Die AfD als natürlicher Koalitionspartner der CDU? Vergleich der Parteiensysteme, inhaltlichen Positionierungen und Koalitionsoptionen der Parteien

Die Landtagswahlen 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen


Masterarbeit, 2020

94 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anhangsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Einordung
2.1 Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft
2.1.1 Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft: Office-Seeking
2.1.2 Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft: Policy-Seeking
2.2 Zweidimensionale Parteiensysteme und GAL-TAN
2.2.1 Parteiensysteme
2.2.2 GAL-TAN
2.3 Voting-Advice-Application-Forschung
2.4 Annahmen

3. Operationalisierung
3.1 Forschungsdesign
3.2 Vermessung von Parteiensystemen auf Basis des Duisburger-Wahl-Index
3.3 Berechnung von Policy-Distanzen
3.4 Der Wahl-O-Mat

4. Analyse der drei Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen
4.1 Ergebnisse der Landtagswahlen
4.1.1 Ergebnis der Landtagswahl 2019 in Brandenburg
4.1.2 Ergebnis der Landtagswahl 2019 in Sachsen
4.1.3 Ergebnis der Landtagswahl 2019 in Thüringen
4.2 Vorhersagen der Office-Seeking-Theorien in Brandenburg, Sachsen und Thüringen
4.2.1 Vorhersagen der Office-Seeking-Theorien in Brandenburg
4.2.2 Vorhersagen der Office-Seeking-Theorien in Sachsen
4.2.3 Vorhersagen der Office-Seeking-Theorien in Thüringen
4.3 Die Parteien im zweidimensionalen GAL-TAN-Parteiensystem
4.3.1 Die Parteien im zweidimensionalen GAL-TAN-Parteiensystem in Brandenburg
4.3.2 Die Parteien im zweidimensionalen GAL-TAN-Parteiensystem in Sachsen
4.3.3 Die Parteien im zweidimensionalen GAL-TAN-Parteiensystem in Thüringen
4.4 Überprüfung der Policy-Seeking-Theorien
4.4.1 Überprüfung der Policy-Seeking-Theorien in Brandenburg
4.4.2 Überprüfung der Policy-Seeking-Theorien in Sachsen
4.4.3 Überprüfung der Policy-Seeking-Theorien in Thüringen

5. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

Die vorliegende Masterarbeit untersucht die Parteiensysteme und Koalitionsmöglichkeiten in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zu den dort stattgefundenen Landtagswahlen 2019. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der CDU und der AfD. Untersucht wurde, ob diese beiden Parteien hinsichtlich der gängigen Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft und ihrer inhaltlichen Nähe natürliche Koalitionspartner in den Bundesländern sind. Um die Parteipositionen zu vergleichen, wurde der Wahl-O-Mat herangezogen. Anhand der Antworten zu diesem Tool wurden inhaltliche Differenzen errechnet und die Parteien in einem zweidimensionalen Raum mit einer sozio-ökonomischen und einer GAL-TAN-Achse verortet. Die Ergebnisse zeigen, dass die CDU in Brandenburg anderen Parteien nähersteht als der AfD, dort kann nicht von einer vorhergesagten Koalition ausgegangen werden. Aber für Sachsen und Thüringen gilt: CDU und AfD sind auf Basis der inhaltlichen Positionierungen natürliche Koalitionspartner. Keiner Partei steht die CDU so nahe wie der AfD – sowohl sozio-ökonomisch als auch entlang der GAL-TAN-Achse.

The AfD as a natural coalition partner of the CDU? A comparison of the party systems, substantive policy positions and coalitions options of the parties in Brandenburg, Saxony and Thuringia for the 2019 state elections.

The following master thesis analyzes the party systems and coalition options in Brandenburg, Saxony and Thuringia for the 2019 state elections. A particular focus is on a possible government alliance of the CDU and the AfD. It was examined if these two parties are natural coalition partners in regard to the common coalition theories in political science and their policy positions. The German Voting Advice Application Wahl-O-Mat was used for the analysis to compare the policy positions of the parties in the state parliament. Based on the parties’ responses, differences between the parties were calculated and the parties were located in a two-dimensional space with a socio-economic left-right axis and the new GAL-TAN axis. The results show that the CDU in Brandenburg is closer to other parties than the AfD, so a coalition between CDU and AfD is not predicted. But for Saxony and Thuringia the following applies: The CDU and the AfD are natural coalition partners based on their policy positions. No party is as close to the CDU as the AfD – on both axes.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Konfliktdimensionen im zweidimensionalen Parteiensystem

Abbildung 2: Parteienfamilien in Westeuropa im zweidimensionalen politischen Raum

Abbildung 3: Länder mit Voting-Advice-Applications

Abbildung 4: Nutzeroberfläche des Wahl-O-Mat zur Landtagswahl in Brandenburg 2019

Abbildung 5: Zweitstimmenanteil der in den 7. Brandenburger Landtag eingezogenen Parteien

Abbildung 6: Sitzverteilung im 7. Brandenburger Landtag

Abbildung 7: Zweitstimmenanteil der in den 7. Sächsischen Landtag eingezogenen Parteien

Abbildung 8: Sitzverteilung im 7. Sächsischen Landtag

Abbildung 9 Zweitstimmenanteil der in den 7. Thüringer Landtag eingezogenen Parteien

Abbildung 10: Sitzverteilung im 7. Thüringer Landtag

Abbildung 11: Zweidimensionales Parteiensystem in Brandenburg zur Landtagswahl 2019

Abbildung 12: Zweidimensionales Parteiensystem in Sachsen zur Landtagswahl 2019

Abbildung 13: Zweidimensionales Parteiensystem in Thüringen zur Landtagswahl 2019

Abbildung 14: Zweidimensionale Parteiensysteme in Brandenburg, Sachsen und Thüringen

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Fiktive Darstellung einer Parlamentszusammensetzung

Tabelle 2: Fiktives Parlament mit Policy-Positionen

Tabelle 3: Fünf Subdimensionen der GAL-TAN-Achse

Tabelle 4: Parlamentszusammensetzung und mögliche Koalitionen in Brandenburg

Tabelle 5: Parlamentszusammensetzung und mögliche Koalitionen in Sachsen

Tabelle 6: Parlamentszusammensetzung und mögliche Koalitionen in Thüringen

Tabelle 7: Thesen der sozio-ökonomischen Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 8: Thesen in der Dimension Umweltschutz vs. Wirtschaftswachstum entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 9: Thesen in der Dimension Bürgerrechte und gesellschaftliche Freiheit vs. Law and Order entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 10: Thesen in der Dimension individueller Lebensstil vs. traditionelle und autoritäre Normen der Gesellschaft entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 11: Thesen in der Dimension multikulturelle Diversität vs. nationale Kohäsion entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 12: These in der Dimension Kosmopolitismus vs. Nationalstaat entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 13: Thesen mit Überschneidungen zu mehreren Dimensionen entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 14: Ausgeschlossene Thesen vom Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg

Tabelle 15: Ergebnisse der Berechnungen der Parteipositionierungen anhand der Wahl-O-Mat-Angaben zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 16: Noch vorzustellende Thesen entlang der sozio-ökonomischen Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 17: Thesen in der Dimension Umweltschutz vs. Wirtschaftswachstum entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 18: Thesen in der Dimension Bürgerrechte und gesellschaftliche Freiheit vs. Law and Order entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 19: Thesen in der Dimension Bürgerrechte individueller Lebensstil vs. traditionelle und autoritäre Normen der Gesellschaft entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 20: Thesen in der Dimension multikulturelle Diversität vs. nationale Kohäsion entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 21: Ausgeschlossene Thesen vom Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 22: Ergebnisse der Berechnungen der Parteipositionierungen anhand der Wahl-O-Mat-Angaben zur Landtagswahl 2019 in Sachsen

Tabelle 23: Noch vorzustellende Thesen entlang der sozio-ökonomischen Achse beim Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Thüringen

Tabelle 24: Noch vorzustellende Thesen entlang der GAL-TAN-Achse beim Wahl-O- Mat zur Landtagswahl 2019 in Thüringen

Tabelle 25: Ausgeschlossene Thesen vom Wahl-O-Mat zur Landtagswahl 2019 in Thüringen

Tabelle 26: Ergebnisse der Berechnungen der Parteipositionierungen anhand der Wahl-O-Mat-Angaben zur Landtagswahl 2019 in Thüringen

Tabelle 27: Übersicht der möglichen Minimal-Winning-Koalitionen mit Policy-Distanz in Brandenburg

Tabelle 28: Übersicht der möglichen Minimal-Winning-Koalitionen mit Policy-Distanz in Sachsen

Tabelle 29: Übersicht der möglichen Minimal-Winning-Koalitionen mit Policy-Distanz in Thüringen

Anhangsverzeichnis

Anhang 1: Kodierplan der Parteipositionen zur Erstellung eines zweidimensionalen Parteiensystems für Brandenburg.93

Anhang 2: Kodierplan der Parteipositionen zur Erstellung eines zweidimensionalen Parteiensystems für Sachsen.94

Anhang 3: Thesen zum Wahl-O-Mat in Sachsen, die bereits in Kapitel 4.3.1 inhaltlich diskutiert wurden.95

Anhang 4: Kodierplan der Parteipositionen zur Erstellung eines zweidimensionalen Parteiensystems für Thüringen.96

Anhang 5; Thesen zum Wahl-O-Mat in Thüringen, die bereits in Kapitel 4.3.1 und 4.3.2 inhaltlich diskutiert wurden.97

Anhang 6: Kodierplan zur Berechnung der Policy-Distanz-Werte in Brandenburg.99

Anhang 7: Kodierplan zur Berechnung der Policy-Distanz-Werte in Sachsen.100

Anhang 8: Kodierplan zur Berechnung der Policy-Distanz-Werte in Thüringen.101

1. Einleitung

Im Jahr 2019 fanden drei Landtagswahlen in Deutschland statt. Am 1. September haben die Wahlberechtigten in Brandenburg und Sachsen über eine neue Parlamentszusammensetzung entschieden, am 27. Oktober wurde der Thüringer Landtag neu gewählt. Alle drei Landtagswahlen fanden in Ostdeutschland statt und alle drei Landtagswahlen haben beachtenswerte Wahlergebnisse hervorgebracht: In Brandenburg (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2019: 8) musste die CDU den zweiten Platz an die Alternative für Deutschland abgeben, welche ihr Ergebnis von 2014 fast verdoppelt und 23,5 Prozent der Zweitstimmen erhalten hat. Die beiden zuvor stärksten Parteien – die SPD (-5,7 Prozentpunkte) und die CDU (-7,4 Prozentpunkte) – haben starke Verluste zu verzeichnen. Auch in Sachsen (Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen 2019: 17) konnte die AfD den zweiten Platz bei den Zweitstimmen belegen. Dort hat sie ihr Ergebnis von 2014 fast verdreifacht, konnte 27,5 Prozent der Stimmen erlangen und liegt damit mit großem Abstand vor der Linken (10,4 Prozent), den Grünen (8,6 Prozent) und der SPD (7,7 Prozent). Dementsprechend haben erneut CDU und SPD schwere Verluste hinnehmen müssen. Und auch in Thüringen (Thüringer Landesamt für Statistik, Grundsatzfragen und Presse 2019: 1) konnte die AfD den zweiten Platz bei den Zweitstimmen erreichen. Mit 23,4 Prozent (+12,8 Prozentpunkte) der Stimmen liegt sie hinter der Partei Die Linke (31 Prozent) und vor der CDU (21,7 Prozent), die damit auf dem dritten Platz rangiert. Die CDU hat 11,7 Prozentpunkte verloren, die SPD 4,2 Prozentpunkte. In allen drei Ländern ist anhand der Ergebnisse sichtbar, dass die Alternative für Deutschland stark an Wählerstimmen zulegen konnte, während insbesondere die CDU spürbar verloren und auch die SPD ihre in Ostdeutschland ohnehin schwächeren Ergebnisse noch weiter verschlechtert hat. In allen drei Landesparlamenten ist die AfD die zweitstärkste Kraft geworden. Auch aufgrund dessen sind bisherige Konstellationen der Regierungszusammenarbeit unmöglich geworden, denn das Parteiensystem und die Parlamentszusammensetzung haben sich in den jeweiligen Ländern nachhaltig verändert. Die früher üblichen Lagerkoalitionen aus SPD und Grünen oder der CDU und der FDP sind unmöglich, weil man entweder weit von einer parlamentarischen Mehrheit entfernt oder der mögliche Koalitionspartner nicht mal im Parlament vertreten ist. Die früher „Große Koalition“ genannte Zusammenarbeit aus SPD und CDU besitzt in keinem der drei neu gewählten Landtage eine Mehrheit. Dies führt dazu, dass neue Modelle der Zusammenarbeit nötig werden. Neue Koalitionskonstellationen, Dreier-Bündnisse und Minderheitsregierungen müssen bedacht und geprüft werden. Dabei spielt die neue zweitstärkste Kraft, die AfD, in allen Parlamenten eine bedeutende Rolle. Besonders nach der Thüringen-Wahl entstand eine große mediale Diskussion zu den Koalitionsoptionen der CDU. Die Sitzverteilung im Landtag ermöglicht keine mehrheitsfähige Koalition ohne die AfD oder die Linkspartei. Es wurde öffentlich diskutiert, ob die CDU mit einer der beiden Parteien zusammenarbeiten sollte. Mit der Linken einerseits und mit der AfD und der FDP andererseits besäße man eine Mehrheit. Mehrere CDU-Lokalpolitiker in Thüringen haben nach der Wahl ergebnisoffene Gespräche mit der AfD gefordert (Meisner 2019: o.S.). Der CDU-Landesvorsitzende und Spitzenkandidat Mike Mohring wiederholte seine Absage an eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei oder der AfD am Wahlabend nicht, er sprach vielmehr davon, dass ihm stabile Verhältnissen für das Land wichtiger seien als parteipolitische Interessen, bevor er am Tag nach der Wahl auch nach mehreren Statements von der Parteispitze eine Koalition mit den beiden Parteien doch ausschloss (Lehmann 2019: o.S.). Die CDU hat darüber hinaus auf dem Hamburger Parteitag 2018 einen Beschluss gefasst, jegliche Koalition mit einer der beiden Parteien auszuschließen (CDU 2018: 19). Aber die auf den Wahlergebnissen beruhenden Debatten und die Veränderungen und Verschiebungen innerhalb des Parteiensystems zeigen auch, dass neue Wege zur Mehrheitsfindung eingeschlagen werden müssen und dass diese Diskussionen hervorrufen. Insbesondere in der CDU gibt es einzelne Mitglieder, die zumindest ergebnisoffene Gespräche mit der AfD einfordern (Meisner 2019: o.S.), um neue Wege zu Mehrheiten zu finden.

Diese neue Lage und auch die dadurch resultierenden neuen Koalitionsoptionen und Mehrheitskonstellationen erfordern eine politikwissenschaftliche Betrachtung, denn sie sind so ein neues politisches Phänomen für die betroffenen Bundesländer. In dieser Arbeit sollen daher zum einen die inhaltlichen Positionen der in die jeweiligen Landtage eingezogenen Parteien untersucht und das Parteiensystem des jeweiligen Bundeslandes graphisch dargestellt werden. Zum anderen sollen die Koalitionsmöglichkeiten auch darauf aufbauend dargestellt und analysiert werden. Es soll herausgearbeitet werden, welche Parteien die größten inhaltlichen Überschneidungen besitzen, welche Koalitionen die in der Politikwissenschaft gängigen Koalitionstheorien vorhersagen und welche mit Blick auf die Sitzverteilung und die inhaltliche Nähe zwischen den möglichen Koalitionären überhaupt mehrheitsfähig sind. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Alternative für Deutschland und ihrer mögliche Koalitionsfähigkeit mit der CDU. Ihr Aufstieg zur zweitstärksten Partei in den Landesparlamenten macht sie für Mehrheitsbildungen noch relevanter. Eine der Leitfragen dieser Arbeit ist daher auch, ob auf Basis der zu überprüfenden inhaltlichen Nähe zwischen der CDU und der AfD eine Koalition der beiden Parteien die natürliche Konsequenz wäre. Von besonderem Interesse ist darüber hinaus auch die Frage, ob die gängigen Koalitionstheorien nicht genau diese Koalition aufgrund der inhaltlichen Spannweite voraussagen würden.

Konkret werden in dieser Arbeit drei Themenbereiche in Brandenburg, Sachsen und Thüringen untersucht: Erstens werden die Parteiensysteme zum Stand der Landtagswahl graphisch dargestellt. Dies geschieht neben der sozio-ökonomischen Achse anhand der in der Politikwissenschaft noch vergleichsweise neuen Dimension GAL-TAN. Zweitens werden die inhaltlichen Nähen und Differenzen der Parteien zueinander mathematisch ermittelt und dargestellt, bevor drittens überprüft wird, welche Koalitionen auf Basis der politikwissenschaftlichen Koalitionstheorien vorhergesagt werden. Die zentrale Forschungsfrage dieser Arbeit lautet:

Ist die AfD der natürliche Koalitionspartner der CDU zur Landtagswahl 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen?

Um diese Frage zu beantworten, wird in fünf Schritten vorgegangen:

Nach dieser Einleitung folgt die Vorstellung der theoretischen Basis. Dabei wird erstens der aktuelle Forschungsstand der Koalitionstheorien, ihr Ursprung sowie ihre Unterscheidung in Office- und Policy-Seeking dargestellt. Zweitens soll auf Parteiensysteme generell, die Darstellung von Parteien im zweidimensionalen Raum, Cleavages und abschließend der politikwissenschaftliche Richtungswechsel zur neueren Verortung von Parteien entlang der GAL-TAN-Achse erörtert werden, bevor drittens als letzte theoretische Komponente ein kurzer Überblick über bisherige Arbeiten zur Forschung mit Voting-Advice-Applications gegeben wird.

Im dritten Kapitel werden das Forschungsdesign und die Methodik vorgestellt. Dabei werden die bestehenden Verfahren des Duisburger-Wahl-Index zur Darstellung von Parteipositionen im zweidimensionalen Raum und die Berechnung der Issue-Nähen zwischen Parteien vorgestellt. Diese Methoden und Berechnungen basieren auf den Daten des Wahl-O-Mats, weshalb dieses Tool, seine Funktion und seine Datenbasis dargestellt wird.

Im vierten Kapitel findet die Analyse statt. Dabei werden zuerst für die Bundesländer einzeln die im zweiten Kapitel vorgestellten Koalitionstheorien auf Basis des Office- und des Policy-Seekings überprüft und die Parteiensysteme sowie die Positionierungen der Parteien vorgestellt. Bevor diese Analyse stattfinden kann, werden in einem ersten Unterkapitel die jeweiligen Landtagswahlergebnisse skizziert. Die Ergebnisse und Erkenntnisse werden in einem fünften Kapitel und Fazit zusammengetragen.

Die theoretische Basis dieser Arbeit setzt sich somit aus drei Komponenten zusammen: Politikwissenschaftliche Koalitionstheorien sagen auf der Grundlage von Spieltheorien und Gewinnmaximierung bestimmte Koalitionsszenarien voraus. Diese basieren einerseits auf der Parlamentszusammensetzung (Office-Seeking) und andererseits ergänzend auf der inhaltlichen Nähe beziehungsweise auf der inhaltlichen Spannweite der Koalitionspartner (Policy-Seeking). Überprüft werden soll, welche Koalitionen diese Theorien vorhergesagt hätten. Die zweite theoretische Komponente ist die Parteienforschung und insbesondere die Forschung zu Parteiensystemen und die Entwicklung selbiger. Im Zuge dessen wird auch der noch vergleichsweise neue Ansatz der GAL-TAN-Achse vorgestellt. Abschließend wird zum Darlegen des Prinzips von Wahlhilfeapplikationen auch der derzeitige Forschungsstand zu sogenannten Voting-Advice-Applications vorgestellt.

Als Datengrundlage dienen die Angaben der angetretenen und in den jeweiligen Landtag gewählten Parteien bei dem entsprechenden Wahl-O-Mat. Der Wahl-O-Mat hat von allen antretenden Parteien zu 38 Thesen eine Antwort erbeten, ob dieser zugestimmt, sie abgelehnt oder sich neutral verhalten wird. Die Daten sind somit feststehend und einige Wochen vor der Landtagswahl online hochgeladen worden. Sie sind frei im Internet verfügbar.

Anhand dieser Parteipositionierungen und einer Aufteilung der Sachfragen in zwei Achsen – einer sozioökonomischen Achse, die zwischen mehr staatlicher Umverteilung einerseits und andererseits mehr Marktliberalität unterscheidet sowie der kulturellen GAL-TAN-Achse – werden die Parteien durch ein mathematisches Verfahren im zweidimensionalen Raum positioniert. Ebenso werden anhand der Stellungnahmen zu den einzelnen Wahl-O-Mat-Thesen Differenzen zwischen den einzelnen möglichen Koalitionspartnern errechnet.

Der derzeitige Forschungsstand zu den einzelnen Koalitionstheorien und zu Parteiensystemenen generell ist weit fortgeschritten. Insbesondere die GAL-TAN-Achse als Konfliktlinie im Parteiensystem ist jedoch noch nicht oft in praktischen Überprüfungen der Koalitionstheorien angewendet worden, die Kombination mit Wahl-O-Mat-Daten zur Landtagswahl ist gänzlich neu. Allgemein ist es bei dem Forschungsstrang der Koalitionstheorien so, dass die empirische Überprüfung der theoretischen Ausarbeitung stets hinterherhinkt (Müller 2004: 267). Auch zu den aktuellen drei Untersuchungsfällen dieser Arbeit, die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, gibt es derzeit noch keine politikwissenschaftliche Empirie hinsichtlich der Überprüfung von Parteipositionierungen mit anschließender Überprüfung der Koalitionsoptionen. Die vorliegende Arbeit schließt somit eine wissenschaftliche Forschungslücke hinsichtlich der Überprüfung der Koalitionsmöglichkeiten zu den Landtagswahlen 2019 im Osten Deutschlands einerseits und andererseits bei den Positionierungen der Parteien anhand der modernen GAL-TAN-Einordnung.

Die Ergebnisse dieser Arbeit offenbaren ein zweigeteiltes Bild: In Brandenburg ist die CDU wesentlich mittiger positioniert als in Sachsen und Thüringen. Sie steht dort beispielsweise der BVB/FW-Partei näher als der AfD. Dies hat zur Folge, dass dort keine Zusammenarbeit von den zu überprüfenden Theorien erwartet wird. In Sachsen und Thüringen aber kann auf Basis der vorliegenden Theorien und der Daten festgestellt werden: Die CDU müsste aufgrund großer inhaltlicher Nähen mit der AfD koalieren, dort ist die AfD der natürliche programmatische Partner der CDU.

2. Theoretische Einordung

Im zweiten Kapitel werden die grundlegenden Theorien für die vorliegende Arbeit vorgestellt. Dies geschieht in drei Unterkapiteln mit den folgenden Schwerpunkten: Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft, später nochmals aufgeteilt in Office- und Policy-Seeking, Parteien- und Parteiensystemforschung sowie die Darstellung von Parteien im zweidimensionalen Raum mit einer GAL-TAN-Achse und abschließend der derzeitige Forschungsstand zu Voting-Advice-Applications.

2.1 Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft

Koalitionstheorien beschäftigen sich mit der Frage, welche Koalitionsvarianten nach einer Wahl am wahrscheinlichsten gebildet werden (Kropp u. Sturm 1998: 13). Die Theorien basieren dabei dem Namen entsprechend auf der Annahme, dass es zur Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehreren Parteien kommt. In Europa sind Regierungen, die auf Koalitionen basieren, die am häufigsten vorkommende Regierungsform, weshalb die Koalitionsforschung zu den Kernbereichen der vergleichenden Regierungslehre zählt (Kropp 2008: 514; Müller 2004: 267). Zwischen den Jahren 1945 und 1999 waren nach einer internationalen Vergleichsstudie in 17 europäischen Demokratien rund 63 Prozent der Regierungen Mehrheitskoalitionen zwischen Parteien, in Europa dominieren demnach parlamentarische Regierungssysteme, bei denen den Parteien die grundlegende Aufgabe zukommt, zur Regierungsbildung mit anderen Parteien zusammenzuarbeiten (Kropp 2008: 514). Somit hängt die Frage, wer mit wem zusammenarbeitet, grundlegend von der Frage ab, wer im Parlament mit einer eigenen Fraktion vertreten ist. Wenn Parteien zusammenarbeiten, teilen sich die koalierenden Partner einerseits die Macht zur Gestaltung der Exekutive und arbeiten im Wunschszenario (vertrauensvoll) zusammen, aber andererseits müssen sie im Rahmen des politischen Wettbewerbs um Wählerstimmen und dem eigenen Ziel der Stimmenmaximierung auch weiterhin miteinander konkurrieren – diese zweigeteilte Aufgabe kann stets zu Konfliktpotential führen, Sabine Kropp ordnet die Regierungspraxis daher als ein mixed-motive game ein und führt aus, dass Koalitionsregierungen konkurrenz- und konsensdemokratische Elemente miteinander verbinden würden (Kropp 2008: 515).

Innerhalb der Koalitionsforschung lassen sich drei grundlegende Forschungsstränge ausmachen: Analysen zur Koalitionsbildung, Analysen zur Koalitionsstabilität und Analysen zur Regierungspraxis von Koalitionen (Buzogány u. Kropp 2013: 262). In dieser Arbeit wird sich auf die Koalitionsbildung konzentriert.

Die grundlegenden Überlegungen in der Politikwissenschaft gehen dabei auf Riker (1962) und Gamson (1961) zurück. William H. Riker baut seine Gedanken zur Koalitionsbildung in The Theory of Political Coalitions (1962) auf der ökonomischen Spieltheorie von John von Neumann und Oskar Morgenstern (1944) auf. Die wichtigste Annahme, auf der die weiteren Überlegungen beruhen, ist die Tatsache, dass nach Riker die handelnden politischen Akteure im Sinne des ökonomischen Rationalitätskalküls den größtmöglichen Gewinn mit ihren eingesetzten Ressourcen erreichen wollen (Jun 2007: 395 – 398; Buzogány u. Kropp 2013: 262; Debus 2009: 47). Die zweite wichtige Annahme lautet, dass „the sum of what the winners gain be equal to the sum of what the losers lose” (Riker 1962: 39). Politische Koalitionen sind demnach Nullsummenspiele, bei denen die Gewinner alles erhalten und die Verlierer nichts. Bei Riker müssen Koalitionen darüber hinaus stets über eine Mehrheit verfügen (Jun 2007: 396). Basierend auf den zuvor aufgezeigten Annahmen lassen sich die spieltheoretischen Grundsätze wie folgt zusammenfassen: Parteien, die Mehrheitskoalitionen anstreben, wollen den politischen Gewinn unter sich aufteilen, die nicht beteiligten Parteien sollen leer ausgehen. Der Spieleinsatz sind die bei der Wahl errungenen Mandate, die Gewinnsumme ist die Anzahl an Ministerien. Die Anzahl an Ministerien wird unter den koalierenden Parteien aufgeteilt. Besonders bei der Aufstellung der Theorien ging man von dem Grundsatz aus, dass alle Spieler, also Parteien, untereinander koalitionsfähig seien (Kropp u. Sturm 1998: 14). Dabei muss die sogenannte „Gamson-Regel“ beachtet werden, nach der die erzielten Gewinne, also die Ministerien, proportional nach der Größe der eingesetzten Summe, der errungenen Mandate, ausgezahlt werden (Buzogány u. Kropp 2013: 263). Nach Debus (2008: 517) liegen die Erfolge der kleineren Parteien dabei leicht überproportional über ihrem Einsatz. Zu beachten ist, dass unterschiedlichen Ministerien unterschiedliche Relevanz zugeschrieben wird und dass diese Bedeutung auch zwischen den Parteien variiert. Einzelne Ministerien, von denen eine starke Präsenz oder eine hohe Entscheidungsmacht ausgeht, haben per se eine höhere Stellung – darüber hinaus spielen die Themenschwerpunkte der Parteien eine Rolle für die Bewertung des Ministeriums (Buzogány u. Kropp 2013: 263).

Schon die zuvor aufgezeigten Überschneidungen und Ableitungen aus der ökonomischen Spieltheorien legen dar, dass das Forschungsfeld der Koalitionstheorien interdisziplinär erforscht wurde und auch erforscht wird (Müller 2004: 267). Viele Publikationen erschienen demnach in fächerübergreifenden Magazinen und Zeitschriften, insbesondere in jenen mit spieltheoretischen Schwerpunkten – aufgrund des eindeutigen Schwerpunktes auf Regierungskoalitionen mit Parteien im politischen System ist die wissenschaftliche Heimat die Politikwissenschaft (Müller 2004: 267). Die Theorie ist dabei der Empirie oft weit voraus, dennoch ist die Forschungsdichte vergleichsweise hoch (Müller 2004: 267; Kropp 2008: 516). Warum dies so ist, kann man auch anhand der vorliegenden Fälle ableiten: Allein in Deutschland gibt es 16 Bundesländer, die jeweils mindestens alle fünf Jahre neue Landesparlamente wählen. Auf der Bundesebene findet mindestens alle vier Jahre die Wahl des Bundestages statt. Somit gibt es regelmäßig und in vergleichsweise kurzen Abständen immer neue wissenschaftliche Phänomene, an denen es die Koalitionstheorien zu überprüfen gilt. Dabei ist es wichtig, auch zu beachten, dass man für manche Theorienüberprüfung Daten benötigt, an die man entweder schwieriger gelangt oder die in ihrer Auswertung sehr zeitintensiv sind – auch dies kann Forschungen hemmen (Müller 2004: 268).

Auf Basis der zuvor vorgestellten inhaltlichen Überlegungen zur spieltheoretischen Anlage der Koalitionstheorien bildeten sich weitere ausdifferenziere Theorien mithilfe der abnehmenden Abstraktion (Buzogány u. Kropp 2013: 261). Demnach wurden anfangs simplere und vereinfachtere Modelle im Laufe der Zeit ausführlicher und komplexer. Drei große Theorieschwerpunkte haben sich dabei hervorgetan: Office-Seeking, Policy-Seeking und im wesentlich kleineren Maße auch das Vote-Seeking.

2.1.1 Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft: Office-Seeking

Die ersten politikwissenschaftlichen Ansätze zur Vorhersage von Koalitionen waren „policy blind“ (Laver u. Schofield 1990: 91) und basierten auf dem sogenannten „Größentheorem“ (Kropp 2008: 517). Die Zugänge haben sich demnach nicht mit den Inhalten der Parteien befasst, sondern mit numerischen Zusammensetzungen des Parlaments. Parteien streben danach, in Regierungsverantwortung zu gelangen und Ämter zu besetzen. Im Folgenden sollen zwei Office-Seeking-Theorien vorgestellt werden: Minimal-Winning-Koalitionen und Minimum-Winning-Koalitionen. Der Begriff „winning“ impliziert dabei immer, dass die Koalitionen über eine Mehrheit im Parlament verfügen.

In The Theory of Political Coalitions hat William H. Riker (1962) aufbauend auf den spieltheoretischen Überlegungen die erste grundlegende Koalitionstheorie verfasst. Minimal-Winning-Koalitionen sind jene Partnerschaften, die

1. über eine Mehrheit im Parlament verfügen und
2. alle Partner benötigen, um eine Mehrheit zu behalten (Riker 1962: 40; Jun 1994: 37; Kropp u. Sturm 1998: 16 u. 17; Laver u. Schofield 1990: 92; Müller 2004: 269; Kropp 2008: 517).

Fällt einer der Koalitionspartner weg, wäre diese Koalition nicht mehr winning.

Tabelle 1 zeigt eine mögliche Parlamentszusammensetzung. Die Fraktionen A und E besitzen jeweils 5 Mandate, B und C haben je 20 und D 10 Sitze im Parlament erlangt. Das Parlament umfasst folgerichtig 60 Abgeordnete, die absolute Mehrheit liegt bei 31 Mandaten. Die Koalition B-C käme auf 40 Mandate und hätte somit eine Mehrheit, A-B-D käme exemplarisch auf 35 Sitze und hätte ebenso eine Mehrheit. Weder bei B-C noch bei A-B-D dürfte einer der Koalitionspartner wegfallen, da ansonsten keine Mehrheit mehr im Parlament bestünde. Die Koalition A-B-C besäße zwar auch eine Mehrheit (45), würde sie aber auch besitzen, wenn die Fraktion A wegfallen würde (B-C: 40). Die Koalitionen B-C und A-B-D wären somit Minimal-Winning-Koalitionen. Eine der größten Schwachstellen der Minimal-Winning-Koalitionen ist die theoretisch mögliche Anzahl, diese Theorie sagt vergleichsweise viele mögliche Koalitionsoptionen voraus, was ihre Vorhersagekraft mindert (Laver u. Schofield 1990: 93 – 94; Müller 2004: 269).

Tabelle1: Fiktive Darstellung einer Parlamentszusammensetzung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle Tabelle1: Eigene Darstellung.

Unter Berücksichtigung der zuvor aufgezeigten spieltheoretischen Annahmen gingen Riker (1962) und Gamson (1961) deshalb davon aus, dass Parteien den größtmöglichen Gewinn für sich dann erzielen, wenn die Gewinnsumme mit dem niedrigsten Einsatz erreicht wird – bei einer möglichst niedrigen Mandatszahl über der erforderlichen Mehrheit (Laver u. Schofield 1990: 94). Jun beschrieb diese Annahme so, dass „die gewinnende Koalition so klein wie möglich sein sollte, um den verbleibenden Gewinn der von den Akteuren eingebrachten Ressourcen unter möglichst wenigen Akteuren aufzuteilen“ (Jun 1994: 38). Dies führt zu der zweiten relevanten Theorie:

Die sogenannte Minimum-Winning-Koalition ist jene, die

1. eine Mehrheit besitzt und
2. dabei die geringste mögliche mehrheitsfähige Anzahl an Parlamentssitzen hält (Laver u. Schofield 1990: 94; Kropp 2008: 517; Müller 2004: 269 u. 270; Jun 1994: 38).

In einem fiktiven Parlament mit 100 Sitzen ist die Minimum-Winning-Koalition jene Zusammenarbeit, die auf nicht weniger als 51 Sitze und dieser Marke am nächsten kommt (Müller 2004: 270). Diese Theorie sagt deutlich weniger mögliche Koalitionen voraus, weil sie in der Regel – außer mehrere Fraktionen erhalten zufällig die gleiche Mandatsanzahl – nur noch eine Koalitionsoption vorhersagt, die Kleinste gemessen an der Sitzanzahl. Dies lässt sich auch anhand der fiktiven Parlamentszusammenstellung in Tabelle 1 demonstrieren: Gesucht wird jene Koalition, die so nah wie möglich an 31 Sitze heranreicht und dabei eine Mehrheit hält. Die Koalition B-C wird nun nicht mehr vorhergesagt, da sie mit 40 Mandaten zu groß ist. A-B-D ist eine Minimum-Winning-Koalition mit 35 Sitzen. In diesem Beispiel gibt es aber noch eine weitere Koalition, die auf 35 Sitze kommt: B-D-E. Auch diese Koalition wäre eine Minimum-Winning-Koalition. Da diese Theorie wesentlich präzisere und somit bessere Ergebnisse liefert, wird sie zur Überprüfung der Koalitionsoptionen verwendet (Müller 2004: 270). Da dieses Modell immer auf den Minimal-Winning-Koalitionen aufbaut, werden auch diese möglichen Bündnisse aufgezeigt.

Auch Leiserson (1968) kommt zu dem Schluss, dass Parteien nach spieltheoretischen Annahmen handeln, sagt aber auch aufgrund der Aufteilung der Gewinne Minimal-Winning-Koalitionen voraus. Er geht davon aus, dass mehr Parteien schlichtweg zu einer komplizierteren Regierungsbildung führen würden (Jun 1994: 38; Debus 2009: 47). Die Transaktionskosten für die Parteien steigen demnach, wenn sie mit mehreren Parteien einen Koalitionsvertrag vereinbaren müssen (Müller 2004: 270). Mehr Akteure führen zu komplexeren Koalitionsgesprächen einerseits, andererseits muss auch auf mehr Positionen und Befindlichkeiten während des Regierens eingegangen werden und desto geringer sind selbstredend auch die Gewinne, welche die einzelnen Parteien erhalten (Leiserson 1968: 775). Seine Theorie basiert auf der Annahme, dass das Kuchenstück für jeden kleiner wird, desto mehr Akteure etwas vom Kuchen abhaben wollen – bei gleichbleibender Größe des Kuchens. Festzuhalten ist jedoch, dass dies nicht immer der politischen Realität entspricht. So entscheidet jede Regierung selbst über die Gewinnsumme, also die Anzahl an Ministerien. Insbesondere die Anzahl an parlamentarischen Staatssekretären wuchs in den letzten Jahren immer weiter an, derzeit gibt es in der Koalition aus Union und SPD auf Bundesebene 35, so viele wie noch nie (Funk 2018: o.S.). Darüber hinaus gibt es drei grundlegende Schwachstellen der Office-Seeking-Theorien, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen (Müller 2004: 271; Kropp 2008: 517):

- Alle „Winning-Theorien“ gehen von Mehrheitskonstellationen aus, sind demnach blind für Minderheitsregierungen.
- Auch die andere Seite der Medaille, surplus coalitions, also Koalitionen, die mehr Parteien enthalten, als aufgrund der gegebenen Mehrheitsverhältnisse notwendig wären, können nicht erfasst werden. Diese Koalitionen sind nicht minimal.
- Koalitionen, welche „zu viele“ Sitze im Parlament besitzen und nicht die schlankeste Regierungsmehrheit stellen, werden ebenso durch diese Theorien nicht erklärt. Diese Mehrheitsoptionen sind nicht minimum.

Darüber hinaus gibt es weitere externe Faktoren und Beeinflussungen, die von den Theorien nicht erfasst werden. Ein Beispiel sind etwa sogenannte Anti-System-Parteien: Solche Parteien werden aufgrund ihrer Programmatik oder ihres Charakters aus dem Kreis der koalitionsfähigen Parteien ausgeschlossen (Müller 2004: 272; Budge/Herman 1978). Diese Parteien stehen somit für rechnerisch mögliche Koalitionen nicht zur Verfügung. Wann eine Partei eine Anti-System-Partei ist, ist nicht immer trennscharf zu beurteilen. Einerseits ist es möglich, dass Parteien über Jahre hinweg von den anderen Parteien als Koalitionspartner nicht wahrgenommen oder sogar schlicht ignoriert werden, und dadurch zu einer Anti-System-Partei wurden, andererseits ist es möglich, dass andere Parteien eine Partei in ihrer Kommunikation bewusst so klassifizieren und dadurch einen Ausschluss rechtfertigen (Müller 2004: 272). Ein weiteres Beispiel sind Mehrheiten mit bewusstem Sicherheitspolster. Parteien können sehr knappe Parlamentsmehrheiten vermeiden wollen, um Niederlagen durch eine parlamentarische Minderheit durch Überläufer oder Abgeordnete, die sich in einer Sachfrage anders entscheiden, zu vermeiden (Müller 2004: 271). In gewissen Konstellationen können auch Koalitionen gebildet werden, die absichtlich mehr Parteien beinhalten, als man für eine Mehrheit bräuchte, um wackelige Partner, bei denen man ahnt, dass sie zeitnah abspringen könnten, ohne große Neubildungsprozesse kompensieren zu können (Müller 2004: 271).

2.1.2 Koalitionstheorien in der Politikwissenschaft: Policy-Seeking

Die größte Schwachstelle der Office-Seeking-Theorien ist aber, dass sie lediglich davon ausgehen, dass Parteien nach Ämtern streben. Parteien regieren aber auch, um in der Exekutive Inhalte durchzusetzen und das Land nach ihren Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Dieser Wunsch, auch Inhalte durchzusetzen, wird als Policy-Seeking-Ansatz beschrieben, der auf den bisher rein numerisch gedachten Theorien basiert. Die grundlegenden Autoren für diesen Ansatz sind De Swaan (1973) und Axelrod (1970), welche die Office-Seeking-Theorien wegen ihrer Blindheit für Inhalte kritisierten (Jun 1994: 38). Innerhalb dieses Ansatzes gibt es unterschiedliche Theorierichtungen, die unterschiedliche Befürworter haben und im Folgenden vorgestellt werden. Generell lässt sich festhalten, dass nach De Swaan (1973) inhaltliche Koalitionstheorien aus einer Kombination der folgenden Bedingungen bestehen (Müller 2004: 274):

- Die Koalition besitzt die absolute Mehrheit.
- Es gibt innerhalb der Koalition keine Partei, die für die Mehrheitsbildung nicht notwendig wäre.
- Es wird eine minimale Mehrheit angestrebt.
- Die Koalition besteht aus Parteien, die auf einer Politikskala benachbart sind.
- Die ideologische Distanz zwischen den Parteien ist möglichst gering.

Anhand dieser Grundpfeiler kann man die Zugehörigkeit zu den zuvor vorgestellten Office-Seeking-Ansätzen erkennen, die nun um eine inhaltliche Dimension erweitert werden. Dabei wird im Folgenden sichtbar werden, dass sich die Koalitionstheorien – auch hier lässt sich wieder das Merkmal der abnehmenden Abstraktion ausfindig machen – dahingehend in ihrer Komplexität gesteigert haben, dass sie anfänglich von einer eindimensionalen politischen Skala ausgegangen sind und später auch mehrdimensionale und metrische Messmethoden berücksichtigt haben.

Michael Leiserson (1966) hat die erste inhaltlich motivierte Koalitionstheorie vorgelegt: Die Minimal-Range-Theorie beschränkt sich auf die ordinale Anordnung von Parteien auf einer Dimension (Müller 2004: 274). Diese Theorie sagt Koalitionen voraus, welche

1. die Mehrheit besitzt,
2. keine Partei beinhaltet, die zur Erreichung der Mehrheit nicht notwendig ist und
3. deren inhaltlichen Positionierungen die Bandbreite der Koalition vergrößert (Müller 2004: 274).

Für diese Arbeit von besonderer Bedeutung sind die beiden darauf aufbauenden Minimal-Range-Theorien von De Swaan (1973), welche sich lediglich in ihrem Skalenniveau unterscheiden. Entsprechend ihres Namens geht die Ordinal-Minimal-Range-Theorie von einer ordinalen Skala aus, die Interval-Minimal-Range-Theorie ist an eine metrische Skala angelehnt. Die Ordinal-Minimal-Range-Theorie sagt jene Koalition voraus, die

1. die Mehrheit besitzt,
2. deren ideologische Bandbreite (der Abstand zwischen den beiden am weitesten auseinanderliegenden Koalitionspartnern) nicht größer ist als die Bandbreite einer anderen mehrheitsfähigen Koalition und
3. die keine Parteien hinzunimmt, die für das Erreichen der Mehrheit nicht notwendig sind, auch wenn dadurch die inhaltliche Spannweite nicht vergrößert wird (Müller 2004: 274; Kropp 2008: 517 u. 518; Buzogány u. Kropp 2013: 263).

Diese Theorie hat eine vergleichsweise gute Performanz, bei entsprechenden Tests von Koalitionstheorien hat sie stets den zweiten Platz belegt (Müller 2004: 274). Für die Interval-Minimal-Range gelten die oben genannten drei Kriterien ebenso, die inhaltliche Spannweite wird nun aber metrisch gemessen. Somit sind die Parteien und Koalitionen nicht mehr nur in ihren Distanzen in bestimmten Kategorien sortiert (ordinal), sondern es können auch die entsprechenden Abstände numerisch bestimmt werden (metrisch), was beispielsweise Aussagen darüber erlaubt, dass die Koalition A-C eine doppelt so große inhaltliche Bandbreite wie die Koalition C-E besitzt (zu den unterschiedlichen Skalenniveaus: Behnke et al. 2010: 103 – 105). Die metrische Variante der beiden Theorien schneidet bei Tests zwar etwas schlechter ab, dafür prognostiziert sie aber einen engeren Kreis an möglichen Koalitionen, weshalb sie präzisere Vorhersagen trifft (Müller 2004: 275). Der Kerngedanke dieser Theorien nach De Swaan ist demnach die inhaltliche Spannweite zwischen den Koalitionspartnern, die so klein wie möglich sein sollte. Oder positiv formuliert: Je näher sich die Parteien inhaltlich stehen, desto eher bilden sie eine Koalition.

Auch Robert Axelrod (1970) geht davon aus, dass geringe inhaltliche und ideologische Grundsätze zwischen Parteien die Bildung einer Koalition erleichtern (Müller 2004: 275). Die auf Axelrod zurückgehende „Minimal-Connected-Winning-Koalition“ ist jene, die

1. eine Mehrheit besitzt,
2. die auf der wichtigsten oder der einzigen Politikdimension benachbarte Parteien beinhaltet und
3. keinen größeren Policy-Bereich hat als jede andere verbundene Mehrheitskoalition (Müller 2004: 275; Buzogány u. Kropp 2013: 264; Debus 2009: 47).

Diese Theorie ist jene, die in bisherigen Tests die größte Prognosekraft besaß (Kropp u. Sturm 1998: 37). Daher werden in dieser Arbeit die Interval-Minimal-Range und die Minimal-Connected-Winning-Theorie getestet, da ihnen die beste Leistungsfähigkeit bescheinigt wird.

Der letzte zu erwähnende Ansatz ist jener der „Policy-Distance-Theorien“ (Müller 2004: 276): Alle bisher vorgestellten Theorien betrachten die inhaltlichen Differenzen innerhalb der möglichen Koalitionen zwischen den Parteien. Der Grundsatz dabei ist stets: Je niedriger die ideologische Spannweite ist, desto leichter ist es für die Parteien, eine Koalition zu bilden. De Swaan geht in einer weiteren Theorie davon aus, dass die Parteien zuerst auf sich selbst schauen und jene Koalition bilden wollen, mit denen sie die größtmöglichen Überschneidungen besitzen und mit denen sie daher vermutlich am meisten gemeinsame Vorhaben in der Regierungszeit umsetzen können. Die einzelnen Parteien sind nach De Swaan daher daran interessiert, innerhalb der zu bildenden Koalition eine Position der Mittelpartei einzunehmen (De Swaan 1985: 245 – 248; Jun 1994: 39). Jeder einzelne Koalitionspartner strebt diese Position an, um in der Mitte des Spektrums am meisten politisches Durchsetzungsvermögen zu besitzen (Jun 1994: 39). Diese Annahmen bezeichnet Müller jedoch mit Verweis auf die Tests von Budge und Laver (1993) als „unrealistisch“ (Müller 2004: 276).

Darüber hinaus gibt es innerhalb der Koalitionsforschung noch weitere Ansätze, die anstelle von Inhalten und Parlamentszusammensetzungen beispielsweise auf die Interessen der Mitgliedschaft der Parteien eingehen, die aber für die Beantwortung der zugrundeliegenden Forschungsfrage keine Relevanz besitzen.

Auch die Policy-Seeking-Theorien sollen im Folgenden kurz anhand eines fiktiven Parlaments besprochen werden, Tabelle 2 stellt dieses dar. Bei den Parteien stehen nun ergänzend zu der Sitzanzahl auch Policy-Positionen. Die eindimensionale metrische Skala reicht dabei fiktiv von 0 (links) bis 100 (rechts). In der rechten Spalte steht nun neben der Sitzzahl der Koalition auch die policy range, also die inhaltliche Spannweite der Koalition, die sich aus der Subtraktion der jeweiligen Policy-Angaben ergibt.

Tabelle2: Fiktives Parlament mit Policy-Positionen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle Tabelle2: Eigene Darstellung.

De Swaans Interval-Minimal-Range-Vorhersage konzentriert sich besonders auf die inhaltliche Nähe zwischen den Parteien. Er geht davon aus, dass sich jene mehrheitsfähige Koalition bildet, die keine für die Mehrheit überflüssige Partei hinzunimmt und deren ideologische Bandbreite unter allen mehrheitsfähigen Koalitionen am geringsten ist. In dem fiktiven Parlament in Tabelle 2 wäre dies die Koalition B-C: Keine der Parteien ist für die Mehrheit überflüssig, die policy range ist mit dem Betrag fünf am geringsten.

Axelrods Minimal-Connected-Winning-Vorhersage hat neben der inhaltlichen Nähe ein besonderes Augenmerk darauf, dass die Parteien auf einer Politikdimension verbunden sind. Sie sagt jene mehrheitsfähige Koalition voraus, die verbunden und deren Policy-Bereich kleiner ist als der jeder anderen verbundenen Mehrheitskoalition. In dem abgebildeten Parlament gibt es drei Koalitionen, die verbunden sind: B-C, A-B-C und C-D-E. A-B-D ist nicht verbunden und fällt somit raus, die Partei C befindet sich zwischen B und D. Auch die Minimal-Connected-Winning-Theorie würde von der Bildung der Koalition B-C ausgehen, da sie verbunden ist und ihre ideologische Bandbreite am geringsten ist.

An der formalisierten Koalitionstheorie gibt es einige Kritikpunkte, die Jun (1994) zusammengefasst hat. Er gliedert seine Kritikpunkte anhand der Koalitionsgewinne, Koalitionsaussagen, Koalitionsfähigkeit, Koalitionsgröße und die Rationalität dieser Entscheidungen.

Hinsichtlich der Koalitionsgewinne kritisiert Jun, dass die Koalitionsgewinne in der Realität nicht den Einsätzen entsprechend aufgeteilt werden und dass die Theorien dabei von ihrer Vorhersage abweichen, weil beispielsweise Parteien in Koalitionen aufgenommen werden, die dann bei der Ämterverteilung aber an ihrem Einsatz gemessen wenig Gewinn erzielen (Jun 1994: 44). Kleinere Parteien erzielen demnach ihren Gewinn gerade dann, wenn sie ein Erpressungspotential besitzen und nicht nur mit einem Partner koalitionsfähig wären – dies berücksichtigen die Theorien jedoch nicht (Jun 1994: 44). Zudem merkt Jun an, dass das Nullsummenspiel dann nicht mehr greift, wenn man, wie es in vielen politischen Systemen der Fall ist, auch aus der Opposition heraus Gestaltungsmacht ausüben kann (Jun 1994: 45).

Ebenso sind die Theorien blind für Koalitionsaussagen, welche die Parteien vor den Wahlen getroffen haben und somit möglicherweise die Koalitionen mit bestimmten Parteien von vornherein ausgeschlossen haben (Jun 1994: 46).

Ähnlich wird hinsichtlich der Koalitionsfähigkeit von Parteien argumentiert, dass alle Parteien miteinander koalitionsfähig seien. Dies ist aber nicht der Fall, es ist sogar üblich, dass Parteien Koalitionen mit anderen Parteien aufgrund ihres Anti-System-Charakters ausschließen (Jun 1994: 48).

Ebenso gehen auch die Policy-Seeking-Theorien von Mehrheitskoalitionen aus, die winning sind. Minderheitsregierungen bleiben somit unberücksichtigt (Jun 1994: 51).

Der letzte Kritikpunkt zielt stärker auf das Wesen von Parteien ab. Die Theorien gehen von rational handelnden Parteien als einheitliche Akteure aus, die politische Macht ausüben wollen. Möglich ist es aber auch, dass Parteiführungen bewusst auf eine Regierungsbeteiligung verzichten, etwa um Strömungen in den Parteien oder in den Parlamentsfraktionen zu berücksichtigen. Ebenso kann sie eine negative Wahrnehmung durch die Wählerinnen und Wähler vermuten (Jun 1994: 62).

Zusammenfassend gilt es festzuhalten, dass die vorgestellten Koalitionstheorien davon ausgehen, dass Parteien in Ämter gelangen wollen und dass sie dort ihre Inhalte in der Regierungszeit umsetzen wollen. Neben der parlamentarischen Zusammensetzung ist die inhaltliche Nähe zwischen den Parteien entscheidend. Grundsätzlich gilt, dass Parteien Koalitionen so schmal wie möglich hinsichtlich der Sitzanzahl halten wollen und dass sie wahrscheinlicher mit einer Partei koalieren, die ihnen programmatisch nähersteht. Im Laufe dieser Arbeit werden die Miminal- und die Minimum-Winning-Koalitionen ebenso wie die Interval-Minimal-Range- und die Minimal-Connected-Winning-Koalitionen für Brandenburg, Sachsen und Thüringen herausgearbeitet.

2.2 Zweidimensionale Parteiensysteme und GAL-TAN

Im zweiten Unterkapitel werden einerseits Parteiensysteme generell vorgestellt, um darauf aufbauend anschließend die Entwicklung und den Forschungsstand zu zweidimensionalen Parteiensystemen aufzuzeigen, bevor abschließend das neuartige Achsensystem GAL-TAN vorgestellt wird.

2.2.1 Parteiensysteme

Eine Annäherung an den Begriff des Parteiensystems kann anhand der vorherrschenden Grundlagen-Literatur und durch eine Annäherung an den Begriff der Partei erfolgen: „Politische Parteien erfüllen vorrangig die Aufgabe, die Interessen der Bevölkerung nachhaltig in den parlamentarischen Raum zu übertragen, der für politische Entscheidungen zuständig ist“ (Bernauer et al. 2009: 245). Parteien sind somit beauftragt, als Bindeglied und Interessensaggregat zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und dem politischen Raum zu wirken. Parteien nehmen zu relevanten Sachfragen Stellung, nehmen Einfluss auf die politische Gestaltung (Policy-Seeking) und streben politische Ämter an (Office-Seeking) – dies wird durch die Teilnahme an Wahlen ermöglicht (Vote-Seeking) (Bernauer et al. 2009: 247). Parteien besitzen im demokratischen System mehrere grundlegende Funktionen (Bernauer et al. 2009: 248 u. 249; Korte u. Fröhlich 2009: 140; Hofmann et al. 2010: 140): Sie dienen als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Staat und aggregieren und artikulieren ihre Interessen. Darüber hinaus besitzen sie eine Personalrekrutierungsfunktion, sie wählen demnach Personal für parlamentarische und staatliche Ämter aus, was sie beispielsweise bei Reservelistenaufstellungen für Parlamente tun. Parteien haben eine Programmfunktion und müssen dadurch verschiedene Interessen in einem Programm vereinen. Im Parlament getroffene Entscheidungen müssen Parteien anschließend auch in der Gesellschaft legitimeren und integrieren, woraus sich auch eine Partizipationsfunktion ergibt, welche besagt, dass Parteien Kommunikation und Informationsflüsse zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und dem Staat sicherstellen müssen.

Parteien sammeln sich in Parteiensystemen. Die Anzahl und die Größe an Parteien ist dabei maßgeblich für die Klassifizierung des Parteiensystems entscheidend. Grundsätzlich werden Parteiensysteme in Ein-, Zwei- und Vielparteiensysteme unterteilt (Korte u. Fröhlich 2009: 141). Die Vielparteiensysteme werden noch einmal in begrenzt pluralistische und in extrem-pluralistische Systeme gegliedert (Korte u. Fröhlich 2009: 142; Bernauer et al. 2009: 266 – 268).

Zur graphischen Darstellung von inhaltlichen Positionen von Parteien in einem zweidimensionalen Raum muss besonders der inhaltliche Aufbau eines Parteiensystems dargestellt werden. Zentral für die inhaltliche Orientierung sind cleavages, ein „dauerhafte[r] Konflikt, der in der Sozialstruktur verankert ist“ (Pappi 1977: 195) und im Parteiensystem seinen Ausdruck gefunden hat. Anhand dieser Cleavages, die auf Lipset und Rokkan (1967) zurück gehen, sollen die inhaltlichen Ausprägungen von Parteien im Parteiensystem erklärt werden (Bernauer et al. 2009: 269). Historisch sind diese Konfliktlinien schlichtweg Streitpunkte eines (sozialen) Kriteriums in der Gesellschaft, an denen die Bevölkerung in mindestens zwei unterschiedliche Ansichten gespalten wurde (Bernauer et al. 2009: 269). Politisch und besonders für die Bildung von Parteien sind diese Linien daher wichtig, weil Parteien, in Erfüllung ihrer oben aufgeführten Funktionen und Aufgaben, diese Konflikte in der Bevölkerung wahrnehmen und versuchen, sich entlang dieser Konfliktlinien zu organisieren und die Meinungen und Positionen einer der gespaltenen Gruppen zusammenzufassen und in die politische Arena zu tragen (Bernauer et al. 2009: 269). Rokkan und Lipset haben vier Konfliktlinien in der Gesellschaft ausgemacht, anhand derer sich in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Parteiensysteme herausgebildet haben (Niedermayer 2013: 89 u. 90):

1. Der Klassenkonflikt zwischen Kapitaleignern und abhängig Beschäftigten, der in der Literatur auch immer wieder als Konflikt zwischen Kapital und Arbeit beschrieben wird (Bernauer et al. 2009: 271).
2. Der Konflikt zwischen der Stadt und dem Land, der insbesondere durch die unterschiedlichen Interessen zwischen städtischem Bürgertum und den Interessen für Industrie, Handel und Gewerbe einerseits und den Agrarinteressen der ländlichen Regionen charakterisiert wurde.
3. Der Konflikt zwischen Kirche und Staat, der sich aus den unterschiedlichen Interessen und Vorrechten der Kirche gegenüber dem Machtanspruch des Nationalstaates ergab und dadurch auch besonders durch die Frage, wie stark die beiden Institutionen, Kirche und Staat, voneinander getrennt werden sollten.
4. Der Zentrum-Peripherie-Konflikt, als Konflikt zwischen „zentralstaatlichen Eliten und den Vertretern ethnischer, sprachlicher oder religiöser Minderheiten“ (Niedermayer 2013: 90) und dem Konflikt zwischen Protestantismus und Katholizismus (Bernauer et al. 2009: 271).

Anhand dieser vier cleavages lassen sich zwei kulturelle und zwei wirtschaftliche Konflikte erkennen: Bei den Konfliktlinien zwischen Kirche und Staat sowie Zentrum und Peripherie geht es insbesondere um die politische Modernisierung und kulturelle Konflikte, während die Konfliktlinien zwischen Stadt und Land sowie Arbeitgebern und Arbeitnehmern materielle Konflikte sind, die sich besonders mit der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung beschäftigen (Bernauer et al. 2009: 271). Die unterschiedlichen Konflikte führen nach Lipset und Rokkan auch zur Bildung unterschiedlicher Parteien. Entlang des Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital entstanden beispielsweise Arbeiterbewegungen. Da diese Konflikte Ressourcen verbrauchen, werden Vertreter für die jeweiligen Interessen benannt, die sich dann in Verbänden und Parteien institutionalisieren (Bernauer et al. 2009: 270).

Wie Parteien nun in der Gegenwart in Parteisystemen dargestellt werden, hat sich im Laufe der Zeit verändert. Während zu Beginn noch auf eine eindimensionale Achse zwischen links und rechts zurückgegriffen wurde, ging man später zu einem zweidimensionalen Modell über (Jun 2017: 89 u. 90). Die Analyse erfolgt dabei grundlegend auf den zuvor von Rokkan und Lipset vorgestellten Konfliktlinien und den angesprochenen Grundkonflikten kultureller und materieller Natur. Nach Jun sind die unterschiedlichen Konflikte zu Konfliktdimensionen verdichtet worden, wobei sich die sozio-ökonomische und die sozio-kulturelle Achse gebildet haben (Jun 2017: 90). Die sozio-ökonomische Achse bildet alle inhaltlichen Streitfragen zwischen Marktliberalismus und Staatsinterventionismus ab, während sich die sozio-kulturelle Achse auf den Gegensatz zwischen autoritären und libertären Werten konzentriert (Jun 2017: 90). Niedermay-er ist der gleichen Auffassung, er geht davon aus, dass „seit Ende der Siebzigerjahre die dominierende sozio-ökonomische Konfliktlinie um eine quer dazu verlaufende, sozio-kulturelle Konfliktlinie zwischen libertären und autoritären Wertesystemen ergänzt wurde und die Konfliktstruktur daher mindestens zweidimensional ist“ (Niedermayer 2013: 94). Damit wurde die ehemalige Betrachtung einer eindimensionalen Links-Rechts-Achse um eine weitere Achse ergänzt, die auch kulturelle Wertekonflikte in der Gesellschaft berücksichtigt. Abbildung 1 zeigt diese Darstellung eines zweidimensionalen Parteiensystems.

[...]

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Die AfD als natürlicher Koalitionspartner der CDU? Vergleich der Parteiensysteme, inhaltlichen Positionierungen und Koalitionsoptionen der Parteien
Untertitel
Die Landtagswahlen 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
94
Katalognummer
V593745
ISBN (eBook)
9783346268334
ISBN (Buch)
9783346316943
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Parteienforschung, Landtagswahl, AfD, CDU, Koalitionsforschung, Wahl-O-Mat
Arbeit zitieren
Max Möller (Autor:in), 2020, Die AfD als natürlicher Koalitionspartner der CDU? Vergleich der Parteiensysteme, inhaltlichen Positionierungen und Koalitionsoptionen der Parteien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/593745

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