Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Über die Grundparadoxie der neuzeitlichen Pädagogik
3. Fallanalyse
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Bildung als Absicht, ein … Gegenüber auf dem Weg zu sich selbst zu unterstützen, ist paradox“ (Ilien 2008, S.38)
Dieser von Albert Ilien erfasste Widerspruch im pädagogischen Handeln wurde erstmals von Immanuel Kant beschrieben, der damit den Beginn der Neuzeit markiert. Seitdem steht die Pädagogik vor der Frage, wie und ob es gelingen kann, ein Kind zum mündigen Staatsbürger auszubilden. Ist es möglich, ein Kind in die Selbstbestimmtheit zu führen und gelingt Erziehung ohne Zwang?
Im Folgenden werde ich zunächst die Paradoxie der neuzeitlichen Bildungsidee anhand der Auslegungen von Kant, Ilien und Ricken beschreiben. Zur näheren Untersuchung, wie das oben beschriebene Problem in der Praxis tatsächlich zum Ausdruck kommt, folgt darauf eine Sequenzanalyse eines Protokolls aus dem schulischen Alltag eines professionellen Pädagogen. Die Analyse wird den Prinzipien der objektiven Hermeneutik folgen, um möglichst viele Bedeutungsebenen der Äußerungen zu erfassen. Zur besseren Lesbarkeit wird auf Paarformulierungen verzichtet, es ist jedoch stets sowohl die männliche als auch die weibliche Form gemeint.
Das Ziel der Hausarbeit ist es, die Grundparadoxie der Pädagogik zu verstehen und zu ermitteln, ob sich diese in der Praxis vielleicht doch auflösen lässt.
2. Über die Grundparadoxie der neuzeitlichen Pädagogik
Grundlage der Paradoxie von Pädagogik ist die Anerkennung der Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbestimmung des Kindes, zu der es durch Erziehung und Bildung angeleitet werden muss.
Dieses Verständnis der Aufgabe von Pädagogik mit dem Ziel einer mündigen Gesellschaft wird erstmals von Immanuel Kant in seinen Ausführungen zu Pädagogik aufgegriffen. Kant beschreibt den Menschen zum einen als ein ursprünglich „rohes“ und „wildes“ Wesen mit einem „Hang zur Freyheit“ (Rink 1803, S.2), das ˗ im Gegensatz zu den instinktgetriebenen Tieren ˗ erziehungsbedürftig ist (vgl. ebd.). Zum anderen sind nach Kant aber auch „Keime zum Guten“ (ebd. S.5) in jedem Menschen angelegt, die jedoch erst hervorgebracht werden müssen.
Aufgabe des Erziehers ist demnach an erster Stelle (nach der Wartung, also Versorgung des Säuglings) die „Bezähmung der Wildheit“ (ebd. S.6) als negativer Teil: Die naturhafte Freiheit des Kindes muss eingeschränkt werden, was Kant unter den Begriffen „Disciplinierung“ und „Zucht“ versteht (vgl. ebd. S.2). Darauf folgt die „Kultivierung“ als positiver Teil der Erziehung, die Kant anhand von drei Unterpunkten differenziert: Am Anfang steht die „Belehrung“ und „Unterweisung“, anschließend muss der Zögling „civilisiert“ werden und als letzten Schritt folgt die „Moralisierung“. Die ideale Erziehung nach Kant bringt einen mündigen Bürger hervor, der die Fähigkeit besitzt, sich selbstständig moralisch gut zu entscheiden (vgl. ebd. S.6).
Gleichzeitig erkennt Kant aber auch das Problem der Pädagogik an:
„Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freyheit zu bedienen, vereinigen könne. (…) Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freyheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freyheit gut zu gebrauchen“ (ebd. S.8)
und verdichtet es in der Fragestellung: „Wie kultiviere ich die Freyheit bei dem Zwange?“ (ebd.).
Die Willkürfreiheit des Zöglings muss so geformt werden, dass er frei werde, sich in der Zukunft seines eigenen Verstandes zu bedienen (vgl. ebd. S.2 & S.6). Kultivieren umfasst also die „Weiterentwicklung, Verfeinerung und Veredlung“ (Kauder 1999, S.120) der naturgegebenen Freiheit mit dem Ziel einer auf Vernunft gründenden Freiheit, was nach Kant jedoch nicht ohne Zwang möglich ist (vgl. Rink 1803, S.8).
Dies erscheint auf den ersten Blick wie ein Widerspruch, da das Kind scheinbar zu seiner Freiheit gezwungen werden muss. Kant relativiert diese Vermutung jedoch, indem er den Begriff „Zwang“ näher definiert und aufzeigt, was bei der Erziehung beachtet werden muss. Zwang ist nicht als sklavische Unterdrückung zu verstehen, sondern soll immer auch eine gewisse Freiheit bei dem Kind bewahren (vgl. Kauder 1999, S.123). Der Erzieher ist dazu angehalten, das Kind frei sein zu lassen, solange es nicht sich selbst oder die Freiheit anderer gefährdet. Er muss aufzeigen, dass auch andere Menschen Wünsche und Vorstellungen haben, die der Zögling respektieren muss und verständlich machen, warum die Zwangsmaßnahmen zu seinem eigenen Vorteil sind. Dem Kind muss also in jedem Fall der Zwang aus vernünftigen Gründen erläutert werden, damit es zukünftig in der Lage ist, selbst reflektierte Entscheidungen zu treffen (vgl. Rink 1803, S.8).
Kant hat mit seiner Frage nach der Kultivierung der Freiheit mit dem Ziel der Mündigkeit des Heranwachsenden das grundlegende Problem des aufklärerischen Menschenbildes eines sich selbst gestaltenden Individuums erfasst, bezeichnet die Vereinigung von Freiheit und Zwang jedoch nicht explizit als unlösbar, sondern versucht sogar diese zu ermöglichen.
Rund 2 Jahrhunderte später greift Albert Ilien in seinen Ausführungen zur Lehrerprofession die von Kant beschriebene Problematik wieder auf und verschärft diese durch die Formulierung: „Pädagogik ist Fremdförderung zur Selbstwerdung “ (Iien 2008, S.39). Damit hat er die bei Kant beginnende neuzeitliche Bildungsidee der fremdbestimmten Individualwerdung des Kindes weiterentwickelt und drückt diese mit Hilfe des pädagogischen Imperativs „Werde du selbst!“ (ebd.) aus. Im Gegensatz zu Kant sieht Ilien in diesem „Zwang“ zur Selbstbestimmtheit jedoch eine grundlegende Paradoxie, die sich in jeder Formulierung dieser Erziehungs-Theorie wiederfindet (vgl. ebd.) und sich zudem sehr deutlich in seinem Alltag als Hochschullehrer äußert: „Scharf - aber nicht falsch - gesagt, will ich, dass [die Studierenden (Anm. d. Verf.)] ihr Selbstbild als potenzielle Lehrer oder, anders gesagt, ihre Haltung gegenüber dem Lehrerberuf aus freien Stücken … ändern “ (ebd. S.37). Da ihnen aber im Studium die gewünschte Bildungsidee „übergestülpt“ wird, ist und bleibt diese Vorstellung eine Illusion.
Ilien bezieht sich bei seinen Untersuchungen zur Grundparadoxie auf die Theorie Dietrich Benners, der diese ebenfalls „als konstitutiv für jede pädagogische Praxis“ (ebd. S.40) ansieht und anhand zweier Prinzipien verdeutlicht: „das Prinzip der Bildsamkeit und das der Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (ebd.). Beide sind nach Benner sowohl in sich als auch in Kombination paradox (vgl. ebd.). Das zweitgenannte Prinzip wurde durch die Ausführungen Iliens wohl hinreichend deutlich. Die Bildsamkeit, die nach Benner jedem Menschen unterstellt wird (vgl. ebd.), bezeichnet Johann Friedrich Herbart als „Grundbegriff der Pädagogik“ (Ricken 2012, S.329) und wird auch von Ricken in seinen „Überlegungen zur Neufassung eines Topos pädagogischer Anthropologie“ (ebd.) untersucht.
Zunächst scheint der Begriff der Bildsamkeit keineswegs ein Ausdruck zu sein, der einen konstitutiven Widerspruch in der pädagogischen Praxis erfasst: Bildsamkeit als Unbestimmtheit und Offenheit des Individuums ist jedem Menschen von Geburt an gegeben (vgl. auch Ilien 2008, S.40) und Voraussetzung von Erziehung und Bildung (vgl. Ricken 2012, S.331f). Damit beschreibt Bildsamkeit also „eine Art Vermögen …, das ,hinter‘ den sich zeigenden Fertigkeiten und Fähigkeiten deren Entstehung reguliert bzw. deren Entstehungsmöglichkeit garantiert“ (ebd. S.335), beantwortet jedoch nicht die Frage, wie ein Erzieher der Unbestimmtheit der Kinder so gerecht werden kann, dass es diese Kompetenzen (z.B. Autonomie, Mündigkeit) erwirbt (vgl. ebd.). Nach Ricken kann „das Subjekt weder bloß vorausgesetzt … noch … durch Bedingungen oder gar Einwirkungen anderer … hergestellt werden“ (ebd. S. 334), was nach seinem Verständnis einen grundlegenden Widerspruch darstellt (vgl. ebd.).
Damit entwickelt Ricken das von Kant erfasste Problem der Vereinigung von Freiheit und Zwang, das von Ilien als Paradoxie von Fremdförderung und Selbstbestimmung bezeichnet wurde, noch einen Schritt weiter, indem er das in der Pädagogik unabdingbare Ineinander von Fremd- und Selbstbestimmtheit als „Aporie“ (ebd.) und damit ausweglose Situation formuliert.
Die Spannungsverhältnisse, die Bildsamkeit impliziert, verdeutlicht Ricken an drei Aspekten:
Zum einen steht die „unbestimmte Offenheit“ der Genese des Kindes der teleologischen, also zielgerichteten Auslegung der Entwicklung gegenüber. Das Kind wird also zunächst lediglich als „formbar“ angenommen, sein Entwicklungsziel, also die „Selbstbestimmungsfähigkeit des Geistes“ ist aber im Grunde schon vorbestimmt. An zweiter Stelle nennt Ricken die Spannung zwischen der passiven Auslegung der Bildsamkeit, also der bloßen Formbarkeit des Heranwachsenden auf der einen und dem Bildungstrieb als aktiven Faktor, der ebenso zur Bildsamkeit gehört, auf der anderen Seite. Als letzten Punkt greift Ricken das auch von Kant thematisierte Machtverhältnis zwischen dem überlegenen Erzieher und dem untergegebenen Kind auf und konstatiert den Widerspruch, dass Bildsamkeit sowohl Freiheit und Autonomie als auch Erziehung und Fremdbestimmung begründet (vgl. S.335f).
Neben der Fremdbedingtheit der Heranwachsenden durch den Erzieher ist die Selbstbestimmtheit des Individuums jedoch auch durch die „Umstände der Lage und Zeit“ (ebd. S.333) beschränkt. Der Mensch muss immer als Subjekt der Geschichte sowie gesellschaftlicher Normen erfasst werden, was auch Ilien in der Auffassung des Menschen „als sozial Ermöglichtes“ (Ilien 2008, S.38) zum Ausdruck bringt. Die aufklärerische Vorstellung eines von Anfang an vernunftgeleiteten, sich selbst bestimmenden Wesens wird damit durch die neuzeitliche Theorie ersetzt, dass der Mensch sowohl durch historische Persönlichkeiten und die gesellschaftlich geltenden Regeln als auch durch pädagogisch auf das Subjekt einwirkende Andere auf seine Mündigkeit vorbereitet wird. Die Fremdbestimmtheit ist also auf die Selbstbestimmtheit immer gegeben.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die neuzeitliche Bildungsidee der Fremdförderung zur Mündigkeit und Autonomie vom theoretisch lösbaren Problem bei Kant, über die Paradoxie bei Ilien zur Aporie bei Ricken entwickelt hat, dessen Auflösung als unmöglich angesehen wird.
3. Fallanalyse
Im Folgenden soll anhand eines Protokolls aus einer Unterrichtsstunde, das eine Studentin während ihres Allgemeinen Schulpraktikums an der LUH verfasst hat, analysiert werden ob und wie sich die von Kant, Ilien und Ricken beschriebene pädagogische Grundparadoxie im schulischen Alltag äußert. Die Analyse richtet sich dabei nach den 5 Prinzipien der objektiv-hermeneutischen Textinterpretation: Kontextfreiheit, Wörtlichkeit, Sequentialität, Extensivität und Sparsamkeit (vgl. Wernet 2000, S.21).
Analyse des Protokolls
Lehrerin: Würdet ihr jetzt bitte
Da dieser Satzanfang von einer Lehrerin kommt, wird er vermutlich in einer Schüler-Lehrer-Situation geäußert. Bei der Aussage könnte es sich sowohl um eine Ermahnung bei einem unangemessenen Verhalten der Schüler als auch um eine freundliche Aufforderung handeln. Ein solcher Ausdruck wäre aber auch in anderen Kontexten möglich: Ein Arbeitgeber fordert seine Arbeitnehmer auf, weiterzuarbeiten oder ein Gastgeber bittet seine Gäste zum Buffet. In all diesen Situationen lassen sich drei direkte Gemeinsamkeiten feststellen. Erstens richtet sich die Aufforderung, etwas zu tun oder zu unterlassen, immer an mindestens zwei Personen, die entweder minderjährig sind oder in einer freundschaftlichen Beziehung zu dem Sprecher stehen („ihr“ statt „Sie“). Zweitens herrscht scheinbar kein symmetrisches Verhältnis zwischen den Interaktionspartnern. Der Sprecher trägt in dieser Situation mehr Verantwortung als die Personen, an die er oder sie sich richtet, was auch durch die sehr respektvolle Formulierung deutlich wird. Drittens beginnt der Satz mit dem Imperativ im Konjunktiv „Würdet“ und gibt somit theoretisch die Möglichkeit, die Bitte abzulehnen.
Die Seiten 52 und 53 in euren Büchern lesen.
Das Satzende untermauert die These, dass diese Aussage im schulischen Kontext geäußert wird. Schon hier wird die von Kant, Ilien und Ricken erfasste Paradoxie der Pädagogik ersichtlich. Die Lehrerin fordert die Schüler auf, in ihren Büchern zu lesen und gibt ihnen durch ihre Formulierung manifest die Möglichkeit, sich dagegen zu entscheiden. Ihre Wortwahl suggeriert, dass das Lesen auf Freiwilligkeit beruht und dass die Kinder eine Wahlmöglichkeit haben, diese ist latent jedoch nicht gegeben.
Weiterhin verwendet sie das Pronomen „euren“ in Verbindung mit „Büchern“ und betont damit, dass es sich um das Eigentum der Kinder handelt. In dieser Ausdrucksweise schwingt indirekt die Bemerkung mit, dass sie einen Bezug zu den Büchern haben und es die Schüler somit interessieren muss. Auch hier wird die Paradoxie deutlich: Die Kinder werden gezwungen, sich ein Buch anzueignen, für das sie sich anschließend begeistern müssen, obwohl es möglicherweise nicht ihren Interessen entspricht.
Im Anschluss besprechen wir die beiden Seiten dann.
Der darauffolgende Satz ist manifest eine sachliche Information: Die Lehrerin offenbart ihre weitere Unterrichtsplanung. Die Zeitangaben „Im Anschluss“ und „dann“ meinen beide den Moment nach dem Abschließen des Lesevorgangs, der den Beginn des gemeinsamen Zusammentragens der Ergebnisse darstellt. Mit dem Pronomen „wir“ bezeichnet die Lehrerin ein kollektives „Ich“, das sie selbst und die Klasse umfasst.
Latent unterstreicht diese Aussage jedoch die Notwendigkeit, ihrer Anweisung nachzugehen: „Wenn ihr die Seiten nicht lest, könnt ihr euch nachher nicht beteiligen“. Das Lesen ist also die Voraussetzung dafür, dass ihre weitere Unterrichtsplanung aufgeht und wird somit von den Kindern erwartet. Die Option aus dem ersten Satz, die Bitte abzulehnen, wird ihnen genommen und die Bereitschaft zum Lesen vorausgesetzt.
J.: Und wenn wir das nicht wollen?
Durch diesen Einwand bestätigt J., dass die Möglichkeit bei der Formulierung der Lehrerin mitgedacht werden muss. Mit dem Wort „wenn“ fragt er nach einer Bedingung, die die Lehrerin vor Legitimationsdruck stellt. Diese ist nun aus dem zuvor von ihr verwendeten „wir“ ausgeschlossen, das J. für sich und die Klasse vereinnahmt. Das Prädikat „wollen“ kommt von dem Subjekt „Wille“ und ist mit Freiwilligkeit assoziiert, die die Lehrerin manifest zulässt.
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- Arbeit zitieren
- Tabea Taulien (Autor:in), 2018, Die Grundparadoxie der neuzeitlichen Pädagogik. Ist Erziehung ohne Zwang möglich?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/593677
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