Die allgemeine Definition der Sinneswahrnehmung bei Aristoteles


Seminararbeit, 1995

14 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Sein ist Bewegung

2 Die allgemeine Definition der Sinneswahrnehmung
2.1 Das Wahrnehmungsvermögen ist bloße Möglichkeit
2.2 Der Wahrnehmungsvorgang ist reine Energie
2.3 Bewegtwerden ist Leiden
2.3.1 Die Theorie vom Wirken und Leiden
2.3.2 Das Leiden beim Wahrnehmen

3 Die Nähe zum common sense Realismus

Literatur

1 Sein ist Bewegung

Der gängigen Lehrmeinung zufolge ist die Schrift „Über die Seele" ein Spätwerk des Aristoteles. Da zudem seine Aufzeichnungen für Vorlesungen an der Akademie vorgesehen waren, so ist damit zu rechnen, daß der Autor Gedanken aus anderen, früheren Werken immer wieder voraussetzen wird, auch ohne explizit auf diese hinzuweisen.

Es scheint mir daher unerläßlich, der Untersuchung über die allgemeine De­finition der Wahrnehmung den Grundgedanken der aristotelischen Philosophie vorauszuschicken.

Stark vereinfacht läßt sich die Philosophie des Aristoteles in der Formel „Sein ist

werden" bzw. „Sein ist Bewegung" zusammenfassen. Damit ist gemeint, daß alle natürlichen Dinge nach der Verwirklichung (energeia) ihres Wesens (ousia) stre­ben. Dabei ist das Wesen der Dinge in der Materie zunächst nur der Möglichkeit (dynamis) nach angelegt; im Laufe der Entwicklung manifestiert sich das Wesen allmählich in der Form (eidos), die zugleich das Ziel (telos) der Entwicklung ist.

An allem Seiendem (Werdenden) lassen sich also drei Strukturmomente fin­den, nämlich Beraubung, Materie und Form. Dies sei an einem Beispiel ver­deutlicht: Wenn aus einem ungebildeten Menschen durch Lernen ein gebildeter Mensch wird, so lassen sich unterscheiden:

- der Mensch, der als potentieller (Materie) Träger von Formen über alle Ent­wicklungsphasen hinweg diesen zugrunde liegt
- das Gebildetsein als Form und Ziel, wonach der Mensch strebt und schließ­lich
- das Ungebildetsein als das dem Ziel Entgegenliegende, das Aristoteles Be­raubung nennt.

Werden heißt bei Aristoteles also immer etwas werden, nämlich eine Veränderung (Umschlag) bezüglich Qualität, Quantität, Ort und Substanz. Ein Umschlag der Substanz vom potentiell zum wirklich Seienden meint das Werden im engeren Sinne.

Alles Seiende (Werdende, Bewegte) wird bewegt von etwas, das immer etwas anderes ist als das Bewegte und dieses kann außerhalb oder innerhalb des Beweg­ten liegen. So trägt das Natürliche den Ursprung seiner Bewegung in sich selbst; wie die Ruder das Schiff, so bewegt die Seele den Körper. Anders verhält es sich bei künstlichen Dingen: der Handwerker wirkt als äußere Ursache auf den Stoff ein, um ihm zu einem bestimmten Zweck eine bestimmte Form zu verleihen.

2 Die allgemeine Definition der Sinneswahrneh­mung

Aristoteles präsentiert zunächst eine sehr vage Definition der Sinneswahrneh­mung, die sich trotz ihrer Unbestimmtheit an die formalen Kriterien einer Real­definition hält: Wahrnehmung sei demzufolge eine Umwandlung (genus proxi­mum), die auf einem Bewegtwerden und Erleiden (differentia specifica) beruhe (De an. 416 b 35).

Aristoteles' Aufgabe ist es nun, die artspezifische Differenz „Bewegung und Erleiden" näher zu bestimmen, so daß letztlich das Wesen der Wahrnehmung be­stimmt ist. Diese drei Termini, die grundlegend für die aristotelische Philosophie überhaupt sind, lassen sich auch auf das Problem der Wahrnehmung übertra­gen. Insbesondere die Konzepte der Bewegung und des Erleidens sollen für das Nachfolgende als Richtschnur dienen.

2.1 Das Wahrnehmungsvermögen ist bloße Möglich­keit

Daß das Wahrnehmungsvermögen nicht wirklich, sondern bloß möglich sein kann, beweist Aristoteles progressiv durch einen Schluß der Form modus tollens:

Wenn das Wahrnehmungsvermögen wirklich wäre (p), dann würde es selbst auch wahrnehmbar sein (q) und der Wahr­neh­mungs­vorgang würde auch ohne externe Dinge stattfinden (r). Nun ist dies nicht der Fall (2). Deshalb kann das Wahr­neh­mungs­vermögen nicht wirklich sein (3).

Die Beweisgründe (1) und (2) stammen aus der Erfahrung und müssen daher als wahr anerkannt werden. Somit ist das Argument als Ganzes zu akzeptieren. Da ferner Nicht-Wirkliches nur möglich sein kann, denn Aristoteles kennt nur diese beiden Seinsweisen, kann das Wahrnehmungsvermögen nur ein ens in potentia sein.

Als nächsten Schritt führt Aristoteles eine Analogie an, mittels derer er das Wahr­neh­mungsvermögen mit dem Brennbaren und den Gegenstand der Wahr­nehmung mit dem Zündstoff in Entsprechung setzt. Dieser Vergleich erfüllt zwei Aufgaben:

1. Zunächst wird die bereits erwiesene These, daß das Wahrnehmungsvermö­gen bloß der Möglichkeit nach existiere, erhärtet und metaphorisch ver­anschaulicht: wäre das Wahrnehmungsvermögen aktuell, so würde es sich selbst verzehren, gleich dem Brennstoff, der des Zündstoffes nicht bedürfe (wenn es einen solchen gäbe)
2. Zum anderen illustriert Aristoteles die These, daß das Wahrnehmungsver­mögen sich gar nicht selbst aktivieren kann, sondern daß es dazu eines anderen. bedarf, nämlich seines Gegenstandes. Es stehen sich also zwei ontologisch differente Entitäten gegenüber, wobei das ens in actu (der Ge­genstand der Wahrnehmung bzw. der Zündstoff) notwendige Bedingung für die Realisierung des ens in potentia (das Wahrnehmungsvermögen bzw. das Brennbare) ist (vgl. dazu die Theorie vom Wirken und Erleiden).

Aristoteles führt den Gedanken der Doppelnatur alles Seienden konse­quent wei­ter: nicht nur beim Wahrnehmungsvermögen sondern auch bei der Wahrneh­ mungstätigkeit und sogar bei den Wahrnehmungs­gegen­ständen müsse man die Möglichkeit von der Wirklichkeit unterscheiden (De an. 417 a 10 f.). Dieser Textabschnitt legt zwei Fragen nahe:

1. Warum differenziert Aristoteles zwischen diesen drei Begriffen und
2. warum betont er, daß man diese hinsichtlich der Seinsmodi Möglichkeit und Aktualität (Erfüllung) betrachten müsse?

Die Erklärung der ersten Frage ergibt sich aus seiner teleologischen Naturauffas­sung: Demnach gibt es in der Natur keinen Zufall; alles ist um eines bestimmten Zweckes willen da. So ist auch das Wahrnehmungsvermögen für seine Tätigkeit, das Wahrnehmen, da. Und auch dieses ist wiederum nur sinnvoll, wenn es Ge­genstände gibt, die wahrnehmbar sind. Wie sich die natürliche Zweckordnung im Begrifflichen widerspiegelt, geht deutlich aus einer Passage über das Ernährungs­vermögen vor (De an. 415 a 16 f.):

„Wenn man nun sagen soll, was jedes von ihnen ist, z.B. was das Denkvermögen oder das Wahrnehmungsvermögen oder das Ernäh­rungs­vermögen, ist vorher noch zu sagen, was das Denken oder Wahrnehmen ist. Denn früher als die Vermögen sind dem Begriffe nach die Betätigungen und Ausübungen. Steht es so und muß man noch früher als sie die Objekte betrachten-, dann muß man zuerst über diese handeln, so über Nahrung, Wahrnehmbares und Denkbares."

Es ist ersichtlich, daß die Definition des Wahrnehmungsvermögens die des Wahr­nehmens und diese wiederum die der Wahrnehmungs­gegen­stän­de voraussetzt.

Erst unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Zergliederung des Wahrnehmungs­vorganges in Gegenstand, Tätigkeit und Vermögen sinnvoll.

Wenden wir uns nun der zweiten Frage zu. Die Differenzierung von Wahrneh­mungsvermögen, -tätigkeit und -gegenstand ist zunächst die konsequente Anwen­dung des Akt-Potenz-Dualismus auf die Sinneswahrnehmung. Aristoteles hatte schon in seinen Schriften über die Prinzipien der Naturwissenschaft (Physik) die Doppelnatur sowohl des Bewegenden als auch des Bewegten herausgearbeitet. Demzufolge ist das Bewegende einmal das, was die Kraft zu bewegen hat (Gegenstand der Wahrnehmung, der sich gerade nicht im Wahrnehmungsfeld befindet) und das, was als Bewegendes tätig ist (der externe Gegen­stand, der sich gerade im Wahrnehmungsfeld des Wahrnehmenden befindet). Ebenso hat das Bewegte einmal bloß die Fähigkeit, bewegt zu werden (das Wahr­nehmung­svermögen als solches) und einmal wird es tatsächlich bewegt (der Vollzug der Wahrnehmung).

Zum anderen scheint diese Differenzierung noch eine vorbereitende Funktion zu erfüllen: die nachfolgende Analogie, mittels derer Aristoteles die Wahrnehmung mit dem Wissen vergleicht greift auf die soeben unterschiedenen Begriffe zurück (siehe unten 2.2).

[...]

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Die allgemeine Definition der Sinneswahrnehmung bei Aristoteles
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Philosophisches Seminar)
Note
2
Autor
Jahr
1995
Seiten
14
Katalognummer
V59149
ISBN (eBook)
9783638531641
ISBN (Buch)
9783656779490
Dateigröße
524 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Einzeiliger Zeilenabstand
Schlagworte
Definition, Sinneswahrnehmung, Aristoteles
Arbeit zitieren
Werner Müller (Autor:in), 1995, Die allgemeine Definition der Sinneswahrnehmung bei Aristoteles, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59149

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