Objektive Hermeneutik. Analyse und Interpretation eines Fallbeispiels


Hausarbeit (Hauptseminar), 2018

13 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Basisinformationen zum Fallbeispiel

2. Objektive Hermeneutik – eine Einführung

3. Sequentielle Analyse und Interpretation des Fallbeispiels

4. Fallstrukturhypothese – der geheime Lehrplan

5. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Basisinformationen zum Fallbeispiel

Der in der vorliegenden Semesterarbeit untersuchte Fall trägt den Titel „Das geht speziell an Dich!“. Die von Rusteberg verfasste wörtliche Mitschrift protokolliert den Dialog zwischen einer Lehrperson (L) und einem Schüler (S1). Im Verlaufe der Interaktion meldet sich ein weiterer Schüler/in zu Wort (S2). Bei dem Geschehenen handelt es sich um eine Situation in der Jahrgangsstufe 9 einer Gesamtschule im Fachbereich Deutsch. Zugriff auf das Fallbeispiel gewährt die kasuistische Fallsammlung der Leibniz Universität Hannover, kurz KASUS. Das Protokoll des zu analysierenden Fallbeispiels ist dem Punkt 1 der Arbeit angefügt.

Protokoll:

(nachdem der Lehrer die Hausaufgaben abgefragt hat)

L: Ok Fabian, du hast dich ja nicht gemeldet, dann m üsstest du es ja haben.

S1: Ich habe es aber nicht richtig.

L: Auch aus Fehlern kann man lernen.

S1: Meins ist aber echt schlecht.

L: Ja, wenn du deins jetzt schon schlecht findest, dann frage ich mich, warum du es nicht gleich verbessert hast?

S1: Ja, wei ß ich auch nicht.

S2: Ich habe es verstanden. Er hat es nicht.

S1: Doch, aber meins ist auch viel zu kurz.

L: Ja was soll ich denn jetzt mit Fabians Aussage machen? Wenn ich so etwas h öre, dann muss ich mir schon Gedanken machen, ob der Grundkurs anstatt des Erweiterungskurses nicht doch das Richtige f ür dich sei. Das ist jetzt wieder als Drohung zu verstehen, aber speziell an dich

(blickt zum Sch üler).

(einige SuS f ühlen sich angesprochen)

2. Objektive Hermeneutik – eine Einführung

Bevor damit begonnen wird das Fallbeispiel zu analysieren und zu interpretieren, ist es unerlässlich, die wesentlichen Grundlagen der Objektiven Hermeneutik zu erläutern. Einer der zentralen Namen, der an dieser Stelle seine Erwähnung finden muss, ist der des Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann. Oevermann entwickelte seit Beginn der 1970er Jahre die Objektive Hermeneutik als Analyseverfahren für qualitatives Datenmaterial. Während seiner 40-jährigen Beschäftigung mit der Thematik, die mit seiner Abschiedsvorlesung unter dem Titel „Objektive Hermeneutik“ endete, betonte der Soziologe immer wieder die Untrennbarkeit von methodologischen bzw. methodischen Überlegungen und der theoretischen Konzeption. Vereinfacht formuliert bedeutet dies, dass Theorie und Methode als zwei Elemente einer Einheit verstanden werden müssen.1 Abgrenzen tut sich Oevermanns Begriff von dem der klassischen Hermeneutik nach Rittelmeyer insofern, als dass er zwischen dem subjektiv-intentionalen (manifest) und dem objektiv-latenten Sinn unterscheidet. Da Oevermann davon ausgeht, dass sich ein Individuum beim Zeitpunkt der Entscheidungsfällung nicht aller Handlungsalternativen bewusst ist unterscheidet er zwischen den gegebenen Handlungsmöglichkeiten (latente Sinnstruktur) und den realisierten Möglichkeiten (manifeste Sinnstruktur).2

Der Grundbegriff der Theorie Oevermanns' ist der der Lebenspraxis. Unter dem Begriff der Lebenspraxis können zunächst einmal alle Aktivitäten von Individuen oder auch menschlichen Gruppen wie Familien oder anderen Organisationen zusammengefasst werden. All diese Akteure bewegen sich in einer Welt, welche durch Regeln bestimmt ist, welche den Handlungen erst Bedeutungen verleihen (Regelhaftigkeit). Die Kenntnis dieser Regeln ermöglicht wiederum die Interpretation der gewählten beziehungsweise nicht gewählten Alternative des Verhaltens. Nun stellt sich jedoch die Frage, was die Lebenspraxis ausmacht? An dieser Stelle gilt es, die zentrale Bedeutung der Sprache hervorzuheben. Allgemein wird der Transformationsprozess hin zum Menschen, sprich von der Natur hin zur Kultur, durch die Sprache markiert. Sie hat eindeutig besondere Auswirkungen auf die Lebenspraxis der Menschen, indem Sprache für jede Lebenspraxis sowohl einen raum-zeitlichen Handlungs- als auch Spielraum eröffnet.3 Diese Bedeutungsfunktion von Sprache ist auch für die Objektive Hermeneutik von enormer Signifikanz. Nach den soeben gemachten theoretischen Ausführungen, soll es im Folgenden konkret um die Forschungspraxis gehen. Die erste Ausgangsanforderung der Objektiven Hermeneutik ist das Vorhandensein eines Textes (Sprache). Zwingend nötig ist es darüber hinaus, dass die Analyse und Interpretation des Textes oder des Protokolls innerhalb einer Gruppe erfolgt. Auf diese Art und Weise wird sichergestellt, dass verschiedene Deutungsalternativen, auch 'Lesarten' genannt, in die Diskussion mit einfließen. Dieser Prozess ist demnach der Grundstein für eine intersubjektive Ergebnissicherung. Die soeben gemachten Ausführungen unterstreicht der Erziehungswissenschaftler Andreas Wernet, der die Hauptaufgabe der Objektiven Hermeneutik darin sieht, den Akt der Interpretation als methodischen Kern einer sinnverstehenden Wirklichkeitsforschung an intersubjektiv überprüfbare Kriterien zu binden.4

Die Vorgehensweisen innerhalb der Objektiven Hermeneutik und die damit einhergehenden Vorkehrungen in Hinblick auf die Auswertung unterscheiden sich teilweise stark voneinander. Mittlerweile finden jedoch die sequenzielle Analyse sowie die Rekonstruktion der objektiven Bedeutung der einzelnen Interakte die häufigste Anwendung. Generell wird diese Art der Analyse in fünf Schritte unterteilt. Diese sogenannten Interpretationsprinzipien (Kontextfreiheit, Wörtlichkeit, Sequentialität, Extensivität, Sparsamkeit) werden im Folgenden kompakt erläutert.5

Das Prinzip der Kontextfreiheit besagt, dass die Herangehensweise an einen Text immer unvoreingenommen sein muss. So soll verhindert werden, dass das Protokoll ausschließlich durch den Kontext verstanden wird. Auf diese Weise wird die Unabhängigkeit der Analyse von der Kontextualisierung gewährleistet.

Das Wörtlichkeitsprinzip meint, wie es der Name schon verrät, die Aussagen der Beteiligten wörtlich zu nehmen. An dieser Stelle sei noch einmal auf die bereits erwähnte Ebene der latenten Sinnstruktur verwiesen, die andernfalls verloren gehen würde.

Bei der sequenzanalytischen Vorgehensweise (Sequentialität) handelt es sich um das Kernstück der objektiv-hermeneutischen Interpretation. Das bedeutet, der Text wird Satz für Satz und Bedeutungseinheit für Bedeutungseinheit interpretiert, ohne dass später im Protokoll auftauchende Sequenzen zur Interpretation herangezogen werden. So soll, im Gegensatz zu den klassischen Hermeneutiken, das Vorwissen durch später im Text auftretende Äußerungen ausgeblendet werden. Die Extensivität, oder auch extensive Sinnauslegung, zielt auf einen nicht auf „frühe Einigung“ ausgelegten Argumentationsprozess innerhalb der Interpretationsgruppe ab. Innerhalb dieser Gruppe werden alle Lesarten gedankenexperimentell generiert. Hierbei ist insbesondere hervorzuheben, dass auch vermeintlich unwahrscheinliche Lesarten nicht von vornherein ausgeschlossen werden dürfen.

Beim Prinzip der Sparsamkeit geht es in erster Linie darum zu verhindern, dass dem Text Aspekte unterstellt werden, die sich nicht anhand des Textes selbst begründen lassen und die somit die eingangs erwähnte Regelhaftigkeit verletzen würden. Die Lesartenbildung beschränkt sich in dem vorliegenden Fall demnach auf das Protokoll ohne dass darüber hinaus Spekulationen notwendig sind.6

Bevor sich die Arbeit im anschließenden Gliederungspunkt der Analyse und Interpretation widmet, werden vorab grundlegende Informationen vermittelt. Das Protokoll des Fallbeispiels „Das geht speziell an Dich!“ wurde in drei Teilabschnitte gegliedert. Dementsprechend wurden auch die Seminarteilnehmer/innen auf drei verschiedene Gruppen aufgeteilt, in denen man sich mit den jeweiligen Abschnitten, Satz für Satz und Wort für Wort, auseinandersetzte. Durch diese Variante der Durchführung wurde zum einen das Prinzip der Sequenzialität, als auch das Prinzip der Kontextfreiheit gewährleistet, da sich keine der Gruppen ein Bild von der Gesamtsituation machen konnte. Nachdem sich die Kommilitonen untereinander ausgetauscht hatten, wurden die Interpretationsansätze nun im Plenum vorgestellt und besprochen. Die Studenten Philip Sell und Willi Harloff leiteten dabei das Gespräch, während Aaron Wille die verschiedenen Darstellungen protokollierte. Dieses Protokoll dient als Grundlage der folgenden sequentiellen Analyse und Interpretation des Fallbeispiels „Das geht speziell an Dich!“

3. Sequentielle Analyse und Interpretation des Fallbeispiels

1. Sequenz

L: Ok Fabian, du hast dich ja nicht gemeldet, dann m üsstest du es ja haben.

Wie bereits im ersten Teil der Arbeit betont wurde, so hat jeder Bestandteil eines Satzes das Potenzial für die Objektive Hermeneutik von Bedeutung zu sein. Genau aus diesem Grund wird das kurze Wort „Ok“ an dieser Stelle hervorgehoben. Diese Art der Ansprache seitens der Lehrperson kann in manchen Fällen durchaus als Zustimmung gewertet werden. Da aus dem Protokoll jedoch nicht hervorgeht, dass der Schüler Fabian zuvor eine Aussage getätigt hat, ist dieses „Ok“ eher als seltsame bis vorwurfsvolle Art der Anrede zu bewerten. Anschließend äußert die Lehrperson ihre Feststellung ('du hast dich ja nicht gemeldet'). Im letzten Teil des Satzes verwendet die Lehrperson den Konjunktiv. Das impliziert, dass sie daran zweifelt, dass Fabian die Hausaufgaben tatsächlich gemacht hat. Besonders auffällig an der 1. Sequenz ist das zweimalige Verwenden des Wortes ja (jeweils vor dem Verb stehend). Auf diese Weise entsteht der Eindruck, die Lehrkraft wirkt vorwurfsvoll und vor allem voreingenommen. Interessant ist auch, dass die Lehrperson den Schüler mit diesem Satz indirekt zu einer Antwort auffordert, ohne dies einmal tatsächlich zu erwähnen.

2. Sequenz

S1: Ich habe es aber nicht richtig.

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die für diese Sequenz zuständige Gruppe während der Diskussion anmerkte, dass in diesem Satz möglicherweise ein Komma hinter dem Wort 'es' fehlt und es sich somit um einen Protokollfehler handelt. Diese Feinheiten, die jedoch einen Unterschied in der Interpretation der Aussage machen, sind Merkmal der Objektiven Hermeneutik. Liest man den Satz mit einem Komma, so stellt Fabian zuallererst klar, dass er die Hausaufgaben erledigt hat, was ihm wichtig zu sein scheint. Das darauffolgende 'aber' ist generell betrachtet eine Form der Einschränkung. Darüber hinaus kann es als Zeichen der Verunsicherung des Schülers gedeutet werden. Allgemein impliziert der zweite Teil des Satzes, dass Fabian nicht länger Rede und Antwort zu dieser Aufgabe stehen will.

3. Sequenz

L: Auch aus Fehlern kann man lernen.

Hatte man bei der ersten Aussage der Lehrperson noch das Gefühl, diese wirke einschüchternd auf den Schüler, so könnte man aus dieser Aussage andere Schlüsse ziehen. Einzig und allein für sich betrachtet (Prinzip der Kontextfreiheit) klingt diese Äußerung durchaus ermutigend. Jedoch lässt sich in diese Aussage auch ein anderer Punkt hineininterpretieren und zwar der, dass die Lehrperson unbedingt wissen will, wie die Hausaufgaben des Schülers aussehen und die vermeintliche Ermutigung demnach nur Mittel zum Zweck ist.

[...]


1 Garz, Detlef: Objektive Hermeneutik. In: Friebertshäuser, Barbara; Langer, Antje; Prengel, Annedore (Hrsg.) (2013): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Basel. S. 249.

2 Oevermann, Ulrich (2008): 'Krise und Routine' als analytisches Paradigma in den Sozialwissenschaften.

3 Garz, Detlef. S. 250.

4 Wernet, Andreas (2006): Einf ührung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Wiesbaden. S. 9.

5 Reichertz, Jo in Flick, Uwe; Rosenstiel, Lutz von (Hrsg.) (1991): Handbuch qualitative Sozialforschung: Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. München. S. 224.

6 Garz, Detlef. S. 254-256.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Objektive Hermeneutik. Analyse und Interpretation eines Fallbeispiels
Hochschule
Universität Rostock
Note
1,7
Autor
Jahr
2018
Seiten
13
Katalognummer
V589365
ISBN (eBook)
9783346189936
ISBN (Buch)
9783346189943
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hermeneutik, objektive Hermeneutik, Pädagogik
Arbeit zitieren
Philip Sell (Autor:in), 2018, Objektive Hermeneutik. Analyse und Interpretation eines Fallbeispiels, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/589365

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