Begleitung der emotionalen Entwicklung von Kindern in Bezug auf Wut und Aggressionen


Diplomarbeit, 2017

47 Seiten, Note: ohne Note


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Begründung der Themenwahl

2. Ausgangslage und Anliegen der Mutter

3. Situationsanalyse nach dem Calgary Familien-Assessment-Modell
3.1 Strukturelles Assessment
3.1.1 Interne Struktur
3.1.2 Externe Struktur
3.1.3 Kontext der Familie
3.2 Assessment der Entwicklung
3.2.1 Stadien
3.2.2 Aufgaben
3.2.3 Beziehung
3.3 Funktionales Assessment
3.3.1 Instrumentell
3.3.2 Expressiv
3.4 Stärken und Ressourcen der Familie
3.5 Hauptanliegen von Frau Reist
3.6 Hypothesenbildung
3.7 Interventionen
3.7.1 Anerkennung und Wertschätzung
3.7.2 Familienmitglieder ermutigen ihre Geschichte zu erzählen
3.7.3 Anerkennen der Stärken der Familie
3.7.4 Akzeptanz und Anerkennung von emotionalen Reaktionen
3.7.5 Fachinformationen anbieten
3.8 Ergebnis der Interventionen

4. Fragestellung und Zielsetzung
4.1 Fragestellung
4.2 Zielsetzung
4.3 Literaturrecherche
4.4 Ausschlusskriterien

5. Erster Theorieteil: Emotionen - Entstehung, Entwicklung und Regulation
5.1 Entstehung
5.1.1 Emotionen
5.1.2 Soziale Kompetenz
5.1.3 Emotionale Kompetenz
5.2 Psychosoziale Entwicklung
5.2.1 Entwicklung des Emotionsausdrucks und des Emotionsverständnisses
5.2.2 Entwicklung des Konfliktverhaltens
5.3 Regulation
5.3.1 Emotionsregulation
5.3.2 Bedeutung von Wut und Tränen von Kindern für die Erwachsenen
5.3.3 Geschichte der Wut
5.3.4 Aggressives Verhalten
5.3.5 Die häufigsten Stressquellen für Säuglinge und Kinder
5.3.6 Auswirkungen der Unterdrückung von Wut

6. Zweiter Theorieteil: Umgang mit negativen Emotionen
6.1.1 Die Rolle der Familie für die Entwicklung der Emotionsregulation
6.1.2 Ausweiten der Frustrationstoleranz – das Herzstück emotionaler Kompetenz
6.2 Strategien, um mit Emotionen umzugehen
6.2.1 Neueinschätzung, Problemlösungsstrategien und Achtsamkeit
6.2.2 Mitgefühl und Ausleben der Gefühle
6.2.3 Festhaltetherapie
6.2.4 Gewaltfreie Kommunikation mit dem Kind
6.2.5 Gewalttätiges Verhalten umleiten
6.2.7 Gewalt verbannen
6.2.8 Disziplinierungsmassnahmen und Sanktionen bei negativen Emotionen
6.2.9 Bilderbücher
6.3 Umgang mit Aggressionen
6.3.1 Aggressionen gegen Eltern
6.3.2 Aggressionen gegen Geschwister

7. Schlussfolgerungen und Konsequenzen
7.1 Theorie – Praxistransfer in Bezug auf die Zielsetzung
7.2 Theorie – Praxistransfer in Bezug auf die Einschätzung der Situation und der Hypothesen
7.3 Theorie Praxistransfer in Bezug auf die Interventionen und Ergebnisprüfung
7.4 Schlussfolgerungen und Konsequenzen für das eigene Arbeitsfeld
7.5 Fazit als Mütter- und Väterberaterin

Dank

Literaturverzeichnis

Anhang

Genoökogramm

Bilderbücher

Zusammenfassung

Bedürfnisse verursachen Emotionen, auch unangenehme wie Wut und Aggressionen. Gerade Kleinkinder lassen sich in ihrem Handeln noch fast ausschliesslich von Emotionen leiten. Später lernen sie immer besser, sich nicht nur ihren Emotionen hinzugeben, sondern diese auch zu regulieren, um ein bestimmtes Handlungsziel zu erreichen. Um diesen Entwicklungsprozess gut zu meistern, brauchen sie feinfühlige Eltern, die ihnen Orientierung und Halt geben.

Kommen Eltern mit ihren Kleinkindern in die Mütter- und Väterberatung, sind Wut und Aggressionen oftmals ein Thema. Während der Beratung treten Fragen auf wie: «Wie reagiere ich, wenn mein Sohn um sich schlägt?» oder «mein Kind wirft sich bei einem Nein auf den Boden und schreit» aber auch «mein Kind schlägt das jüngere Geschwister».

Anhand eines Fallbeispiels, welches nach dem Calgary-Familien-Assessment-Modell (CFAM) (Whright et al., 2009) analysiert wurde, werden in dieser Arbeit folgende Fragen zu diesem umfangreichen Thema behandelt:

- Wie können und sollten Eltern mit den negativen Gefühlen – beispielsweise Wut und Aggression - ihres Kindes umgehen, um seine emotionale Entwicklung zu unterstützen?
- Wie verläuft die emotionale Entwicklung von Geburt bis zum fünften Lebensjahr?
- Wie lernen die Kinder im Alter von 1 bis 5 Jahren ihre Emotionen zu regulieren und welche Strategien sind dabei hilfreich?

Der erste Theorieteil geht auf die Entstehung, Entwicklung und Regulation von Emotionen ein. Das Thema wird über verschiedene Fachexperten und eine Metastudie beleuchtet. Der zweite Theorieteil befasst sich mit dem Umgang mit negativen Emotionen. Der letzte Teil beinhaltet den Transfer der Theorie in die Praxis, wobei die Erkenntnisse aus beiden Theorien mit dem Fallbeispiel verbunden werden. Das so gewonnene Wissen wird in die Praxis als Mütter- und Väterberaterin transferiert. Als ein gutes Hilfsmittel haben sich dabei auch Bilderbücher erwiesen, die Eltern mit ihren Kindern anschauen können und die den Umgang mit schwierigen Gefühlen wie Wut, Trauer, Eifersucht etc. thematisieren. Eine Liste mit Empfehlungen findet sich im Anhang.

Laut der Erziehungswissenschaftlerin der Universität Fribourg Prof. Margrit Stamm ist es jedoch auch wichtig, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die schwierigen Gefühle zu lenken, sondern insbesondere die positiven Emotionen zu fördern (Stamm, M.2016). Aus diesem Grund wurde ein Bilderbuch zum Thema Liebe hinzugefügt.

1. Einleitung

«Auch ist nicht zu leugnen, dass die Empfindungen der meisten Menschen richtiger ist als ihr Räsonnement.» Friedrich Schiller, deutscher Dichter und Philosoph (1759-1805).

Erst die Gefühle geben dem Leben eine gewisse Würze. Sie steuern unser tägliches Erleben und Verhalten. Sie sind notwendig und nützlich, denn sie helfen uns, in Sekundenschnelle eine Situation aus dem «Bauch» einzuschätzen und entsprechend schnell darauf zu reagieren.

Wer kann sich schon nicht an seine erste Liebe erinnern, mit all der positiven Energie, der wohligen Wärme, Aufregung und Glücksgefühlen? Irgendwann kam es aber bei den Meisten zum Liebeskummer, zur Trennung mit Emotionen wie Verlust, Trauer, Wut, Schmerz oder Eifersucht. Um genau diese negativen Gefühle geht es in dieser Arbeit.

Wie haben wir gelernt, mit ihnen umzugehen? Was braucht es, um angemessen mit Emotionen umgehen zu können, eine zentrale Kompetenz, die Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung lernen müssen? Und welche Rolle spielen die Eltern für die Entwicklung dieser Kompetenz? In der Psychologie wird diese Fähigkeit Emotionsregulation genannt. Zum Beispiel haben Kinder mit aggressiven Verhaltensauffälligkeiten oft besondere Schwierigkeiten, mit den Gefühlen Wut und Frustration umzugehen.

Welche Eltern kennen nicht die Situation, in der ihr sonst so liebes Kind urplötzlich einem anderen Kind die Sandkastenschaufel aus der Hand reisst und diese dem anderen Kind eventuell gar um die Ohren schlägt. Oder der Moment, wenn sich das Kind im Einkaufsladen wegen einem „Nein“ bei den Süssigkeiten an der Kasse auf den Boden wirft. Oder ein vom Kindergarten entnervtes Kind zu Hause in Empfang nimmt und all die Wut zu spüren bekommt?

Negative Emotionen gehören zu uns und unseren Kindern. Eltern möchten jedoch ihre Kinder vorwiegend glücklich erleben. Das Begleiten von Trauer, Enttäuschung, Frustrationen, Wut oder sogar Aggressionen stellt eine grosse Herausforderung an die Eltern dar. Gleichzeitig versetzt es die Eltern selbst in ihre Kindheit zurück. Wie wurde in der eigenen Familie damit umgegangen? Wurden die negativen Emotionen unterdrückt? Allfällige Verletzungen kommen eventuell wieder hoch und machen den Umgang mit Kindertränen oft sehr schwierig.

Die für die vorliegende Arbeit gewählte Familiensituation dokumentiert eine länger anhaltende Stresssituation einer Familie. Der Sohn der Familie, Luca, drückt mit Aggressionen sein länger anhaltendes nicht erfülltes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Sicherheit aus.

Kinder erleben Stress und Eltern sollen und können die Kinder davor nicht bewahren. In diesem Sinne ist dieses Beispiel eines unter vielen. Alle Eltern werden sich irgendeinmal mit den negativen Gefühlen ihrer Kinder konfrontiert sehen.

Einige geraten mit ihren Fragen zu diesem Thema an die Mütter- und Väterberaterin. Fundiertes Wissen rund um die emotionale Entwicklung der Kinder und wie diese bestmöglich begleitet werden können, ist dabei elementar, um die Eltern wirkungsvoll unterstützen zu können. Eltern brauchen präzise Informationen, Bestätigung und konstruktive Vorschläge, wie sie mit den emotionalen Ausbrüchen ihrer Kinder umgehen sollten.

1.1 Begründung der Themenwahl

In Zusammenarbeit mit den Eltern wird die Mütter- und Väterberaterin tagtäglich mit Fragen zum Umgang mit negativen Emotionen konfrontiert.

Die Fragen sind häufig komplex, individuell und ihre Beantwortung erfordert grosses Fingerspitzengefühl. Für eine kompetente, individuelle Beratung braucht es ein breites und vertieftes Fachwissen. Genau dieses Fachwissen soll die Eltern unterstützen, ein Bewusstsein für die eigenen Emotionen auszubilden, um auf die emotionale Entwicklung ihrer Kinder Einfluss nehmen zu können.

2. Ausgangslage und Anliegen der Mutter

Um den Datenschutz zu gewährleisten, wurden alle Namen anonymisiert und Einzelheiten zu den Personen soweit verändert, dass eine Identifikation nicht mehr möglich ist.

Frau Reist kommt seit der Geburt ihres ersten Sohnes Luca, welcher nun 25 Monate alt ist, regelmässig in die Mütter- und Väterberatung. Anfangs standen Fragen zum Stillen, zum Ernährungsaufbau und zum Schlafen im Mittelpunkt. Luca war ein lebhafter, kräftiger und aufmerksamer Säugling und brauchte viel Nähe von seinen Eltern. Besonders als seine Mutter nach 7 Monaten wieder zu 60 Prozent zu arbeiten begann und er wöchentlich zwei Tage in der Kita und einen Tag von seinem Vater betreut wurde. In dieser Zeit wachte er in der Nacht oft auf und verlangte die Brust. Mit einem Jahr wurde er abgestillt.

Luca war 19 Monate alt, als seine Schwester Laura auf die Welt kam. Auch Laura braucht viel Nähe, wird gestillt und oft getragen. Leider musste sie wegen verschiedenen Infekten mehrmals ins Kinderspital eingeliefert werden. Die Mutter musste eine kritische Situation (anaphylaktischer Schock des Kindes) miterleben und war sich als Anästhesieschwester dem lebensbedrohlichen Zustand ihrer Tochter bewusst. Den Spitalaufenthalt mit all den Eingriffen erlebte die Familie als sehr stressig. Luca war damals 20 Monate alt und begann, andere Kinder an den Haaren zu ziehen und zu schlagen.

Beim nächsten Treffen mit 25 Monaten zeigte sich jedoch ein ganz anderes Bild. Luca schlägt seine Spielkameraden nicht mehr, legt aber ein äußerst aggressives Verhalten gegenüber der Mutter und der Schwester zu Tage. Er sucht die Nähe der Mutter, schlägt sie und die Schwester, welche im Tragetuch der Mutter schläft, im gleichen Augenblick. Während der Beratung wirft er alle Spielsachen quer durch das Zimmer.

Nach diesem Vorfall geht die Mutter auf Augenhöhe mit Luca und sagt, dass sie dies nicht will. Im gleichen Moment wirft er die Spielsachen trotzdem wieder weg und grinst dabei. Obwohl als Reaktion darauf immer mehr Spielsachen unzugänglich für ihn weggestellt werden, fährt er fort. Ablenkung durch Zeichnen und das Lob für seine Malkünste bringen nicht lange ein positives Verhalten. Er steckt sich die Stifte in den Mund und rührt sie danach auf den Boden. Während dem Gespräch mit der Mutter ist es unmöglich, nicht auf sein Handeln zu reagieren.

Im Alltag sei dies auch so, sagt Frau Reist. Sie traue sich kaum mehr, irgendetwas mit ihrem Sohn zu unternehmen. Im öffentlichen Raum sei ihr sein Verhalten sehr peinlich. Zudem gäbe es gefährliche Situationen, wie zum Beispiel, wenn Luca in unmittelbarer Nähe von Strassen nicht auf sie höre.

Frau Reist ist erschöpft und völlig überfordert. Als ansonsten kompetente Mutter mit angemessenen Erziehungsfähigkeiten fühlt sie sich hilflos. Die Mutter ist jedoch froh, dass die Beraterin das Verhalten von Luca miterlebt. Ihr Mann nehme das Ganze nicht so ernst und bezeichnet es als ein normales Trotzen.

3. Situationsanalyse nach dem Calgary Familien-Assessment-Modell

Anhand des Calgary Familien-Assessment-Modell (Wright et. Al., 2009) wird die Familiensituation beschrieben. Gleichzeitig wird aufgezeigt, mit was für komplexen Problemen sowie Fragestellungen die Eltern mit ihren Kindern die Mütter- und Väterberatungsstelle aufsuchen.

3.1 Strukturelles Assessment

3.1.1 Interne Struktur

Herr und Frau Reist haben 2009 geheiratet. Frau Reist hat Jahrgang 1980 und ist in einer kleinen Gemeinde im Kanton Bern aufgewachsen. Nach der Geburt ihres ersten Kindes reduzierte Frau Reist ihre Arbeit als Anästhesieschwester in einer Kinderklinik auf 60 Prozent. Daneben hilft sie einmal im Monat in einer Krabbelgruppe mit und ist im Dorf sehr gut vernetzt.

Ihr Mann hat Jahrgang 1977 und arbeitet zu 80 Prozent als Architekt. Einmal in der Woche ist er für die Betreuung der Kinder verantwortlich. Herr Reist unterstützt seine Frau vorwiegend an den Wochenenden und übernimmt die volle Verantwortung während seinem Vatertag. An den Abenden unter der Woche kommt er jedoch meistens spät nach Hause.

Zu den Kindern haben die Eltern eine gute und starke Bindung. Diese versuchen, den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Besonders ihrem Sohn ermöglichen sie, sich in der Natur auszutoben. Der Vater macht mit ihm gerne Ausflüge.

3.1.2 Externe Struktur

Die Grossmutter mütterlicherseits arbeitet noch zu 80 Prozent und wohnt in der Nähe. Zu ihr hat Frau Reist ein sehr enges Verhältnis. Frau Reist hat eine zwei Jahre jüngere Schwester, welche auch im Kanton Bern lebt. Sie ist die Patin von Luca. Dieser geniesst jeweils die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Patin, welche mit ihm ca. einmal im Monat Ausflüge unternimmt.

Die Eltern von Herr Reist wohnen weit weg. Aufgrund dieser Distanz sehen sie sich eher selten. Sie pflegen trotz der Distanz einen guten Kontakt zu ihnen. Herr Reist hat einen älteren und jüngeren Bruder. Die Eheleute haben zu den beiden einen guten Kontakt.

3.1.3 Kontext der Familie

Die Familie lebt in einem Dorf im Kanton Bern, zentrumsnah in einem kinderfreundlichen Mehrfamilienhaus mit kleinem Garten. Beide schätzen die geringe Distanz zum Arbeitsplatz und die Nähe zur Kita, welche Luca seit seinem 7. Lebensmonat zweimal in der Woche im Dorf besucht. Luca geht dort sehr gerne hin und fühlt sich wohl.

Für Frau Reist ist dies eine Erleichterung, vor allem seit der Geburt ihres zweiten Kindes. Es gibt Frau Reist die Möglichkeit, sich ausschliesslich um Laura zu kümmern. Nach dem Mutterschaftsurlaub wird Laura ebenfalls zwei Tage pro Woche die Kita besuchen.

Die Eltern haben eigene Freunde wie auch einen gemeinsamen Freundeskreis. Frau Reist und Herr Reist hatten vor der Geburt ihrer Kinder viele verschiedene Hobbys, denen sie nun aus Zeitgründen nicht mehr nachgehen können. Der Kontakt zu ihren Freunden ist ihnen aber sehr wichtig.

In unmittelbarer Nachbarschaft lebt eine weitere Familie mit kleinen Kindern, mit denen sie regelmässig Kontakt haben.

3.2 Assessment der Entwicklung

3.2.1 Stadien

Laut Wright (Wright et al., 2009, p. 105) wird die traditionelle Familie in sechs Familienlebenszyklen unterteilt. Familie Reist befindet sich im 3. Stadium – „Familie mit kleinen Kindern“. Sie haben mit ihrem ersten Kind Luca bereits wertvolle Erfahrungen in der Rolle als Eltern gemacht. Durch die Integration des zweiten Kindes, welches in den ersten Lebensmonaten oft wegen lebensbedrohlichen Infektionen im Spital war, kommt es nun zu einer grossen Veränderung in der gewohnten Familienstruktur. Alle Familienmitglieder müssen sich den neuen Umständen anpassen. Dies führt vermehrt zu Unsicherheit und Stress.

3.2.2 Aufgaben

Die Eltern versuchen eine Balance zu finden zwischen Kinderbetreuung, beruflichen und haushälterischen Aufgaben. Sie sehen sich mit den Bedürfnissen von zwei kleinen Kindern in unterschiedlichen Altersstufen konfrontiert. Die Betreuung von Laura ist anspruchsvoll, da sie seit der Geburt oft krank ist und Regulationsprobleme hat. Sie wird oft von ihrer Mutter im Tragetuch getragen.

Während dem Mutterschaftsurlaub ist vor allem Frau Reist für die Kinder, die Hausarbeit und das Einkaufen zuständig. Frau Reist überlegt sich, nach dem Mutterschaftsurlaub Hilfe für die Putzarbeit zu organisieren. Herr Reist unterstützt seine Partnerin an seinem freien Wochentag sowie am Wochenende. Da er ein leicht höheres Arbeitspensum als seine Frau hat, leistet er auch einen grösseren finanziellen Beitrag an die Familie.

3.2.3 Beziehung

Durch die Geburt des zweiten Kindes und den folgenden stressigen Monaten mit Krankenhausaufenthalten hat das Paar weniger Zeit füreinander. Es kommt zu vermehrten Auseinandersetzungen, auch bedingt durch das Verhalten von Luca.

Diese Erschütterungen kennen sie schon von ihrem ersten Kind und sie sind somit zuversichtlich, dass sie diese Unstimmigkeiten auch wieder überwinden werden. Frau Reist hat eine sehr enge Bindung zu ihrem Sohn. Umso mehr fühlt sie sich durch sein momentanes Verhalten verletzt.

Sie empfindet sehr starke Gefühle für ihre Tochter und genießt die alleinige Zeit mit ihr sehr, wenn Luca in der Kita ist. Durch die Umstände mit Laura hatte sie weniger Zeit für Luca und hat deshalb oft auch Schuldgefühle ihrem Sohn gegenüber. Die Beziehung von Herr Reist mit Luca ist inniger geworden. Auch zu seiner Tochter konnte er eine Bindung aufbauen. Luca ist stolz auf seine kleine Schwester, zeigt aber auch ambivalente Gefühle ihr gegenüber.

3.3 Funktionales Assessment

3.3.1 Instrumentell

Seit der Geburt von Laura erlebt die Familie große Herausforderungen im Alltag und in ihrer Partnerschaft. Frau Reist versucht, ihren Alltag wieder neu zu strukturieren. Obwohl ihre Tochter schon fünf Monate alt ist, hat sich durch die vielen Krankenhausaufenthalte noch keine Routine bzw. Tagesstruktur eingespielt. Somit haben die Familienmitglieder ihren neuen Platz im Familiengefüge noch nicht gefunden. Luca war schon immer ein lebhafter Junge mit starken Bedürfnissen nach Nähe und Aufmerksamkeit. Seit einiger Zeit respektiert er die von Frau Reist gesetzten Grenzen nicht mehr und gehorcht auch nach mehrmaliger Aufforderung nicht.

Seit zwei Wochen wird Laura nun in der Kita eingewöhnt. Dies gestaltet sich eher schwierig, da Laura die Flasche nicht akzeptiert und auf die Trennung mit vermehrtem Weinen reagiert. Seit dieser Eingewöhnungszeit zeigt Luca vermehrt ein aggressives Verhalten im Besonderen seiner Mutter und seiner Schwester gegenüber. Dieses aggressive Verhalten zeige sich gemäss Frau Reist besonders, nachdem Luca zusammen mit Laura in der Kita war. Dem Vater gegenüber verhalte er sich nicht aggressiv, sondern höchstens unkooperativ. Frau Reist fühlt sich mit der jetzigen Situation überfordert, erschöpft und hilflos. In einer Woche wird sie zu 60 Prozent in ihren Beruf zurückkehren und hat demgegenüber ambivalente Gefühle. Am liebsten würde sie länger zu Hause bleiben. Solange, bis sich die Situation in der Familie stabilisiert hat.

3.3.2 Expressiv

Die nonverbalen Äusserungen von Frau Reist stimmen mit dem Gesagten überein. Frau Reist wünschte sich ein wenig mehr Unterstützung und Verständnis von ihrem Mann. Durch die Geburt und die Infektionen von Laura wurde das Familiengefüge erschüttert. Dies ist vor allem für Luca eine grosse Herausforderung, was er durch seine emotionalen Aktionen beeindruckend aufzeigt. Für die Eltern besteht die Schwierigkeit darin, ihn möglichst gut in dieser Neufindungsphase zu unterstützen, da sich das Familiensystem erst jetzt von den Spitalaufenthalten ihrer Tochter erholen kann.

Die motorische und sprachliche Entwicklung von Luca ist seinem Alter entsprechend. Er ist ein gefühlsbetonter Junge, der schon seit der Geburt die intensive Nähe seiner Mutter braucht. Den Eltern ist es wichtig, täglich mit ihrem Sohn auf den Spielplatz oder in die Natur zu gehen, um seinem Bewegungsdrang gerecht zu werden.

3.4 Stärken und Ressourcen der Familie

Die Mutter ist sehr selbstreflektierend und hinterfragend. Es ist ihr möglich, offen über ihre Gedanken und Gefühle zu sprechen. Als ansonsten kompetente Mutter verfügt Frau Reist über angemessene Erziehungsfähigkeiten. Sie bietet ihren Kindern ein entwicklungsunterstützendes Umfeld. In den Beratungen zeigte sie sich immer intuitiv kompetent und verfügte über Feinfühligkeit im Wahrnehmen von kindlichen Bedürfnissen.

Luca entwickelt sich motorisch und sprachlich altersentsprechend, ist sehr aktiv und an der Umwelt interessiert. Er besucht die Kita gern und hat dort Kontakte zu weiteren Bezugspersonen und gleichaltrigen Kindern. Dies ist eine Entlastung für die Familie. Die guten Beziehungen zu den Herkunftsfamilien geben Halt und wirken unterstützend. Die Familie ist in einer finanziell gesicherten Lebenssituation.

3.5 Hauptanliegen von Frau Reist

Frau Reist möchte wissen, wie sie mit diesen Wutausbrüchen und Aggressionen von Luca umgehen soll. Wie kann sie Luca unterstützen, sich in der neuen Familiensituation zurechtzufinden. Sie möchte die Negativspirale vom ewigen Grenzen setzen, schimpfen und sich nicht mehr richtig aus dem Haus trauen, unterbrechen.

3.6 Hypothesenbildung

- Die Mutter erlebt eine enorme Gefühlsachterbahn. Zuerst die Freude über die Geburt von Laura. Danach all die Sorgen um den Gesundheitszustand ihrer Tochter. Die Familie konnte sich als System noch gar nicht stabilisieren. Ruhige und alltägliche Familienzeit fehlten dazu.
- Frau Reist fängt in einer Woche wieder an zu arbeiten. Sie äussert, im Moment dazu noch nicht bereit zu sein. Sie hat Mühe loszulassen, nach allem was passiert ist.
- Laura wird in der gleichen Kita wie Luca eingewöhnt. Die Tochter kann sich auf die neue Situation kaum einlassen. Sie akzeptiert die Flasche nicht, was die Mutter zusätzlich stresst.
- Laura dringt nun in ein weiteres Reich von Luca ein, in welchem sich bis anhin nichts verändert hatte. Nun ist er in der Kita der grosse Bruder von Laura. Die Betreuerinnen reagieren mit viel Aufmerksamkeit auf Laura, während Luca danebensteht.
- Frau Reist fühlt sich von ihrem Mann nicht ernst genommen. Sie bräuchte Unterstützung und viel Bestätigung. Sie muss sich von ihren Kindern lösen, um 60 Prozent arbeiten zu können, obwohl sie als Familie noch nicht wirklich angekommen sind.
- Luca zeigt auf beeindruckende Weise auf mehrere «Misfits¹» die in seiner Familie bestehen. Insbesondere zeigt er mit seiner Wut auf, dass ihn die aktuelle Situation überfordert und seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden.
- Largo R. bezeichnet «Misfits» als eine ungenügende Übereinstimmung zwischen Kind und Umwelt.

3.7 Interventionen

Die Interventionen werden nach dem Calgary Familien-Interventions-Modell (CFIM) vorgestellt (Wright et al.)

3.7.1 Anerkennung und Wertschätzung

Frau Reist schätzt es, dass sie durch eine Fachperson darin bestätigt wird, sich in einer schwierigen Situation zu befinden. Dieses Verständnis für die aktuelle Lebenssituation und die damit eingehenden Veränderungen im Familiensystem helfen ihr. Die Beraterin gibt der Mutter Raum und Zeit, um über ihre Situation nachzudenken und ihre Anliegen darzulegen.

3.7.2 Familienmitglieder ermutigen ihre Geschichte zu erzählen

Offene Fragestellungen und eine ihr zugewandte Körpersprache ermuntern Frau Reist, ihre Situation zu schildern. Durch dieses ausführliche Erzählen der Familiensituation kann sich die Beraterin ein differenziertes Bild machen und ist somit fähig, zusammen mit der Mutter nach Lösungen zu suchen.

3.7.3 Anerkennen der Stärken der Familie

Die Beraterin bespricht zusammen mit der Mutter Entlastungsmöglichkeiten. Es ist wichtig, das soziale Umfeld vermehrt einzubeziehen, damit die Mutter in dieser schwierigen Situation gestärkt ist. Insbesondere ihre Mutter und ihren Mann werde sie vermehrt um Mithilfe bitten.

Die Frage, ob es auch gute Momente mit Luca gebe, bejaht Frau Reist. Luca bastle sehr gerne mit ihr zusammen. Ihr wird empfohlen, diese guten Momente regelmäßig zusammen mit ihrem Sohn zu erleben, um die Beziehung zu stärken.

3.7.4 Akzeptanz und Anerkennung von emotionalen Reaktionen

Mit 25 Monaten gehört Wut und Trotzen zu einer normalen Entwicklung von Autonomie und Abhängigkeit. Luca steckt jedoch in einer größeren Krise. Diese Bestätigung zu hören, ist für Frau Reist eine immense Erleichterung. Es scheint, als fühle sie sich das erste Mal richtig verstanden und ernst genommen.

3.7.5 Fachinformationen anbieten

Da die Beraterin Luca und seine Familie seit seiner Geburt kennt und begleiten durfte, kann sie sich ein klares Bild seines Entwicklungsstands machen. Sie informiert die Mutter, dass die Wut und die Aggression gegenüber ihr und der Schwester ein Ausdruck von nicht erfüllten Bedürfnissen und Trauer sein kann. Luca fühle sich insbesondere durch das Teilen seines sicheren Ortes (Kita) verunsichert und bedroht. Dies fordert von ihm eine große Anpassungsleistung, die ihn im Moment noch überfordert. Die Eltern muten nun Luca auch noch zu, die Kita mit seiner Schwester zu teilen. Diese Frustrationen und Verunsicherungen müssen mit ihm durchgestanden werden, was wiederum viel Kraft von den Eltern abverlangt.

3.8 Ergebnis der Interventionen

Für Frau Reist war es sehr entlastend, über ihre Sorgen so offen sprechen zu können. Sie fühlte sich ernst genommen. Es war für sie wichtig zu erfahren, dass die Wut von Luca ein Zeichen der Überforderung und des Nichterfüllens seiner Bedürfnisse ist, und die Aggressionen nicht böswillig gegen sie persönlich gerichtet sind.

Die lösungsorientierten Fragen halfen ihr, den Blick auch auf die Momente richten zu können, in denen sie es mit Luca gut hatte. Dies motivierte sie, solche Situationen auszubauen, was wiederum seine Bedürfnisse nach Nähe und Aufmerksamkeit erfüllte. Die Aggressionen gegen die Mutter und seine Schwester haben deutlich abgenommen. Frau Reist gönnt sich nun auch ab und zu Zeit für sich. Besonders am Wochenende unterstützt ihr Mann sie vermehrt.

4. Fragestellung und Zielsetzung

Das Fallbeispiel hat die Autorin zu folgender Fragestellung und Zielsetzung geführt:

4.1 Fragestellung

Wie können und sollten Eltern mit den negativen Gefühlen – beispielsweise Wut und Aggression - ihres Kindes umgehen, um seine emotionale Entwicklung zu unterstützen?

- Wie verläuft die emotionale Entwicklung von Geburt bis zum fünften Lebensjahr?
- Wie lernen die Kinder im Alter von 1 bis 5 Jahren ihre Emotionen zu regulieren und welche Strategien sind dabei hilfreich?

4.2 Zielsetzung

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Fachwissen rund um die Regulation von Emotionen und die Entstehung und Entwicklung emotionaler Kompetenz zu vertiefen. Die eingehende Literaturrecherche sowie die Auseinandersetzung mit den vorliegenden Fragestellungen sollen helfen, Eltern in diesen komplexen Fragen professionell beraten und begleiten zu können. Eine Auflistung von geeigneten Bilderbüchern im Umgang mit Emotionen soll die Beraterin bei der Weiterempfehlung an die Eltern zusätzlich unterstützen.

4.3 Literaturrecherche

Die Literaturrecherche umfasst verschiedene Studien, Fachliteratur von Hirnforschern sowie bekannten Erziehungsratgebern. Der Verfasserin war es wichtig, Literatur von Wissenschaftlern, Forschern, Psychologen und Familientherapeuten hinzuzuziehen, die sich mit der Entwicklung, Entstehung, Regulation und Begleitung von Emotionen befassen.

4.4 Ausschlusskriterien

- Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten
- Kinder die älter als fünf Jahre alt sind

5. Erster Theorieteil: Emotionen - Entstehung, Entwicklung und Regulation

5.1 Entstehung

5.1.1 Emotionen

Die grundlegende Funktion von Gefühlen ist es, unseren Bedürfnissen zu dienen (Rosenberg, 2013, p.18). Das Wort Emotion stammt vom lateinischen «movere» (bewegen). Damit wird verdeutlicht, dass unsere ursprüngliche Reaktion auf starke Gefühle darin besteht, körperlich aktiv zu werden. Weinen und Wüten sind bei Kindern in der Tat sehr aktive Prozesse, die den ganzen Körper einbeziehen. Sie treten mit den Füssen, schlagen mit den Armen um sich und wenden dabei sehr viel Körperkraft auf (Solter, 2015, p.33).

Der renommierte Gehirnforscher Richard J. Davidson hat erforscht, dass die positiven Emotionen im linken präfrontalen Kortex gemessen werden können und Emotionen wie Angst, Wut, oder Ekel mit erhöhter Aktivität im rechten Kortex einhergehen. Bei der Geburt ist der präfrontale Kortex noch sehr unreif, weise jedoch bereits von Anfang an die für die positiven und negativen Emotionen typischen funktionalen Unterschiede auf. Weiter hat er herausgefunden, dass Menschen, sobald sie mit negativen Emotionen überschwemmt werden, im Gehirn und im Körper sofort bestimmte Mechanismen auf den Plan treten, welche die Gefühle dämpfen und den Mensch in den Ruhezustand zurückkehren lassen. Er hat herausgefunden, dass die Erbanlage ein Kind für einen bestimmten emotionalen Stil prädestinieren kann. Erfahrungen und Umwelteinflüsse können es aber von diesem Weg abbringen und seine Entwicklung in ganz andere Bahnen lenken. Vererbbare Merkmale können also verändert werden (Davidson, 2012, p.66 – 165).

Sindy Bargel zitiert Frank Gaschler, welcher als Ursache der Gefühle ein unerfülltes oder erfülltes Bedürfnis und nicht das Verhalten des Anderen versteht. Durch diese Erkenntnis übernehme jeder selbst die Verantwortung für seine Gefühle (Gaschler, 2011, p. 38 zitiert in Bargel, 2012, p. 6).

[...]

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Begleitung der emotionalen Entwicklung von Kindern in Bezug auf Wut und Aggressionen
Hochschule
WE'G Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe SRK; Careum Weiterbildung
Note
ohne Note
Autor
Jahr
2017
Seiten
47
Katalognummer
V591989
ISBN (eBook)
9783346204639
ISBN (Buch)
9783346204646
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Emotionale Entwicklung Umgang mit Wut und Aggressionen, Begleitung der Eltern
Arbeit zitieren
Melanie Bouvard (Autor:in), 2017, Begleitung der emotionalen Entwicklung von Kindern in Bezug auf Wut und Aggressionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/591989

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