuten können, fungieren als „Pars pro toto“.

Weischenberg macht deutlich: Ein szenenhafter Einstieg mit folgender Umblende auf eine höhere Ebene sei genretypisch. Im Feature seien die Informationen über den gesamten Artikel verteilt und ein pyramidenförmiger Aufbau nach „hard-“ oder „soft-facts“ wie bei der Nachricht müsse nicht erreicht werden. Eine chronologische Darstellung mit Höhepunkt oder Pointe am Schluss könne der Journalist hingegen verwenden. Da das Feature traditionell beim Rundfunk eingesetzt werde, habe es in seiner Struktur einen ständigen Wechsel von Szenen, Fakten und Zitaten.[23]

[...]


[1] Errechnet mit den Daten des ZDF-Jahrbuchs 2000, S. 369 f.

[2] Daten entstammen dem ZDF-Jahrbuch 2000, S. 369.

[3] Damit sind die Autoren und Mitarbeiter der ZDF-reportage gemeint. Der Verweis ist notwendig, denn es könnte sonst zu Verwechslungen mit dem gleichnamigen Reporter-Magazin des ZDF kommen.

[4] Kemper: Die ZDF-reportage - Der Engel der Alten. 19. April 2002.

[5] Buhl: Die ZDF-reportage - Zwischen den Fronten. 26. April 2002.

[6] Gebel: Die ZDF-reportage - Einmal Star in Hollywood. 3. Mai 2002.

[7] vgl. Seume (1985): Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. S. 11.

[8] eine Zusammenstellung seiner Werke: Winter (1982): Das schwarze Wienerherz - Sozialreportagen aus dem frühen 20. Jahrhundert.

[9] eine Zusammenstellung seiner Werke: Kisch (1985) : Gesammelte Werke in 10 Bänden.

[10] Vor allem zwei Bücher sorgten für Wirbel.

Wallraff (1983): Der Aufmacher. Der Journalist hatte sich für dieses Werk bei der Bildzeitung in Hannover eingeschlichen. Seine Enthüllungen zur Arbeitsweise der Bildredaktion waren spektakulär.

Wallraff (1985): Ganz unten. Wallraff erlebte verkleidet als türkischer Bauarbeiter deutsche Baustellen im Ruhrpott und die alltägliche Diskriminierung der Gastarbeiter.

[11] vgl. Haller (1997): Die Reportage. S. 17 ff.

[12] Stowasser (1994): Stowasser: lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. S. 439, Sp. 2 à reporto.

[13] Noelle-Neumann / Schulz / Wilke (Hrsg.) (1994): Das Fischer Lexikon der Publizistik. S. 102.

[14] vgl. Noelle-Neumann / Schulz / Wilke (Hrsg.) (1994): Das Fischer Lexikon der Publizistik. S. S. 94.

[15] Sonderhüsken (1991): Kleines Journalisten-Lexikon. S. 108, Sp. 1. à Reportage.

[16] Sonderhüsken (1991): Kleines Journalisten-Lexikon. S. 110, Sp. 1. à Rollenreportage.

[17] vgl. Noelle-Neumann / Schulz / Wilke (Hrsg.) (1994): Das Fischer Lexikon der Publizistik. S. 102 ff.

[18] von La Roche (1999): Einführung in den praktischen Journalismus. S. 135.

[19] vgl. ebenda, S. 136 ff.

[20] vgl. Haller (1997): Die Reportage. S. 61 ff.

[21] vgl. Meyer (1997): Zeitungspraktikum. S. 154 ff.

[22] Auf die unklare Auslegung von „etwas anfeaturen“ im Sinne von „eine lockere, legere Sprache verwenden“ (quasi einen trockenen Bericht oder anderen Beitrag aufzulockern) soll im Zusammenhang mit der Darstellungsform Feature nicht eingegangen werden, wohl aber ist ein Verweis auf die unscharfe Nebenbedeutung angebracht.

[23] vgl. Weischenberg (1990): Nachrichtenschreiben, S. 161 ff.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Die Fernsehreportage
Hochschule
Universität Leipzig  (Kommunikations und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Seminar: Einführung in die Medienwissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
35
Katalognummer
V5941
ISBN (eBook)
9783638136525
ISBN (Buch)
9783638826600
Dateigröße
687 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Hausarbeit entwickelt ein theoretisches Konzept zur Definition der Fernsehreportage und behandelt den praktischen Produktionsprozess des Fernsehbeitrags. An einem Beispiel werden die Merkmale der Reportage veranschaulicht. Der Hausarbeit lag ursprünglich ein Video (Die ZDF-reportage - Der Landarzt aus der Heide. 24. Mai 2002) bei - die genannten Time-Codes beziehen sich auf diese Sendung. Aus urheberrechtlichen Gründen kann dieses hier nicht mitgeliefert werden. 253 KB
Schlagworte
Fernsehreportage, Reporter, Schnitt, Dreh, Redakteur, Darstellungsformen, Journalismus, Fernsehen
Arbeit zitieren
Lars-Marten Nagel (Autor:in), 2002, Die Fernsehreportage, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5941

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Fernsehreportage



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden