Die Freiheit des Einzelnen und die Konzeption des Subjekts bei Carl Sternheim am Beispiel der Komödie 'Tabula Rasa'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sternheims poetologisches Konzept einer metaphysikfreien Wirklichkeitsdarstellung
2.1. Das Dogma von der „eigenen Nuance“
2.2. Sternheims „Wirklichkeitsliebe“
2.3. Subjektphilosophische Implikationen

3. Tabula Rasa
3.1. Der Titel
3.2. Die Handlung
3.3. Die Darstellung der deutschen Arbeiterbewegung
3.4. Die dramatis personae
3.5. Die Struktur

4. Das dichterische Subjekt zwischen Individualismus und Anpassung
4.1. Eine Ethik ohne Werte?
4.2. Über Tabula Rasa hinaus: Analogien und Schwierigkeiten in Sternheims Bürgerkomödien

5. Schlußbemerkungen

6. Bibliographie

1. Einleitung

Das Bühnenwerk Carl Sternheims wurde von der Kritik immer wieder zwiespältig beurteilt. Wohl gab es in den 60er Jahren eine aufsehenerregende Sternheim-Renaissance, welche von einem wiedererstarkenden Bühnenerfolg seiner Komödien ausging und eine Reihe interessanter wissenschaftlicher Arbeiten nach sich zog, doch wurden wiederholt starke Zweifel an der Stringenz der sternheimschen Argumentation wider überkommene Moralvorstellungen geäußert, um nur einen wesentlichen Kritikpunkt zu nennen.

Um diesen Aspekt kreist die Diskussion in der vorliegenden Arbeit. Am Beispiel der Komödie Tabula Rasa, 1915 geschrieben und im Jahr darauf publiziert, sollen die ideellen Bezugssysteme und erkenntnisphilosophischen Anschauungen aufgezeigt werden, die Sternheim in seinem Werk- bewußt wie unbewußt- zur Anwendung gebracht hat.

Das Stück wird gemeinhin Sternheims Komödienzyklus Aus dem bürgerlichen Heldenleben zugerechnet. Carl Sternheim unternahm darin den Versuch, eine Satire der Verwicklungen innerhalb der zeitgenössischen deutschen Arbeiterbewegung zu verfassen. In Tabula Rasa wird in besonderer Weise ein markantes, wiederkehrendes Thema der Komödien Sternheims variiert, nämlich die schonungslose Enttarnung der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft mit- wenigstens teilweise- satirischen Mitteln.

Zunächst sollen Sternheims diskursive Äußerungen untersucht werden, um ein etwaiges poetologisches Konzept benennen zu können. Dieses soll im Anschluß mit einigen philosophischen Bezugspunkten, die sich auftun, untermauert werden. Im nächsten Arbeitsschritt soll Tabula Rasa einer eingehenden Textanalyse unterzogen werden, bei der insbesondere auf die Figurenkonzeption als auch auf die Struktur des Stückes ein besonderes Augenmerk gerichtet wird. Schließlich werden die Ergebnisse auf Sternheims Vorhaben bezogen und kritisch diskutiert. Auf Sternheims Bezüge zu zeitgenössischen literarischen Strömungen sowie auf seine literaturgeschichtliche Stellung wird hingegen nur am Rande eingegangen.

2. Sternheims poetologisches Konzept einer metaphysikfreien Wirklichkeitsdarstellung

2.1. Das Dogma von der „eigenen Nuance“

Mit scharfer Zunge kritisierte Sternheim immer wieder die Doppelmoral der wilhelminischen Gesellschaft. In „Berlin oder Juste milieu“ beispielsweise, 1920 veröffentlicht, geißelt er das Bestreben auch des Proletariats nach bürgerlicher Bequemlichkeit, welches sich hinter klassenkämpferischer Rhetorik verberge- oder, in seinen Worten:

daß Volk von Berlin keinen Sinn des Sozialismus kannte, als zu materiellen Sicherheiten sich in eben dieses Juste milieu „hinaufzuentwickeln und neben diesem immerhin Afterideen produzierenden Stand vollkommen unproduktiv blieb.[1]

Vor dem Hintergrund dieser Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft ist auch sein Bühnenwerk und insbesondere die Komödie Tabula Rasa zu verstehen, wie zu zeigen sein wird.

Die Protagonisten in Sternheims Komödien Aus dem bürgerlichen Heldenleben verstoßen ständig gegen bestehende normative Konventionen. Sternheims Absicht war es, sie von allen moralischen und gesellschaftlichen Zwängen befreit und als unabhängig agierende, eigenen inneren Antrieben verpflichtete Individuen zu gestalten. „Für ihn gibt es kein „Laster“, er billigt jede Handlung, wenn sie nur der wirkliche Ausdruck einer Person ist.“[2] Solange ein Laster also der Ausdruck echter Individualität ist, erkennt Sternheim es als tragbar an.

Sternheim argumentiert jedoch nicht für eine völlige Zerstörung der sozialen Gemeinschaft, wie sich hieraus eventuell folgern ließe, sondern lediglich für eine Selbstverwirklichung des einzelnen innerhalb einer Gesellschaft der freien Individuen:

Einmaliger unvergleichlicher Natur zu leben, riet jedem Lebendigen ich, damit keine Ziffer, sondern Schwung zu ihrer Unabhängigkeit entschlossener Individuen Gemeinschaft bedeute, mit dem aus der Nation und der Menschheit ein Ziel allein erreichbar ist.[3]

Dieses Gemeinschaftsideal ist in der Auffassung Sternheims unvereinbar mit konventionellen Moralvorstellungen, an denen er kritisiert, daß sie die wahren Antriebe des Menschen mit auf die Ewigkeit gerichteten abstrakten Idealen bemänteln würden. All diesen Heilslehren mißt er einen utopischen Charakter bei; die tatsächliche Verwirklichung menschlicher Freiheit würde dabei auf einen späteren, tatsächlich niemals stattfindenden Tag verschoben. Sternheim will dem Menschen dahingegen zu jeder Zeit, auch unter entsetzlichen sozialen Bedingungen, die eigene Freiheit gewähren und ihn zur Verwirklichung der „eigenen Nuance“ aufrufen.

2.2. Sternheims „Wirklichkeitsliebe“

Daher verbindet er mit der Abkehr von idealistischen, teleologischen Denksystemen eine Hinwendung zur künstlerischen Darstellung des Wirklichen, eine emphatisch vorgetragene Wirklichkeitsliebe:

Keinem Lebendigen soll der Dichter das einzig lohnende Ziel, eigener, originaler, einmaliger Natur zu leben, damit verstellen, daß mit seit ewigen Zeiten klischierten Melodien er „höhere Menschheit“ vorharft, die diejenigen geringschätzen, die mit mir eine vorhandene wirklich kennen und mit Inbrunst lieben.[4]

In der programmatischen Schrift Kampf der Metapher! Von 1918 umreißt Sternheim die Aufgabe des Dichters als strikt Diesseitsbezogen und verwirft alle Bemühungen um ästhetisierende Transzendenz:

Denn wie alle Kunst bricht auch Dichtung für des Menschen „höhere Forderungen“ nie und unter keinen Umständen eine Lanze, erzieht, erhebt, verbessert nicht. An seiner Wirklichkeit hat sie nichts auszusetzen und wahrhaftige Welt ihm nicht zu verekeln. Anstelle der uns angewiesenen Erde soll kein Paradies sie „dichten“.[5]

Diese Abrechnung mit idealistischen Konzeptionen, hier in einer ästhetischen Debatte ausgearbeitet, bedeutet tatsächlich eine Entwertung aller üblichen Werte. „Richtiges“ Handeln kann demzufolge nicht in den üblichen Klassifizierungen „gut“ und „schlecht“ erfaßt werden. In diesem Punkt wird eine Nähe Sternheims zu Nietzsche offenbar, wie folgende Passage aus dem ersten Buch der Morgenröte zweifelsfrei belegt:

Es steht bei uns, über Dies und Das keine Meinung zu bilden und so unsrer Seele die Unruhe zu ersparen. Denn die Dinge selbst können ihrer Natur nach uns keine Urteile abnötigen.[6]

Wie Nietzsche, so verwehrt sich auch Sternheim mit Nachdruck gegen einen naturalistischen Fehlschluß, d.h. dagegen, Beschreibungen mit Wertungen zu verwechseln oder gleichzusetzen. Zum Maßstab für richtiges Handeln erhebt Sternheim vielmehr den inneren Antrieb; an die Stelle der rationalen Kategorien und verstandesgelenkten Begriffe treten die Begierden- oder, mit einem Aphorismus von Nietzsche gesprochen:

„Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.“[7]

In jenen unklar definierten Antrieben sieht Sternheim den Keim wirklicher Gemeinschaft und nicht etwa- und dies unterscheidet ihn vom Gros seiner dichtenden Zeitgenossen- den Untergang der Gesellschaft im Chaos der Anarchie. Das Ausleben egoistischer Machtansprüche ist Grundbedingung für ein Leben im Einklang mit der eigenen natürlichen Anlage sowie der Umwelt. Überkommene moralische Korsette würden einer solchen Unmittelbarkeit im Wege stehen.

Nicht Wille zur Macht schlechthin, wie Nietzsche gemeint hatte, aber Wille zur Wucht der in allem Geschehen verkörperten absoluten Ziffer wurde sozialistischen Zeitalters Fundament.[8]

Hinter der Formel von der „absoluten Ziffer“ verbirgt sich gleichermaßen eine Zivilisations- und Bürokratiefeindlichkeit als auch eine Selbstverleugnung urmenschlicher Machttriebe, wie Sternheim sie in Analogie zu Nietzsche erkannt zu haben meinte.

Viele, die sich eingehend mit Sternheims Werk befaßt haben, haben diese Gedanken für bare Münze genommen und daraus Schlüsse wie den folgenden gezogen:

Carl Sternheim ist der einzige Dichter, der sich befreit hat von diesen archaisch-modernen Mythologien, von allen geschichtsphilosophischen und geschichtstheologischen Begründungen, Rechtfertigungen und Verklärungen des permanenten Unheils unserer Geschichte und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Er ist jedoch zugleich der einzige Dichter, der auch den Begriff der „freien Person“ nicht mythisiert oder idealisiert hat, ihn weder stilisierte zum „Übermenschen“ noch zur Autonomie einer sittlichen, gesetzgebenden Person, noch auch zum klassischen Ideal einer allseitig ausgebildeten harmonischen Persönlichkeit. Er tritt gleichsam aus allen „Ideen“ unserer Epoche heraus. Er hat sein Bewußtsein völlig entmythologisiert und entideologisiert.[9]

Dagegen lassen sich aber auch einige Einwände vorbringen. Tatsächlich kommt in Sternheims theoretischen Äußerungen, kommt auch in seinem Bühnenwerk ein durch und durch romantisches Subjektbild zum Tragen, wie im folgenden gezeigt werden wird.

2.3. Subjektphilosophische Implikationen

Sternheim scheint die These zu vertreten, daß das, was er „eigene Nuance“ nennt, dem Menschen als Bestimmung mit auf den Lebensweg gegeben sei und daß es nur darauf ankäme, dieses Ureigene eines jeden Menschen „freizulegen“. Der Mensch müsse sich folglich von gesellschaftlichen Zwängen und normativen Bindungen befreien. An dieser Stelle seiner Argumentation aber läuft Sternheim, der doch mit entmystifizierender Absicht aufgetreten ist, Gefahr, durch die argumentative Hintertür unverrichteter Dinge wieder eine gottähnliche Instanz in sein epistemologisches Programm einzuführen, wie auch Wendler betont.[10] Denn der genuine Freiheitsdrang, den Sternheim dem Menschen als wesenhaft unterstellt, stellt nichts anderes dar als eine Transzendenz des menschlichen Daseins.

Mennemeier schreibt dazu, Sternheim hätte eine

romantische Neigung zu einer den Zeitbedürfnissen entfremdeten metaphysischen Anthropologie, wie sie in einigen allzu herkömmlich empfindsamen Wendungen am Schluß von „Tabula Rasa“ sichtbar wird, wo in Ständers Wunsch, sein eigenes Herz zu durchforschen, das, mit Adorno gesprochen, „alte Subjekt, das historisch verurteilte“, und das der subjektiven Betrachtung unweigerlich anhaftende Sentimentale und Anachronistische sich melden.

Auf der Suche nach den intellektuellen Anknüpfungspunkten Sternheims muß ob solcher theoretischer Unschärfe zuweilen gerätselt werden. Die Forschungsdebatte spiegelt diese Unklarheiten wider. Immer wieder wurden Max Stirner und Friedrich Nietzsche als wichtige Einflüsse genannt, andererseits wurden mit der gleichen Selbstverständlichkeit auch Bezüge zur Lebensphilosophie hergestellt.

Polemisch formuliert Sternheim seine Abrechnung mit dem deutschen Idealismus in der Gesellschaftsstudie Berlin oder Juste Milieu:

Nicht etwa persönliche Begabung und Tatkraft des neuen Herrn waren es, die [...] neuem Zeitalter Bedeutung schufen [...]

Auf verschwindende menschliche Freiheitsreste, dem Durchschnittsdeutschen aus früheren Jahrhunderten gelassen, hatten Kant und sein volkstümlicher Erläuterer Schiller in dem Sinn einen letzten Angriff gemacht, daß wie natürlich alle Vernunft, von ihnen auch mitmenschliches moralisches Verhalten in Befehlsform, Kants kategorischen Imperativ gefaßt worden war, nach welcher fortan Behörden ein aufmerksames und williges Volk leben ließen [...][11]

Zwar lehnt Sternheim idealistische Erkenntnis- und Subjektkonzeptionen wie etwa die von Kant oder Hegel ab. Dabei formuliert er aber eine bloße subjektphilosophische Gegenthese, die auf einen banalen alten Stand zurückfällt und nicht vorausweist, keine neuen Erkenntnisse bringt, sondern nur die polemische Antwort auf die Vereinfachung alter mentalitätsgeschichtlicher Positionen.

[...]


[1] Sternheim 1966, S. 141.

[2] Wendler, Wolfgang: Carl Sternheim und die Freiheit des einzelnen. In: Durzak 1982, S. 17.

[3] Sternheim 1966, S. 47.

[4] Sternheim 1966, S. 38.

[5] Sternheim 1966, S. 37-38.

[6] Nietzsche 1990 Bd. 2, S. 71.

[7] Nietzsche 1990 Bd. 3, S. 617.

[8] Sternheim 1966, S. 142.

[9] Emrich in: Durzak 1982, S. 25.

[10] Wendler 1966, S. 135.

[11] Sternheim 1966, S. 112-113.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Freiheit des Einzelnen und die Konzeption des Subjekts bei Carl Sternheim am Beispiel der Komödie 'Tabula Rasa'
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für deutsche und niederländische Philologie)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
24
Katalognummer
V59028
ISBN (eBook)
9783638530651
Dateigröße
599 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Freiheit, Einzelnen, Konzeption, Subjekts, Carl, Sternheim, Beispiel, Komödie, Tabula, Rasa, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Boris Kruse (Autor:in), 2003, Die Freiheit des Einzelnen und die Konzeption des Subjekts bei Carl Sternheim am Beispiel der Komödie 'Tabula Rasa', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59028

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