Zwischen Schuld und Unschuld. Zur ambivalenten Figurenzeichnung im Sturm und Drang am Beispiel der Kindsmordliteratur

Wagners "Die Kindermörderin" und Lenzs "Zerbin oder die neuere Philosophie"


Hausarbeit, 2018

27 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Kindsmord im 18. Jahrhundert

3. Die literarische Umsetzung: Wagners Die Kindermorderin 4und Lenz' Zerbin oder die neuere Philosophie

4. Der juristische Diskurs: Zwischen Recht und Unrecht

5. Die ambivalente Figurenzeichnung: Von Opfern und Tatern
5.1 Die weiblichen Figuren: Evchen und Marie
5.1.1 Tugend und Laster
5.1.2 Selbstentfaltung und Fremdbestimmung
5.2 Die mannlichen Figuren: Von Groningseck und Zerbin
5.2.1 Vernunft und Leidenschaft
5.2.2 Autonomie und Determiniertheit
5.2.3 Doppel- und Scheinmoral

6. Schlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„[K]annst du Engel sagen, ohne an die Gefallne zu denken?"1 Mt diesen Worten Evchens en-det der erste Akt Wagners Die Kindermorderin, in dem die Burgerstochter durch einen Ballbe-such die burgerliche Sphare verlasst und durch Leutnant von Groningseck, an den sie ihre Worte richtet, zur vorehelichen Sexualitat gedrangt wird. Sie verdeutlichen den Spannungszu-stand der jungen Frau, die die Rolle des unschuldigen Engels, aber gleichzeitig auch die der Gefallenen einnimmt und so schlieBlich - als Opfer und Tater zugleich - ihr Kind totet. Der Kindsmord, der Ende des 18. Jahrhunderts in zahlreichen literarischen Werken verarbeitet wurde, wird in dieser Untersuchung naher betrachtet und mit der ambivalenten Figurenzeich-nung, die typisch for die Sturm-und-Drang-Literatur ist, in Verbindung gesetzt. Es wird der Annahme nachgegangen, dass sich die Kindsmordliteratur besonders eignet, urn die Komple-xitat der Sturm-und-Drang-Charaktere und die Undurchdringbarkeit ihrer Psyche und somit auch ihres Handelns darzustellen, da eine Parallele zur Schwierigkeit der Beurteilung der Tat, die zwischen Schuld und Unschuld sowie Recht und Unrecht schwankt, gezogen werden kann. Es wird zudem uberpruft, inwiefern die Figuren durch die ambivalente Konzeption als Tater und Opfer zugleich prasentiert werden. So lasst sich eine Ubertragung dieser Struktur auf den juristischen Diskurs vornehmen, denn auch hier erscheint es schwierig, die Tat auf-grund von unterschiedlichsten Beweggrunden und Begleitumstanden abschlieBend zu beurtei-len. Im Zentrum der bisherigen Forschung liegen insbesondere die literarische Darstellung der Taterinnen und ihrer Beweggrtinde, das System Ehre und das Schema vom unschuldigen Madchen und seinem Verfuhrer Zudem wird die in den Werken angelegte Gesellschaftskritik immer wieder aufgegriffen. Auf einige dieser Ausfuhrungen wird im Laufe der Untersuchung Bezug genommen. Zunachst wird zur thematischen Einfuhrung die historische Realitat der Kindstotung im 18. Jahrhundert dargestellt, worauf einige Erlauterungen zur literarischen Um-setzung im Sturm und Drang folgen. Im Fokus stehen hierbei zwei Beispiele der Kindsmordli­teratur: zum einen Die Kindermorderin von Wagner als das wohl bekannteste Drama, das sich mit dieser Thematik beschaftigt, und zum anderen Zerbin oder die neuere Philosophie von Lenz, in dem start der Taterin der Kindsvater im Mttelpunkt der Erzahlung steht. An diesen Werken wird anschlieBend die Analyse durchgefuhrt. Zunachst wird hierbei der juristische Diskurs und die Art und Weise, wie dieser in den Werken thematisiert wird, dargestellt, wobei die Diskrepanz zwischen geltendem Recht und der Auffassung von Unrecht beriicksichtigt wird. AnschlieBend folgt die Analyse der ambivalenten Figurenzeichnung, bei der die Zerris-senheit der Protagonisten zwischen verschiedenen Bereichen im Fokus steht. Hierbei wird zwischen den weiblichen und den mannlichen Protagonisten unterschieden, urn auf die sche-menhafte Darstellung von Verfuhrer und unschuldigem Madchen Bezug zu nehmen. Bei den Protagonistinnen Evchen und Marie geht es insbesondere um den Zwiespalt zwischen dem in der Zeit als tugendhaft und dem als lasterhaft angesehenen Verhalten der Frauen, wobei sie der ihnen zugeschriebenen Rolle als unschuldige Tochter durch ihre sexuellen Handlungen nicht immer entsprechen konnen. In einem nachsten Schritt tritt die Fremd- und Selbstbestimmung in den Vordergrund, wobei der innere Konflikt der jungen Frauen prasentiert wird, sich den gesellschaftlichen und familiaren Regeln sowie der mannlichen Verfugungsgewalt zu beugen oder aber ihrer angestrebten Selbsrverwirklichung nachzugehen. Die Kategorien, nach denen die mannlichen Protagonisten analysiert werden, weisen bewusst Parallelen zu den bereits ge-nannten auf, da sie durch die historische Realitat in ahnliche Bedrangnisse kommen, sodass le-diglich einige Akzentuierung vorgenommen werden. So findet sich hier die Spannung zwi­schen Vernunft und Leidenschaft sowie das Straucheln zwischen Determiniertheit und dem Streben nach Autonomie und selbstbestimmter Liebe. Durch das Schwanken zwischen einer Entsprechung der gesellschaftlichen Norm und dem Erfullen eigener Wunsche soil abschlie-Bend die Doppel- und Scheinmoral betrachtet werden. In Bezug auf alle Analyseebenen wer­den die Figuren daraufhin untersucht, ob und in welcher Hinsicht sie der Opfer- bzw. Taterrol-le entsprechen, weshalb die Werke von Wagner und Lenz gewahlt wurden, da in beiden genau diese Schuldfrage thematisiert wird.

2. Der Kindsmord im 18. Jahrhundert

Die strafrechtliche Grundlage fur den Kindsmord bildete im 18. Jahrhundert die Carolina, die auf der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 beruhte, laut welcher neben der Kindestotung (Artikel 131) auch fur die Kindesaussetzung, Abtreibung und Empfangnisverhu-tung sowie eine verheimlichte Schwangerschaft eine Leibes- oder Todesstrafe verhangt wur-de.2 Neben diesen Gesetzten wurde voreheliche Sexualitat mit Landesausweisungen oder KirchenbuBen bestraft, da diese als Sittenverfall gait.3 Die „Kontrolle und Disziplinierung des Se-xualverhaltens der Ledigen durch die Umwelt"4 wurde als notwendig eingeschatzt, da uneheli-che Kinder aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit einer Aussetzung oder Verwahrlosung als eine Belastung fur den Staat angesehen wurden. Das hohe StrafmaB ist u. a. durch den Ein-fluss der Kirche erklarbar, da dem Kind laut religioser Auffassung die Taufe und somit die Chance auf ein ewiges Leben durch die eigene Mutter verwehrt wurde. Zugleich sollte die Fa-milie als Institution geschutzt werden, was daraus ersichtlich wird, dass auch Ehebruch oder Homosexuality mit der Todesstrafe geahndet wurden.5 Hinzu kommt, dass im 18. Jahrhundert der konsequente Strafvollzug insbesondere der Abschreckung diente und somit Straftaten re-duziert werden sollten.6 Immer wieder wird jedoch hervorgehoben, dass es gerade die Angst vor den entwurdigenden Strafen war, die letztlich zur Totung des Kindes fuhrten. So betont auch Peters: „Der Staat befand sich in dem Dilemma, durch seine rigiden Gesetze die Voraus-setzungen fur die Tat selbst zu schaffen, gleichzeitig aber gegen den angeblich drohenden Sit­tenverfall angehen zu wollen."7 Daher wird hinsichtlich des Motivs in zeitgenossischen Texten die Angst der Taterinnen vor der Schande, die ihnen aufgrund der vorehelichen Sexualitat droht, genannt. Dazu kommen Sorgen urn die Existenz und Versorgung des Kindes, welche durch eine drohende Auflosung des Arbeitsverhaltnisses verstarkt wurden.8 Denn Untersu-chungen konnten zeigen, dass es sich bei den Taterinnen meist urn Dienstmagde und bei den Kindsvatern urn Knechte handelte, sodass beide aus dem gleichen Stand kamen.9 Der Umstand, dass gerade die Mutter, die zuvor als liebend und aufopfernd charakterisiert wurde, ihr eigenes Kind totet, gab den Anlass dazu, die Tat psychologisch zu begriinden, so­dass die Beweggrunde und die gesellschaftlichen Begleitbedingungen Eingang in den juristi-schen Diskurs fanden.10 So kam es zu offentlichen Auseinandersetzungen in den fur die Zeit typischen Preis- und Streitschriften."11

3. Die literarische Umsetzung im Sturm und Drang:

Wagners Die Kindermorderin und Lenz' Zerbin oder die neuere Philosophic Das Thema Kindsmord findet zu einem Zeitpunkt, in dem die Haufigkeit der verzeichneten Kindstotungen deutlich zunimmt, Eingang in die Literatur des Sturm und Drang.12 Da es schon zu friiherer Zeit zu Kindstotungen kam, liegt die intensive Beschaftigung mit diesem Thema eher darin begriindet, dass die Diskussion liber das moralische Vergehen der auBerehe-lichen Sexualitat im Sturm und Drang eine bedeutende Rolle einnimmt.13 Die Debatten uber die Unangemessenheit der Strafe fuhrten dazu, dass dieser Diskurs auch in der Literatur verar-beitet wurde14, indem „die Ruckstandigkeit der Gesetze und die Grausamkeit der damaligen Strafjustiz"15 und zugleich die defizitaren Zustande der Gesellschaft hervorgehoben wurden. So wurden Aspekte wie die Unzurechnungsfahigkeit der jungen Frauen und weitere Beweg-griinde sowie das Mtleid mit den Taterinnen und die Schuldfrage offentlich diskutiert.16 Eini-ge historische Falle wie jener der Susanna Margaretha Brandt, welche insbesondere als Goe-thes Gretchen bekannt wurde, oder jener der Maria Sophia Leypold, der vermutlich Wagner inspirierte, dienten den Literaten als Vorlage ihrer Werke.17 Laut Neumeyer ist es der Verteidi-ger Brandts, der das Bild einer „sittsamen Frauenseele [...], der es in ihrer Tat einzig und allein urn ihre Ehre ging"18, etabliert, welches Eingang in die Literatur findet. Es wird jedoch kriti-siert, dass die literarische Abbildung des Kindsmordes der historischen Realitat nicht gerecht wird.19 So wird in der Forschungsliteratur darauf hingewiesen, dass trotz der psychologischen Tiefe der Tat auf eine Art Schablone zuriickgegriffen wurde.20 Dies betrifft insbesondere die Figurenzeichnung: So gilt meist ein Adeliger als Verfuhrer der unschuldigen Burgerstochter, welche er nach dem sexuellen Kontakt verlasst und sich die junge Frau somit ihrem Schicksal allein stellen muss, was letztlich zu einer Verheimlichung der Schwangerschaft und zur Ermordung des Kindes fuhrt.21 Peters erklart:

Mit dieser Konstellation liegt fur die Forschung die Intention der damaligen Autoren auf der Hand: Sie hatten den Libertinismus des Adels und das herrschende Strafrecht, aber auch die biirgerliche Schemmoral kntisieren wollen.22

In den folgenden Kapiteln wird die literarische Verarbeitung der Kindsmordthematik an Wag­ners Die Kindermorderin (1776) und Lenz' Zerbin oder die neuere Philosophie (Mil)13 im Hinblick auf die Komplexitat der Figuren und der Tat analysiert. Wagners Drama gehort zu den bekanntesten Sturm-und-Drang-Werken, die sich mit dem Kindsmord beschaftigen. Durch die Darstellung von Tabus wie der Vergewaltigungsszene im Bordell und vor allem durch den veriibten Kindsmord erregt Wagner Aufmerksamkeit.24 So veroffentlicht er sein Werk, welches er als Lesedrama konzipierte, zunachst anonym und schreibt es spater urn, so-dass der Kindsmord durch das Erscheinen des Vaters verhindert wird und Evchen und von Groningseck heiraten.25 Die Konsequenzen des Kindsmordes werden nur noch als Moglich-keiten formuliert, was passiert ware, wenn Evchen ihr Kind getotet hatte. Der neue Titel laute-te Evchen Humbrecht oder Ihr Mutter merkts Euch!26 Im selben Jahr wie Die Kindermorderin erscheint auch Lenz' Erzahlung Zerbin oder die neuere Philosophie, in der Lenz ebenfalls das Motiv des Kindsmordes aufgreift, aber nicht die Taterin, sondern den Kindsvater Zerbin in den Fokus stellt. Die Ungerechtigkeit der Gesetze erhalt eine zusatzliche Akzentuierung, da Marie nur aufgrund der verheimlichten Schwangerschaft zum Tode verurteilt wird. In beiden Werken wird der juristische Diskurs und die Schuldfrage verhandelt, wobei die Komplexitat der Tat in Erscheinung tritt und der innere Konflikt der Protagonisten veranschaulicht wird.

4. Per juristische Diskurs: Zwischen Recht und Unrecht

In beiden Werken wird der Konflikt zwischen geltendem Recht und der Kritik an dessen Un­gerechtigkeit aufgezeigt, sodass zunachst die Realitat der Gesetze und deren eiserne Durch-fuhrung betont wird. Bei Lenz heifit es so: „Die Gesetze waren zu streng, der Fall zu deutlich; sie ward enthauptet." (Z S. 28) Der Erzahler thematisiert indirekt die Unangemessenheit der Verurteilung Maries, indem er sagt: „Nach den Gesetzen ist eine verhehlte Schwangerschaft allein hinlanglich, einer Weibsperson das Leben abzusprechen, wenn man auch keine Spur ei-ner Gewalttatigkeit an dem Kinde gewahr wird." (Z S. 25) Dass bereits die verheimlichte Schwangerschaft als Tatbestand geniigt, hebt die Grausamkeit der geltenden Gesetze hervor Dass diese unabanderlich sind, beteuert bei Wagner auch der Fiskal: „Das Gesetz, welches die Kindermorderinnen zum Schwerdt verdammt, ist deutlich, und hat seit vielen Jahren keine Ex­ception gelitten [...]." (KM S. 84) Einige Figuren protestieren gegen diese Ungerechtigkeit; die Taterinnen hingegen akzeptieren das geltende Recht. Peters stellt fest: „Wahrend die Frau die religiosen Vorstellungen von Schuld und Suhne vertritt, steht der Verfuhrer for eine aufkla-rerische Justiz, die die Motive for die Tat strafmildernd berucksichtigen wurde."27 So beteuert v. Groningseck, dass er nach Versailles gehen will, urn „bey der gesetzgebenden Macht selbst Gnade for sie auszuwurken" (KM S. 84). Die Prasenz der Gesetze im Alltag, die vor allem der Abschreckung dienen, wird dadurch deutlich, dass in Die Kindermorderin „die Verordnung von der Kanzel gelesen [wird], die unsre Konige wegen den Duellen, dem Hausdiebstahl und dem Kindermord gemacht haben" (KM S. 57). Zudem weist Frau Marthan darauf hin, dass es moglich ist, dass sie die Kindermorderin genauso wie den Muttermorder, der sich selbst um-brachte, „den andern zum Exemple, gar durch die Stadt schleifen" (KM S. 74) lassen. Auf-grund der Gesetzesharte beugt sich selbst die mitfuhlende Frau Marthan, die urn die missli-chen Umstande der Gesellschaft, die Evchen bedrangen, Bescheid weiB, dem geltenden Ge­setz und meldet den Kindsmord, da sie gesellschaftliche Sanktionen oder gar eine Strafe furchtet (KM S. 81: „das muB ich gleich gehen anzeigen, sonst bin ich verlohren. - In der See-le dauert sie mich - aber"). In den Texten wird so immer wieder das Mitleid anderer betont: Sogar der Kerkermeister hat Mtleid mit Marie (vgl. Z S. 27), die Stadtgemeinschaft hofft auf ihre Begnadigung (vgl. Z S. 28) und „man konnte es nicht begreifen, nicht fassen, daB eine so liebenswurdige Gestalt unter Hekershanden umkommen sollte" (Z S. 28). In den Texten wen-den sich die Figuren - und bei Lenz der Erzahler - deshalb an die Richter, urn deren Mtgefiihl zu erwecken und sie aufzufordern, die begleitenden Umstande mit in ihr Urteil einzubezie-hen.28 So spricht der Erzahler bei Zerbin die Richter direkt an:

Richter, Richter, habt ihr die Gefuhle eines jungen Madchens je zu Rat gezogen, wenn ihr iiber ihre Tat zu sprechen hattet! Ahndet ihr, was das heiflt, seine Schande einer ande-ren entdecken, was fur Uberwindung das kostet, was fur ein Kampf zwischen Tod und Leben in einer weiblichen Seele, die noch nicht schamlos geworden ist, da entstehen muG? (Z S. 25)

Undgenauso:

Wie vieles kommt auf den Augenblick an [... ]! Ach, daB unsere Richter, vielleicht in spa-tern besseren Zeiten, der gotdichen Gerechtigkeit nachahmend, auch dies auf die Waag-schale legten, nicht die Handlung selbst, wie sie ins Auge fallt, sondern sie mit alien ihren Veranlassungen und zwingenden Ursachen richten, eh' sie sie zu bestrafen das Herz hat-ten! (Z S. 17)

So wird die Diskussion liber strafmildernde Umstande wie eine Unzurechnungsfahigkeit29, die vielfaltigen Motive und andere Begleitumstande ebenso aufgegriffen. Bei Zerbin lasst sich ein Gleichnis finden, welches sich auf das Einbeziehen der Motive bei der Beurteilung der Tat be-zieht. So werden bei Zerbins Werdegang seine Vorgeschichte und alle Beweggriinde fur sein Handeln beriicksichtigt. Genauso sollte es auch beim Urteil iiber die Taterinnen sein. Luserke spricht von einer ,,Komplexitatssteigerung"30 des Tatmotivs, was sich im Sinne dieser Unter-suchung auch auf die Vielschichtigkeit der Charaktere beziehen lasst.

Urn die Ungerechtigkeit des Strafrechts zu betonen, wird bei Wagner zudem die „strafrechtli-che Willkur der Exekutive, als Beitrag zu einer Diskussion iiber die Strafrechtsreform [.. .]"31 aufgegriffen. So bleibt der Fausthammer, der ein bettelndes Kind totgeschlagen hat, ungestraft (vgl. KM S. 63), es erscheint als ungerecht, dass der Dienstmagd Lissel die Folter droht (vgl. KM S. 69f) und v. Groningseck kritisiert, dass Hasenpoth mit seinen Intrigen ungestraft da-vonkommt (KM S. 84: „Wo ist der Staat, in dem solche Ungeheuer, solche Hasenpoths [...] nach Verdienst bestraft werden?"). Die Willkur des Rechtssystems wird jedoch auch dadurch deutlich, dass das gewaltige Vorgehen v. Groningsecks ungestraft bleibt. Unterstutzt wird dies durch die Ignoranz Marianels und der Wirtin, die nicht gegen die Tat vorgehen (vgl. KM S. 16), sodass es so scheint, als wurden fur den Adel andere Gesetze gelten. Hier setzt auch die Kritik daran an, dass der Kindsvater nicht in die Verantwortung gezogen wird. Das Ausbleiben der Rechtsstrafe meint der Vater Maries durch die Strafe Gottes kompensieren zu konnen, urn so letztlich Gerechtigkeit zu erlangen: „Du kennst ihn nicht - so wird Gott ihn finden, Gottes Gericht ihn finden!" (Z S. 26)32 Die Ungerechtigkeit wird folglich auf der Figurenebene immer wieder direkt thematisiert; das System jedoch bleibt durch die Gesamtanlage des Texte unverandert, da Marie und Evchen letztlich verurteilt werden, denn in der Kindsmordliteratur gibt es „keine Gnade, die religiosen Vorstellungen tragen ausnahmslos den Sieg davon, womit literarisch ein effektvolles Ende gesichert ist."33

5. Die ambivalente Figurenzeichnung: Von Opfern und Tatern

Die Figuren des Sturm und Drang sind meist „zerrissen[e], in sich selbst gespalten[e] Figuren [...], die in ihrer Entzweiung ein Muster gesellschaftlicher Repression sind."34 Aufgrund der Zusammengehorigkeit von Gegenpolen handelt es sich urn komplexe Figuren, die durch eine psychologische Tiefenscharfe gepragt und schwer zu durchdringen sind. Eine einseitige Be-wertung ihres Handelns reicht somit nicht aus. So kommt es vor, dass eine Figur wie Zerbin aus Gefuhlen wie „Scham, Wut und Dankbarkeit" (Z S. 19) gleichzeitig weint und so das dif-ferenzierte Gefuhlsspektrum prasentiert wird und auch Evchen mehr als das unschuldige Mad-chen, namlich „eher eine komplexe Figur als eine naive Natur"35 ist. Wie bereits erwahnt, ist hier die Schuldfrage von Bedeutung, sodass die Figuren zwischen ihrer Rolle als Opfer und later wanken, in die sie durch Fremdeinwirkung, aber auch durch eigene Dispositionen rut-schen. Das Thema des Kindsmordes eignet sich besonders, urn dieses „duale Wesen der Figu­ren"36 darzustellen, denn die Vielschichtigkeit der Figuren lasst sich in der Vielfalt der Tatmoti-ve wiederfinden. Dadurch, dass die Figuren auf ihrer ,Schattenseite' manipulierbar, hilflos und konturlos sind, wird beim Leser Mtleid und Empathie fur sie erregt, selbst wenn sie einen Fehler begehen. Diese Seite lasst sich in fast alien Figuren der ausgewahlten Werke finden. Dass die Zerrissenheit fur die Figuren eine Belastung darstellt, wird bei Zerbin deutlich, indem derErzahlererklart:

Wir schwanken immer, miissen zwischen Hofmung und Verzweiflung schwanken; die am kiihnsten befliigelte Seele schwankt desto furchterlicher. Glucklich, wessen starkgewordene Vernunft in dieses Schwanken selbst ein gewisses Gleichgewicht zu bringen weiB! (Z S. 13)

[...]


1 Die folgenden Verweise auf die Primarliteratur erfolgen im Fliefttext (Sigle KM) und beziehen sich auf: Wagner, Heinrich Leopold: Die Kindermorderin. Ein Trauerspiel. Im Anhang: Ausziige aus der Bearoeitung von K. G. Lessing (1777) und der Umarbeitung von H. L. Wagner (1779) sowie Dokumente zur Wirkungsgeschichte. Hg. von Jorg-Ulrich Fechner. Bibliogr. erg. Ausgabe (Reclams Universal-BibliothekNr. 5698). Stuttgart: 2014 (hier S. 18).

2 Vgl. HaBler, Giinther / HaBler, Frank: Kindstotung in der Rechtsgeschichte. In: HaBler, Frank / Schepker, Renate / Schlafe, Detlef (Hg): Kindstod und Kindstotung. Berlin: 2008, S. 31-54 (hier S. 39f.); Jeck, Thiemo: Die Anfange der Kriminalpsychologie. Zur Verbindung der Schonen Literatur und der Kriminologie in der Romantik und dem Sturm und Drang. Berlin: 2010, S. 75.

3 Vgl. Jeck: Die Anfange der Kriminalpsychologie, S. 79.

4 Peters, Kirsten: Der Kindsmord als schone Kunst betrachtet. Eine motivgeschichtliche Untersuchung derLiteraturdes 18. Jahrhunderts. Wureburg: 2001, S. 30.

5 Vgl. Weber, Heinz-Dieter: Kindesmord als tragische Handlung. In: Der Deutschunterricht 2/ Heft 2 (1976), S. 75-97 (hier S. 77).

6 Vgl. Jeck: Die Anfange der Kriminalpsychologie, S. 74.

7 Peters: Der Kindsmord als schone Kunst betrachtet, S. 203.

8 Vgl. Weber: Kindesmord als tragische Handlung, S. 78.

9 Vgl. Wilson, W. Daniel: Kindsmord. In: Luserke-Jaqui, Matthias (Hg.): Handbuch Sturm und Drang. Berlin/Boston: 2017, S. 68-74 (hier S. 69).

10 Vgl. Peters: Der Kindsmord als schone Kunst betrachtet, S. 9.

11 Vgl. Lee, Hyunseon: Vor Gericht. Kindsmord im Sturm und Drang und Heinrich Leopold Wagners Drama Die Kindermorderin (1776). In: Lee, Hyunseon / Maurer Queipo, Isabel (Hg.): Morderinnen Kiinstlerische undmediale Inszenierungen weiblicher Veibrechen Bielefeld: 2013, S. 89-110 (hier S. 91).

12 Vgl. Lee: Vor Gericht. Kindsmord im Sturm und Drang, S. 93.

13 Vgl. Wilson: Kindsmord, S. 68.

14 Dass gerade ein juristischer Diskurs in den Werken thematisiert wird, konnte daran liegen, dass viele Literaten wie auch Wagner und Lenz Juristen waren (vgl. HaBler: Kindstotung in der Literatur, S. 24).

15 Rameckers, Jan Matthias: Der Kindesmord in der Literatur der Sturm-und-Drang-Periode. Ein Beitrag zurKultur- und Literatur-Geschichte des 18. Jahrhunderts. Rotterdam: 1927, S. 150.

16 Lee: Vor Gericht. Kindsmord im Sturm und Drang, S. 97.

17 Vgl. Weber: Kindesmord als tragische Handlung, S. 77; Weitere Werke, die sich mit dem Thema des Kindsmord beschaftigen sind u. a. Goethes Urfaust (1773/75, veroffentlicht 1887), Staudlins Seltha, die Kindermorderin (1776), Burgers Ballade Des Pfarrers Tochter von Taubenhain (1782) und Schillers Gedicht Die Kindsmorderin (1781).

18 Neumeyer, Harald: Psychenproduktion Zur Kindsmorddebatte in Gesetzgebung Wissenschaft und Literatur um 1800. In: Boigards, Roland / Lehmann, Johannes Friedrich (Hg): Diskrete Gebote. Geschichten der Machtum 1800. Festschrift fflr Heinrich Bosse. Wureburg: 2002, S. 47-76, (hier S. 47).

19 Vgl. HaBler: Kindstotung in der Rechtsgeschichte, S. 43.

20 Vgl. Rameckers: Der Kindesmord in der Literatur der Sturm-und-Drang-Periode, S. 151.

21 Vgl. Peters: Der Kindsmord als schone Kunst betrachtet, S. 10.

22 Peters: Der Kindsmord als schone Kunst betrachtet, S. 10.

23 Die folgenden Verweise auf die Primarliteratur erfolgen im Fliefttext (Sigle Z) und beziehen sich auf: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Erzahlungen. Zerbin. Der Waldbruder. Der Landprediger. Hg. von Friedrich Voit. Bibliogr. erg. Ausgabe (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8468). Stuttgart: 2002, S. 3-30.

24 Vgl. Luserke-Jaqui, Matthias: Die Kindermorderin. In: ders.: Handbuch Sturm und Drang, Berlin/Boston: 2017, S. 328-338 (hier S. 330).

25 Vgl. Karthaus, Ulrich: Sturm und Drang. Epoche - Werke - Wirkung. 2., aktualisierte Auflage. Ulm: 2007, S. 122; Vgl. Schonenborn, Martina: Tugend und Autonomic Die literarische Modellierung der TochterfigurimTrauerspiel des 18. Jahrhunderts. Gottingen: 2004, S. 187.

26 Auf eine inhaltliche Zusammenfassung der Werke sowie auf die Bearbeitung von Die Kindermorderin wird aufgrund des Umfangs der Untersuchung nicht weiter eingegangen.

27 Peters: Der Kindsmord als schone Kunst betrachtet, S. 201.

28 Vgl. Rameckers: Der Kindesmord in der Literate der Sturm-und-Drang-Periode, S. 186.

29 Bei Evchen wird der Ausnahmezustand, in dem sie sich befindet, sehr deutlich: „Ja! was wollt ich doch? - warum schickt ich sie aus. - Mein amies bischen Verstand hat, glaub ich, vollends den Herzstoft bekommen!" (KM S. 79).

30 Luserke, Matthias: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindermorderin. In: Interpretationen Dramendes Sturm und Drang. Erw. Ausg. 1997. Nachdr. von Rainer Nagele (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8410). Stuttgart: 2002, S. 161-196 (hier S. 191).

31 Schonenborn: Tugend und Autonomic S. 183.

32 Dieser Strafausgleich wird letztiich dadurch, dass Zerbin Selbstmord begeht, um sich mit Marie „vor denselben Richterstuhl zu stellen" (Z S. 29), erfullt.

33 Peters: Der Kindsmord als schone Kunst betrachtet, S. 201.

34 El-Dandoush, Nagla: Leidenschaft und Vernunft im Drama des Sturm und Drang. Dramatische als soziale RoUen Wurcbuig: 2004, S. 198.

35 Lee: Vor Gericht. Kindsmord im Sturm und Drang, S. 103.

36 El-Dandoush: Leidenschaft und Vernunft im Drama des Sturm und Drang, S. 200.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Zwischen Schuld und Unschuld. Zur ambivalenten Figurenzeichnung im Sturm und Drang am Beispiel der Kindsmordliteratur
Untertitel
Wagners "Die Kindermörderin" und Lenzs "Zerbin oder die neuere Philosophie"
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,0
Jahr
2018
Seiten
27
Katalognummer
V590677
ISBN (eBook)
9783346194619
ISBN (Buch)
9783346194626
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kindsmord, Sturm und Drang, Kindermörderin, Zerbin, Lenz, Wagner
Arbeit zitieren
Anonym, 2018, Zwischen Schuld und Unschuld. Zur ambivalenten Figurenzeichnung im Sturm und Drang am Beispiel der Kindsmordliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/590677

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