Kulturfähigkeit vs. Kulturfeindlichkeit? Darstellung und Vergleich der anthropologischen Ansätze von Arnold Gehlen und Sigmund Freud


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

33 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Anthropologie oder Psychoanalyse?

2. Das Wesen des Menschen
2. 1. Physiologische Merkmale
2. 2. Das Antriebsleben
2. 2. 1. Die Trieblehre
2. 2. 2. Instinktreduktion
2. 2. 3. Der Antriebsüberschuß
2. 3. Das Bewußtsein

3. Die Formierung der Antriebe
3. 1. Das Über-Ich
3. 2. Die Institutionen
3. 2. 1. Die Entstehung der Institutionen

4. Die Kultur
4. 1. Kultur – Zweite Natur
4. 1. 1. Die Herkunft der Institutionen
4. 2. Das Unbehagen in der Kultur

5. Die Kritik der Moderne

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Ich möchte in meiner Hauarbeit die anthropologischen Ansätze von Arnold Gehlen und Sigmund Freud darstellen und vergleichen. Dabei kommt es mir ein wenig mehr darauf an, Parallelen zu finden, als Unterschiede besonders herauszustellen, denn immerhin behandeln beide Autoren das gleiche Thema, den Menschen, wenn auch aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Die Darstellung der anthropologischen Ansätze erfolgt in Hinblick auf die Bedeutung der Kultur, die diese innerhalb des jeweiligen Ansatzes für den Menschen hat, wie sein Verhältnis zur Kultur ist.

1. Anthropologie oder Psychoanalyse?

Ich möchte hier nicht mit einer allgemeinen Definition der Philosophischen Anthropologie beginnen, wahrscheinlich würde mir eine solche auch gar nicht gelingen. Aber ich möchte darlegen, auf welcher Grundlage von Anthropologie man die beiden Autoren Arnold Gehlen und Sigmund Freud vergleichen kann, obwohl sie auf den ersten Blick vielleicht sehr unter-schiedlich erscheinen. Bei Freud ist die Frage berechtigt, ob man ihn auch als Anthropologe bezeichnen kann, aber bei Gehlen scheint sie sich zu erübrigen, bezeichnete er seine eigenes Werk doch als Teil der Philosophischen Anthropologie.

„Streng genommen“, so sagt Gehlen[1] „gebe ich nur eine elementare Anthropologie.“ Denn auch er kann und will sich nicht mit der ganzen Erscheinung des Menschen befassen, die, vielfach zerlegt, Gegenstand unzähliger Einzelwissenschaften geworden ist. Auch er betrach-tet den Menschen nur unter ganz bestimmten Gesichtspunkten und klammert anderes dabei aus, aber diese Gesichtspunkte sind keine Teile, wie sein Wahrnehmungsapparat, oder die Fortpflanzung, sondern es sind Gesichtspunkte unter denen die Ganzheit des Menschen in den Blick gerät und genau darin liegt das Philosophische an Gehlens Anthropologie. Denn „der Mensch [ist] ein Thema der Philosophie“[2] und es ist eine philosophische Tätigkeit, weite Teile der Einzelwissenschaften vom Menschen im Blick zu haben, und einige Erkenntnisse aus dieser weiten Zerstreuung zusammenzutragen zu einer Deutung des Menschen. Das Bedürfnis nach Deutung seines Daseins ist dem Menschen von Natur aus mitgegeben, ja der Mensch ist sogar darauf angewiesen, als „nicht festgestelltes Tier“,[3] der sich selber lebenslang eine Aufgabe sein und bleiben wird.

Gehlen will diese Deutung des Menschen versuchen, und dabei wieder die Einheit des Menschen herstellen, den Dualismus von Geist und Körper überwinden. Und er will dabei völlig auf metaphysische Annahmen (wie bei Scheler) verzichten, wenn er die Sonderstellung des Menschen beschreiben und empirisch belegen will.

Bei Sigmund Freud liegt die Frage nach einer Anthropologie, sei sie nun philosophischer oder anderer Art schon etwas schwerer. Freud ist der Schöpfer der Psychoanalyse und ob er mit den Werken von Scheler oder Plessner bekannt war, ist ungewiß; Gehlens bedeutende Werke wurden nach Freuds Tod veröffentlicht. Eine direkte Bezugnahme gibt es also nicht, ganz im Gegensatz zu Scheler oder auch Gehlen, die sich mehr oder weniger auf Freud bezogen haben. Aber es hätte keinen Sinn, diese Arbeit zu schreiben, wenn man Freud nicht doch in die Reihe der Leute stellen könnte, sie sich um eine Deutung des Menschen bemüht haben.

Freud selber gibt eine folgende Definition seiner Lehre: „Psychoanalyse ist der Name: 1. eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2. eine Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3. eine Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.“[4] Unter Punkt drei klingt an, welchen Standort seine Psychoanalyse innerhalb der Wissenschaften haben sollte. Sie war keineswegs nur ein Teil der Psychologie oder der Psychotherapeutik, sie sollte eine eigenständige Wissenschaft sein, die zwischen Psychologie, Biologie und Soziologie steht. Und zu dieser neuen Wissenschaft Psychoanalyse gehören auch unzweifelhaft Aussagen über das Wesen des Menschen. Begann die Psychoanalyse hauptsächlich als psychologische Disziplin mit der Aufdeckung unbewußter Prozesse im psychischen Apparat und als Behandlungsmethode psychischer Störungen (Studien über Hysterie 1895, Die Traumdeutung 1900) , so kamen mit der Herausarbeitung der Triebtheorie sehr schnell Aussagen über das Wesen des Menschen hinzu (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1905), die letztlich in all ihren Modifikationen die Grundlage bildete für Freuds kulturtheoretische Studien.

Man könnte allerdings auf die falsche Spur kommen, wenn man Freuds Absicht in einer Deutung des Menschen sehen würde. Ihm lag nichts an besonderen Mensch-Tier-Vergleichen und die Besonderheit Mensch war für ihn nie das zu Erklärende oder zu Deutende an sich. Vielmehr wollte er verstehen, wie sich Menschen verhalten, erklären welche Ursachen welchen Handlungen zu Grunde liegen. Ausgangspunkt war immer schon der Mensch, so wie er sich darstellt, insbesondere in seinen physiologischen Besonderheiten, auf die Gehlen einen großen Wert legt. Hier ist Freud meines Erachtens zu sehr Psychologe, auch klinischer Psychologe, als daß es ihm nur um eine reine Beschreibung des Wesen Mensch gehen würde. Vielmehr fallen die Erkenntnisse dazu in der psychoanalytischen Arbeit so nebenbei mit an, und Freud versucht dann daraus ein allgemeines strukturelles psychologisches Modell für den Menschen zu formen. Gegen Ende seines Schaffens wandte Freud sich dann verstärkt kulturphilosophischen Fragen zu (Die Zukunft einer Illusion 1927, Das Unbehagen in der Kultur 1930) und er verwendet seine psychoanalytischen Erkenntnisse über das Wesen des Menschen auf eine Analyse der Kultur an sich und der modernen Gesellschaft an. Auch unterzieht er andere wichtige menschliche Handlungsbereiche wie Literatur und Kunst einer psychoanalytischen Deutung. So bietet sein umfassendes Werk Material zu allen wichtigen, den Menschen betreffenden Fragen und ein Zusammentragen dieser Einzelstücke aus mehreren Jahrzehnte Forschungsarbeit, ergibt dann durchaus eine eigene Anthropologie. Und es dürfte nicht falsch sein zu behaupten, daß genau das die Triebfeder des Wissensdranges von Freud wie auch das Ziel seiner Arbeit zumindest zu einem Teil gewesen ist. Kaum anders läßt sich folgende Textstelle verstehen: „Die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehaltes, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt, über das, was dem Menschen als nächstes geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt.“[5]

Es ist also zu sehen, ein Vergleich der anthropologischen Ansätze von Gehlen und Freud ist durchaus gerechtfertigt.

2. Das Wesen des Menschen

2. 1. Physiologische Merkmale

Dies ist ein für Arnold Gehlen sehr wichtiger Punkt, bilden doch die besonderen Eigenschaften des Menschen – sein Antriebsleben, seine Phantasiefähigkeit und vieles mehr – nur die Rückseite einer Medaille, auf deren Vorderseite bestimmte physiologische Besonderheiten stehen, die den Menschen vom Tierreich unterscheiden. Und beide Teile gehören bei Gehlen auch untrennbar zusammen, bedingen und ermöglichen sich gegenseitig.

Freud hat sich zu diesem Punkt wohl nicht geäußert, zumindest gibt es keine systematische Abhandlungen über die besondere Physiologie des Menschen, und meines Erachtens liegt ein Mensch-Tier-Vergleich, oder die Hervorhebung der Sonderstellung des Menschen weniger wenn überhaupt im Interesse Freuds. Die Physiologie des Menschen behandelt er nur in Verbindung mit dessen Psychologie, denn die Triebe sind die Verbindung zwischen dem Somatischen und dem Psychischen, doch dazu unten mehr.

Gehlen charakterisiert den Menschen physiologisch als ein Mängelwesen, welches mit einer Reihe von Organprimitivismen ausgestattet ist.[6] Der Mensch besitzt keinerlei spezifischen körperlichen Fähigkeiten, er kann weder besonders scharf sehen, besonders schnell rennen oder besonders gut klettern. Begründet ist dies in seinem Körperbau, genauer gesagt in der Umbildung von Kiefer, Hand Fuß, dem aufrechten Gang; all dies machten Spezialisierungen wie wir es von eigentlich jeder Tierart kennen offenkundig unmöglich. Das bedeutet aber auch, daß der Mensch an keine bestimmte Umwelt angepaßt ist, er ist weltoffen. Und obwohl er in all seinen Fertigkeiten dem Tierreich wahrlich unterlegen ist, hat er diese Unspezialisiertheit für sich zum Vorteil gewandt. Denn die Mängel der biologisch-physiologischen Ausstattung kompensiert er mit seiner Intelligenz und der Arbeit, und dahinter steht ein ganz bestimmtes, spezifisch menschlichen Antriebsleben.

2. 2. Das Antriebsleben

2. 2. 1. Die Trieblehre

Mit der Frage nach dem Antriebslebend es Menschen nähern wir uns zentralen Punkten in den Werken von Gehlen und von Freud. Ich möchte mit dem letzteren beginnen, da Gehlen sich auf unterschiedliche Weise auf Freud in diesem Bereich bezieht.

Für Freud ist der Mensch eindeutig ein Triebwesen, er hat eine Triebnatur. Allerdings hat diese Triebnatur eine feste Struktur, denn sie besteht in einem Triebdualismus, bei dem sich zwei antagonistische Triebarten gegenüber stehen und gegen und auch miteinander wirken (Triebmischung/Entmischung siehe unten). Diese Trieblehre hat als zentraler Teil der psychoanalytischen Theorie einige Modifikationen erfahren, wobei die Grundstruktur allerdings erhalten blieb. Von dem Konzept des Dualismus und des Antagonismus ist Freud nicht abgerückt. Ursprünglich standen sich Sexualtrieb und der Selbsterhaltungstrieb gegenüber. Dort hatte Freud die Aggression noch mehr oder weniger beiden Triebarten zugeordnet, doch das Erleben der Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges stimmten ihn unzufrieden mit dieser Lösung. So veränderte er seine Trieblehre entscheidend.[7] Man hat nun die folgenden Triebarten zu unterscheiden: den „Sexualtrieb oder Eros, , die bei weitem auffälligere und der Kenntnis zugänglichere [...]. Sie umfaßt nicht nur den eigentlichen ungehemmten Sexualtrieb und die von ihm abgeleiteten zielgehemmten und sublimierten Triebregungen, sondern auch den Selbsterhaltungstrieb...“[8]. Die zweite Triebart ist weniger deutlich aufzuspüren und erschließt sich laut Freud mehr durch theoretische Überlegungen, als durch Tatsachenbeweise. Freud gab ihm den Namen Todestrieb, „dem die Aufgabe gestellt ist, das organisch Lebende in den leblosen Zustand zurückzuführen.“[9] Die Aufgabe des Eros ist hingegen, die Menschen zu immer größeren Einheiten zusammenzuführen.

Diese beiden Triebarten sind nun sehr abstrakter Natur und erklären im Einzelfall das konkrete Handeln kaum. Und wirklich stellen sie für Freud auch eher Kategorien dar, die jeweils für sich dann wieder eine unbestimmte Anzahl von Trieben in sich vereinigt,[10] mit denen dann praktischer verfahren werden kann. So sind nicht nur Sexualtrieb und Selbsterhaltungstriebe bzw. Ichtriebe im Eros zusammengefaßt, nein, allein der Sexualtrieb besteht aus mehreren Partialtrieben, die jeweils einer erogenen Zone entsprechen und ein eigenes Triebziel haben.

Die Quellen der Trieb liegen im Somatischen. Es sind körperliche Erregungs- oder Spannungszustände, die nach Abfuhr, bzw. Ausgleich verlangen. Das Ziel des Triebes liegt im Psychischen, wo der Trieb durch eine Objektvorstellung und ein Affektquantum repräsentiert ist.[11] Das heißt also, daß unbestimmte, inhaltlose energetische Reize im Körper entstehen, an die Oberfläche des psychischen Apparates streben und dort erst mit Inhalt, sozusagen mit einem Bild versehen werden, genauer: mit einem konkreten Objekt, an dem der Trieb dann auch befriedigt werden kann.

Für diese Energie des Eros hat Freud den Begriff der Libido gewählt. Ursprünglich war es nur die Bezeichnung für die Energie des Sexualtriebes. Für den Todestrieb hat Freud es vermieden, einen ähnlichen Begriff einzuführen. Dennoch muß man sich vor Augen halten, daß es zwei verschiedene Arten von Energien sind, die dem Wesen nach unterschiedliche Ziele verfolgen, die aber dennoch nach den gleichen Mechanismen im psychischen Apparat funktionieren. Die für das allgemeine Verständnis des menschlichen Handelns in diesem Sinne wichtigsten sind der apriorische Triebantagonismus und das Prinzip der Triebmischung. Denn „dieses Mit- und Gegeneinanderwirken der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen.“[12] So gehört zu dem Vorgang sich ein lang ersehntes Buch zu kaufen nicht allein der drängende Wunsch, dieses Buch haben zu wollen, es sich förmlich einzuverleiben, sondern es ist auch ein gewisses Maß an Aggression von Nöten, um in den Buchladen zu gehen und es sich auch zu kaufen. Die Aggression würde sich hier als Bemächtigungstrieb zeigen.

Von äußerster Wichtigkeit ist dabei das Mischungsverhältnis der Triebe, denn „Veränderungen im Mischungsverhältnis haben die greifbarsten Folgen. Ein stärkerer Zusatz zur sexuellen Aggression führt vom Liebhaber zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu oder impotent.“[13]

Für Freuds später zu beschreibende Kulturtheorie ist es noch sehr wichtig zu erwähnen, das Freud seine Triebtheorie sehr physikalisch verstand. D. h. wenn er von Energie spricht, dann meint er Energie im physikalischen oder auch materialistischen Sinne, wirkliche Energiequanten, die nach Abfuhr streben, die sich stauen können, wenn ihnen diese Abfuhr versagt wird, und die dann die verschiedensten Wege einschlagen, um diese (durch das Bewußtsein verursachte) Versagung zu umgehen. Beispiele sind dafür die Sublimierung, wie auch die Traumarbeit, die Entstellung des latenten in den manifesten Trauminhalt. Oder aber sie bleiben im Körper, in der Verdrängung gefangen, was dann auch die negativsten Folgen haben kann.

2. 2. 2. Instinktreduktion

Das menschliche Antriebsleben in seiner Eigenart ergibt sich aus der physiologischen Ausstattung des Menschen. Denn ein Wesen, daß von der Natur aus so mangelhaft mit den nötigen Dingen zum Überleben ausgestattet ist, bedarf Mechanismen, um dies wieder auszugleichen.

Gehlen distanziert sich von allen Trieblehren, deren bekanntester Vertreter Sigmund Freud ist. Doch lehnt er damit nicht den Gedanken ab, daß die Antriebe des Menschen allgemein triebhaft oder zum Teil triebhaft sein können, sondern er wendet sich nur vehement gegen eine Typologie der Antriebe. Denn „entweder erhält man für ‚ den Menschen’ eine beliebig lange Liste inhaltlich ausgeleerter Begriffe, oder, wenn man konkretisieren will, fällt man notwendig ins Beschreibend-Biographische zurück.“[14] Gehlen richtet seine Kritik also gegen all jene, die dem Menschen genauer charakterisierte Antriebe zuschreiben wollen. Freud fällt in diese Kritik mit hinein, aber hauptsächlich ist sie gegen die Instinktlehren gerichtet gewesen, die dem Menschen mehrere feste Instinkte zuschreiben wollen. Für Gehlen zeichnet sich das Antriebsleben des Menschen gerade durch den Wegfall von instinktgesicherten Handlungen aus. Es ist durch die Instinktreduktion geprägt. Dadurch gewinnen die Antriebe des Menschen eine hohe Plastizität und Variabilität. Die ehemalig instinktgesicherten Handlungsabläufe sind zu Instinktresiduen geworden, die im Menschen nur noch Bedürfnisse wecken, ohne daß sie gleich nahelegen, wie dieses Bedürfnis denn zu befrieden sei. Nach Gehlen ist dies überhaupt unmöglich, alle konkreten Handlungen sind Ausformungen der Kultur.[15] So ist es nicht schwer, ein dringendes Bedürfnis des Hungers anzunehmen, aber was gegessen wird und wie es gegessen wird, kann interkulturell hochgradig verschieden sein und dennoch erfüllt es den gleichen Zweck.

Dahinter steht, daß bei Gehlen die seelische Energie der Antriebe ebenso bild- und inhaltslos ist, wie bei Freud, daß sie erst mit Zielen und Objekten besetzt werden muß. Hier fügt sich bei Gehlen eine der Bedeutungen der langen Sozialisationsphase ein, denn es bedarf vieler Erfahrungen, um die Kultur, in die man hineingeboren wurde, aufzunehmen, und sein Handeln daran auszurichten, d. h. unbestimmte Bedürfnisse mit konkreten Handlungsabläufen zu besetzen. Dieser Vorgang läßt sich also relativ gut mit dem der Libidobesetzung von Objekten bei Freud vergleichen, beide meinen im Prinzip das gleiche. Der Unterschied liegt eben nur darin, wie oben schon erwähnt, daß diese Energie bei Freud konkrete Eigenschaften hat – Libido als Energie des Eros – wohingehend der Energiebegriff bei Gehlen sozusagen charakterlos ist. Gehlen lehnt Freuds Libidobegriff ab und verweist gerade auf die Fassung des Libidobegriffs bei Carl Gustav Jung, die der eigenen Konzeption entspricht[16].

Als einen weiteren Punkt, warum eine konkrete seelische Energie undenkbar ist, führt Gehlen die Tatsache an, daß hinter jeder Handlung mehrere Antriebe, mehrere Instinkt-residuen stehen. Dies wird als Entdifferenzierung der Antriebe bezeichnet.. Mehrere Antriebskomponenten verschmelzen in einer Handlung – Gehlen sagt, sie konvertieren im Freudschen Sinne der Triebmischung[17]. So kommt z. B. die Sexualisierung allen menschlichen Handelns wie auch die Durchdringung der Sexualität mit ästhetischen oder anderen Komponenten zu stande. Ein weiterer Faktor für die hohe Fähigkeit zum Verschmelzen der unterschiedlichen Antriebe ist die Tatsache, daß zwar immer mehrere Instinktresiduen aktiviert sind, es aber nur ein Betätigungsfeld nur eine Möglichkeit des Handelns gibt, und das ist das bewußte Handeln des Menschen. Anthropologisch gesehen steht dahinter die Tatsache, daß der Mensch nicht über eine Erbmotorik verfügt, die den gesamten Handlungsspielraum des Menschen eng faßt und damit erschöpfend festlegt. Sondern er verfügt über eine Erwerbsmotorik, d. h. er muß sein gesamtes Bewegungsrepertoire erlernen, ist dadurch aber auch sehr unspezialisiert und zu den unterschiedlichsten und weit gefächertsten Bewegungen und Handlungen fähig. Es wird deutlich das dies in direktem Zusammenhang mit der Instinktreduktion steht, denn nur weil diese entdifferenziert sind und keine direkten Beziehungen zu den motorischen Bahnen geknüpft haben, ist es möglich, daß „in einem definierten Verhalten [...] sich die verschiedensten Mischungen von Instinktresiduen ausdrücken.“[18] Diese Vermischung der Antriebsmomente ist also nur die Reaktion darauf, daß gleichzeitig mehrere Antriebskomponenten ansprechbar sind und auch auf Erfüllung drängen. Freuds Konzept der Triebmischung funktioniert ganz ähnlich, und diese Verschmelzung von Triebkomponenten zeigt sich bei ihm noch in einem ganz anderen Bereich, nämlich bei der Wiederkehr des Verdrängten, wo verdrängtes psychisches Material so verändert und verfälscht und dadurch so eng an bewußtseinsfähiges Material angebunden wird, daß es auch so den ihm eigenen Drang nach Abfuhr befriedigen kann.

[...]


[1] A. Gehlen : Der Mensch, Quelle & Meyer Wiesbaden UTB 1997 S.14

[2] ebd.

[3] A. Gehlen, Der Mensch S. 10

[4] S. Freud, Psychoanalyse und Libidotheorie 1923 G. W. XIII S. 211 zitiert in Laplanche/Pontalis : Das Vokabular der Psychoanalyse 15. Auflage 1999 Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main S. 411

[5] S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse S. Fischer Verlag Frankfurt/Main 1991 S. 153

[6] vgl. Gehlen, Der Mensch S. 86ff.

[7] Zur Einführung des Todestriebes siehe Jenseits des Lustprinzips 1921. Weiter ausgebaut wurde die Triebtheorie in: Das Ich und das Es 1923

[8] S. Freud, Das Ich und das Es in : S. Freud, Das Ich und das Es , Metapsychologische Schriften Fischer Verlag Frankfurt/Main 1992 S. 278

An späterer Stelle, erstmalig wohl in Das Unbehagen der Kultur (1930) bezeichnet Freud den Eros auch als die Lebenstriebe.

[9] Ebd.

[10] S. Freud Abriß der Psychoanalyse, in: S. Freud, Abriß der Psychoanalyse, Einführende Darstellungen Fischer Verlag Frankfurt/Main 1994

[11] Vokabular der Psychoanalyse S. 442

[12] S. Freud, Abriß der Psychoanalyse S. 45

[13] ebd.

[14] A. Gehlen, Der Mensch S. 329

[15] A. Gehlen, Der Mensch S. 330

[16] A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Aula Verlag Wiesbaden 5. Auflage 1986 S. 130

[17] A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur S. 130

[18] A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur S. 129, kursiv im Original

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Kulturfähigkeit vs. Kulturfeindlichkeit? Darstellung und Vergleich der anthropologischen Ansätze von Arnold Gehlen und Sigmund Freud
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Hauptseminar: Anthropologie und Anthropologiekritik
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
33
Katalognummer
V5866
ISBN (eBook)
9783638135986
ISBN (Buch)
9783640463039
Dateigröße
663 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Philosophische Anthropologie, Psychoanalyse
Arbeit zitieren
Ingo Blaich (Autor:in), 2000, Kulturfähigkeit vs. Kulturfeindlichkeit? Darstellung und Vergleich der anthropologischen Ansätze von Arnold Gehlen und Sigmund Freud, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5866

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Kulturfähigkeit vs. Kulturfeindlichkeit? Darstellung und Vergleich der anthropologischen Ansätze von Arnold Gehlen und Sigmund Freud



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden