Generationenhierarchie in Franz Kafkas Erzählung `Das Urteil`


Hausarbeit, 2006

16 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Vater-Sohn-Konflikt
2.1 Das Dramendreieck (dramatische Elemente)
2.2 Situation am Schreibtisch
2.3 Dominanz des Sohnes
2.4 Dominanz des Vaters

3. Zusammenfassung

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der 1924 im Alter von 40 Jahren verstorbene Franz Kafka wurde 1883 als erstes Kind jüdischer Eltern in Prag geboren. Er hatte drei Schwestern und zwei Brüder, die beide im Säuglingsalter starben. Seine Eltern, Julie und Hermann, besaßen einen Galanteriewarenladen. Nachdem Franz Jura studiert hatte, arbeitete er in einer Versicherungsanstalt. 1902 lernte er seinen Lebensfreund Max Brod kennen, den späteren Herausgeber seiner Werke. Sein Leben widmete er dem Schriftstellertum. Goethe, Schiller, Hebbel, Kleist, Mörike, Dickens, Flaubert und andere bekannte Autoren interessierten ihn. Sein Denken war anspruchsvoll und lebensphilosophisch. Er selbst hielt sich für einen Lebensversager und fühlte sich minderwertig. Die Beziehung besonders zu seinem Vater beruhte auf Respekt und Angst, was man im ` Brief an den Vater` (1919) nachlesen kann. Außerdem hatte er Angst vor Frauen: seine Beziehungen zu Felice Bauer, Milena Jesenska und Dora Diamant scheiterten. Einen Monat nach dem Blutsturz 1917 diagnostizierte man bei dem Schriftsteller Lungentuberkulose. Das letzte Jahr seines Lebens verbrachte er mit Dora in Berlin. Franz starb am 03.06.1924 in Kierling an den Folgen seiner Krankheit.

Werke wie `Das Urteil`(1912), das von vielen Biographen und Interpreten als der literarische Durchbruch Franz Kafkas gewertet wird1, `Der Prozeß`(1914), `Blumfeld ein älterer Junggeselle` (1915), `Die Verwandlung`(1916), `Ein Hungerkünstler`(1924) und `Beim Bau der chinesischen Mauer`(1931) zeugen von seiner relativ einfachen, sehr kunstvollen Sprache. Seine Literatur besitzt eine unaufdringliche Originalität. Emotionen schwächt er ab. Romantik und harten Realismus läßt er ganz weg, vielmehr läßt sich eine „dem Expressionismus nahestehende Ausdruckskunst“2 erkennen. Rätselhaftigkeit kennzeichnen viele seiner Kurzgeschichten.

`Das Urteil` ist ein exemplarisches Beispiel für diese Rätselhaftigkeit. Franz schrieb diese „Geschichte“, wie der Autor seine Erzählung nachdrücklich im Untertitel nennt, in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912. In verschiedenen Tagebuchaufzeichnungen dokumentierte er die Entstehung und die enthaltenen biographischen Bezüge zu seinem eigenen Leben. Jedoch geht es mir in dieser Hausarbeit weniger darum, Assoziationen zu seinem Leben herzustellen, als vielmehr darum, den Generationenkonflikt in dieser Erzählung und das Scheitern der Kommunikation zwischen Jung und Alt aufzuzeigen und zu analysieren. Dabei werde ich den Vater-Sohn-Konflikt sowie das Motiv des übermächtigen Vaters näher betrachten. Außerdem werde ich untersuchen, wie der Erzähler diese Übermacht des Vaters sprachlich vergegenwärtigt.

Meine zentrale These besteht also darin, dass der Vater den Sohn am Erwachsenwerden hindert. Als erstes werde ich die Struktur der Erzählung aufzeigen und einen Bezug zum klassischen Dramendreieck herstellen. Nachdem ich dann die Dreigliedrigkeit des `Urteils` näher betrachten werde, wird sich diese Arbeit hauptsächlich mit der Analyse des Kernes: des Vater-Sohn-Konfliktes und dessen Hierarchieverhältnisses beschäftigen.

`Das Urteil` ist eine Erzählung, die zuerst 1913 in Max Brods Jahrbuch für Dichtkunst `Arkadia`, dann 1916 in der Reihe `Der jüngste Tag`, 1935 in `Erzählungen und kleine Prosa`, 1946 in `Erzählungen` veröffentlicht wurde.

Da die existierende Sekundärliteratur zu Franz Kafka die Primärliteratur zahlenmäßig weit übersteigt und viele verschiedene, zum Teil im Ergebnis stark divergierende Deutungsverfahren (psycholanalytische, soziohistorische, biographische etc.), besonders seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, angewendet wurden, kann und muss ich mich nur auf eine kleine Auswahl der für meine Arbeit relevanten Literatur stützen. Für die Analyse des Textes werde ich die werkimmanente Methode anwenden und dabei linear vorgehen.

2. Der Vater-Sohn-Konflikt

2.1 Das Dramendreieck (dramatische Elemente)

`Das Urteil` widmete Franz Kafka seiner späteren Verlobten Felice Bauer. Obwohl selbst der aufmerksamste Leser diese Erzählung nach dem ersten Lesen höchstwahrscheinlich als wild und sinnlos beschreiben würde (wie sie selbst der Autor fast ein Vierteljahr nach ihrer Entstehung charakterisierte)3, läßt sich beim genauen Hingucken eine Struktur erkennen. Diese Makrostruktur beschreibt Reinhard Meurer in seinem Buch `Franz Kafka. Erzählungen`. Er geht dabei vom klassischen Fünfschritt der Tragödie aus und teilt den Text in drei, etwa gleich große, Passagen. Den ersten Teil, der etwa 4 Seiten umfasst (S. 5-9), bezeichnet er als Exposition. Hier wird die Ausgangssituation des Helden dargestellt. Im zweiten Teil (S. 9-13) kommt es zum Handlungseinsatz. Die Konfrontation zwischen Vater und Sohn entwickelt sich, wobei der Sohn dominiert. Auf den letzten Seiten ( S. 13-17) dominiert der Vater als Richter die Situation. Die Konfrontation spitzt sich zu.

Als Peripetie bezeichnet Meurer den Übergang von der zweiten zur dritten Phase, sozusagen die `Auferstehung` des Vaters. Der Selbstmord des Sohnes am Schluss der Erzählung stellt die Katastrophe dar.4

Auf den zwölf Druckseiten wandelt sich der selbstzufriedene junge Kaufmann Georg Bendemann zum verzweifelten Selbstmörder, der kränkliche und infantile Vater zum Riesen und Richter seines Sohnes. Der Anlass dieser Konfrontation ist eine Belanglosigkeit: Der Sohn teilt dem Vater mit, dass er seinem Petersburger Freund nun endlich seine Verlobung anzeigen will. Der Vater jedoch bestreitet zuerst die Existenz dieses Jugendfreundes, um kurze Zeit später zu behaupten, er wisse alles über diesen Freund. Er macht Georg Vorwürfe. Seine Schuld soll darin bestehen, dass er gezögert habe reif zu werden. Der Vater behauptet, Georg wolle den seit Jahren nicht mehr in der Heimat aufgetauchten Freund unterkriegen um heiraten zu können. Ohne dies zu erklären, macht er sogar den Sohn für den drohenden Untergang des entfernten Freundes verantwortlich, ebenso für den Tod der vor drei Jahren verstorbenen Mutter und für den kränklichen Zustand des Vaters.5 Wie Meurer richtig erkennt, scheint die „Reife [...] in dem Zusammenhang mit Heirat gleichsetzbar. Andererseits nimmt der Vater dem Sohn die Heiratsabsicht übel.“6. Tatsächlich läßt der Erzähler den Vater sagen: „weil sie die Röcke so und so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht...“7 `Das Urteil` ist durchzogen mit Paradoxien, auf die ich später näher eingehen werde. Das Paradoxeste jedoch soll an dieser Stelle erwähnt werden: Der Vater verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Dieser nimmt das Urteil mit völliger Selbstverständlichkeit an und vollstreckt es auf der Stelle.

Orientiert an der Position von Reinhard Meurer (31999)8, der „das Element des Zweikampfs als zentrales Motiv, die dialogische und szenische Anlage, die Steigerung im Geschehen, im Tempo, in der Paradoxie der Argumente“ und die „unauflösliche Verbindung von Schuld und Unschuld“9 als Elemente des Dramatischen und exemplarische Fälle von Tragik versteht, lässt sich Folgendes ergänzen:

2.2 Situation am Schreibtisch

Ein dramatisches Element lässt sich gleich am Anfang der Erzählung entdecken: Georg blickt, am Schreibtisch sitzend, nachdem er den Brief an seinen sich im Ausland befindenden Jugendfreund beendet hatte, „aus dem Fenster auf den Fluß [hic!], die Brücke und die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün.“10 Der Blick aus dem Fenster erinnert an die dargestellte Frauenfigur im 19. Jahrhundert, die hoffnungsvoll auf ihren Helden wartet, welcher von draußen kommt. Man verbindet dies mit Melancholie und Sehnsucht. Tatsächlich schwingt in den letzten Wörtern dieses Satzes (`Brücke`, `Anhöhen`) Melancholie mit. Das Innen ist gleichzusetzen mit Privatheit, mit Frau. Im Gegensatz dazu steht das Außen, die Öffentlichkeit, der Mann. Der Erzähler verweist also auf die Handlungsunfähigkeit des Helden, der am Schreibtisch sitzt. Diese Handlungsunfähigkeit, diese melancholische Stimmung, dieses Nachdenken bereitet den Leser schon am Beginn des `Urteils` (unbewusst) darauf vor, dass ein Prozess des Sich-Verlierens folgt: „Der Verlust an rationaler Selbstbestimmung kündigt sich schon im ersten Teil in dem abwesenden Dasitzen und Lächeln an.“11

Es geht um die augenblickliche Lebenssituation Georgs, sein Verhältnis zum namenlosen Jugendfreund aus Petersburg und die beabsichtigte briefliche Kommunikation mit diesem. Hauptfigur im ersten `Akt` ist Georg Bendemann, von dem der Leser erfährt, dass dieser ein junger, erfolgreicher Kaufmann ist und die Geschäfte des Vaters mit großem Geschick führt. Er verkehrt in den besseren Kreisen der Stadt, was dem Leser in dem Brief an den Petersburger Freund mitgeteilt wird: „Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie,...“12 Georg wird uns als selbstsicherer, entschlossener und unabhängiger Mann geschildert. Dafür könnte auch der Nachname `Bendemann` sprechen. Durch die Verstärkung des Namens mit `-mann` „könnte [...] der die Figur kennzeichnende Versuch angedeutet sein, im Leben seinen Mann zu stehen (im Falle Georgs verstärkt durch die bevorstehende Heirat,...)“13, vermutet Meurer. Mit `Versuch` trifft er den Kern, denn der Name des Vaters bleibt dem Leser unbekannt: Der Er-Erzähler und selbst der Held benutzen durchgängig den Ausdruck `der Vater`.

Mit `Vater` verbindet man ein Oberhaupt der Familie, jemanden, der herrscht, Einfluss hat (religiös: Gott) und Stärke ausdrückt (nicht unbedingt auf der biologischen Ebene)- weshalb ich Stärke in dieser Arbeit mit der Vaterrolle gleichsetze, d.h. der Sohn kann zum Vater werden, sobald er den Stärkeren darstellt und umgekehrt. „Der „Name des Vaters“ (genitivus subiectivus, kein Eigenname ist gemeint!) meint und fordert wie ein Gesetz die Grenze zwischen den Generationen...“14, ließt man in dem Buch „Franz Kafka: Form und Bedeutung“ von Hans H. Hiebel. Somit erhält die Vaterfigur in `Das Urteil` von vornherein eine mächtigere, überlegenere Bedeutung als die Figur des Georg Bendemanns. Georg erscheint im ersten Teil der Erzählung selbstbewußt und erfolgreich; rhetorische Mittel jedoch, die der Erzähler einsetzt, verraten seine eigentlich schwache Persönlichkeit und die Abhängigkeit vom Vater, der aber in diesem Teil der Erzählung nur indirekt eingeführt wird. Georg versucht sich selbst zu erhöhen, z. B. dadurch, dass er beim reflektieren über den Brief, im inneren Monolog, den Petersburger Freund als `altes Kind` und `kleinen Geschäftsmann` bezeichnet. Das `alte Kind` steht bei Hiebel für das alter ego Georgs. Dem Weltzugewandten (Verlobung, Geschäftserfolg), vorgeblich Erwachsenen stehe der Asketische, Einsame, das `Kind` gegenüber. „Dem alter ego also, dem Kindheits-Ich (dem Freund) will Georg seine `Kündigung` zukommen lassen, die Kündigung des Kindseins, das Zeichen der Emanzipation: der Verlobung, des Geschäftserfolgs, des Erwachsenseins.“15 Wie sich später herausstellen wird, mißlingt die Emanzipation durch die `Auferstehung` des Vaters.

An dieser Stelle muss noch angeführt werden, dass Georg dem Freund lediglich unpersönliche Dinge im Brief mitteilen wollte, da er befürchtete, dass der Petersburger Freund neidisch oder gar enttäuscht werden könne über die Nachricht seiner Verlobung: „Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte.“16 Nachdem bis hierhin der Er-Erzähler vorherrschte, setzen mit diesem Satz, der in der indirekten Figurenrede steht, die Reflexionen Georgs ein. Er stellt Vermutungen über den Zustand und die Situation des entfernten Freundes an, weshalb in dieser Passage der Konjunktiv verwendet wird. Mit dem Bericht vom Todesfall der Mutter ändert sich die Erzählperspektive. Es ist ein Wendepunkt. Ab nun wird sachlich und faktisch von den geschäftlichen Erfolgen Georgs berichtet. Nachdem wieder der Er- Erzähler zu Wort kommt, wird mit der Erwähnung des Fräulein Frieda Brandenfeld ein Dialog eingeschoben. Thema ist der Brief an den Petersburger Freund, ein in der Erzählung durchgängiges Thema.

[...]


1 Vgl.: Schlingmann, Carsten (1995), S. 69.

2 Schlingmann, Carsten, a.a.O., S. 20.

3 Kafka, Franz: Brief vom 5. 12. 1912, zitiert nach Meurer, Reinhard (31999), S. 15.

4 Vgl.: Meurer, Reinhard, a.a.O., S. 16.

5 Vgl.: Kafka, Franz (1995), S. 16.

6 Meurer, Reinhard, a.a.O., S. 15.

7 Kafka, Franz, a.a.O., S. 14.

8 Vgl.: Meurer, Reinhard, a.a.O., S. 16.

9 Meurer, Reinhard, a.a.O., S. 16.

10 Kafka, Franz, a.a.O., S. 5.

11 Meurer, Reinhard, a.a.O., S. 21.

12 Kafka, Franz, a.a.O., S. 8.

13 Meurer, Martin, a.a.O., S. 28f.

14 Hiebel, Hans H. (1999), S. 41.

15 Ebenda, S. 40.

16 Kafka, Franz, a.a.O., S. 5.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Generationenhierarchie in Franz Kafkas Erzählung `Das Urteil`
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Gender Studies)
Veranstaltung
Einführung in die Geschlechterstudien WSP II am Bsp. der germanistischen Literaturwissenschaft
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
16
Katalognummer
V59055
ISBN (eBook)
9783638530835
Dateigröße
461 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Konflikt zwischen Vater und Sohn. Übermacht des Vaters. Dramentheorie. S.Freud: Das `Es`, `Ich` und das `Über-Ich`.
Schlagworte
Generationenhierarchie, Franz, Kafkas, Erzählung, Urteil`, Einführung, Geschlechterstudien, Literaturwissenschaft
Arbeit zitieren
Christin Meinecke (Autor:in), 2006, Generationenhierarchie in Franz Kafkas Erzählung `Das Urteil`, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59055

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