Probleme und Perspektiven der Wunderdidaktik in der Grundschule


Examensarbeit, 2005

75 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Die Wunderüberlieferung in den Evangelien
1.1 Wesentliche Aspekte der neutestamentlichen Wundergeschichten
1.2 Zum Wirklichkeitsverständnis von Wundergeschichten

2. Kindliches Wunderverständnis
2.1 Religiöse (Vor-)Erfahrungen
2.2 Entwicklungspsychologische Voraussetzungen
2.2.1 Die kognitiven Entwicklungsstadien – Jean Piaget
2.2.2 Die Entwicklung des moralischen Urteils – Lawrence Kohlberg
2.2.3 Die Stufen des religiösen Urteils – Fritz Oser / Paul Gmünder
2.2.4 Die Stufen des Glaubens – James W. Fowler
2.3 Schlussfolgerungen für die Thematisierung von Wundergeschichten in der Grundschule

3. Wundergeschichten in der Grundschule
3.1 Gegner der Thematisierung der Wundergeschichten in der Grundschule
3.2 Befürworter der Thematisierung der Wundergeschichten in der Grundschule
3.3 Didaktische Umsetzungsmöglichkeiten
3.3.1 Wundergeschichten als Glaubensgeschichte
3.3.2 Wundergeschichten als Handlungsanweisungen
3.3.3 Wundergeschichten als Hoffnungsbilder

4. Exemplarische Darstellung didaktischer Umsetzungsmöglichkeiten anhand der Bartimäusgeschichte in Mk 10, 46-52
4.1 Exegetischer Hintergrund
4.2 Didaktische Aspekte
4.2.1 Die Bartimäusgeschichte als Glaubensgeschichten
4.2.2 Die Bartimäusgeschichte als Handlungsanweisungen
4.2.3 Die Bartimäusgeschichte als Hoffnungsbilder

5. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Anhang

Erklärung

Einleitung

Wundergeschichten in der Grundschule? Ja oder Nein? – Diese Frage hält sich beharrlich in den entsprechenden Diskussionen der Religionspädagogik. „Kommen Wunder für Kinder zu früh?“[1] fragt Werner Ritter beispielsweise in seinem gleichnamigen Aufsatz, um sich dann für eine Thematisierung der Wundergeschichten in der Grundschule auszusprechen. Klaus Wegenast hingegen äußert sich entschieden gegen eine Behandlung dieser Texte in der Grundschule.[2]

Um die Argumentation der Religionspädagogen nachvollziehen zu können, ist es nötig, sich mit den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen von Grundschülern[3] zu befassen. Hier spielen verschiedene Untersuchungen eine bedeutende Rolle. Jean Piaget beschäftigte sich beispielsweise mit der kognitiven Entwicklung des Menschen, während Lawrence Kohlberg die moralische Urteilsfähigkeit untersuchte. Mit der religiösen Entwicklung befassten sich sowohl Fritz Oser und Paul Gmünder als auch James W. Fowler. Letzterer entwarf eine Theorie über die Stufen des Glaubens. Fritz Oser und Paul Gmünder beschäftigten sich mit dem religiösen Urteil des Menschen und erarbeiteten hierzu ebenfalls ein Stufenschema.

Diese Arbeit wird zeigen, dass eine zusammenfassende Betrachtung dieser Erkenntnisse ein supranaturalistisch geprägtes Gottesbild der Kinder im Grundschulalter ergibt. Dies hat zur Folge, dass sie auch die Wundergeschichten in diesem Sinne als ein direktes Eingreifen Gottes in die Welt verstehen. Das Hauptproblem besteht in der Frage der Schüler nach der Wirklichkeit der erzählten Begebenheit. Wundergeschichten sind grundsätzlich als „Glaubens- oder Bekenntnisgeschichten und […] [nicht als] Tatsachenberichte“[4] zu werten. Diese Übertragung gelingt Grundschülern im Regelfall jedoch nicht. Auch können Wundergeschichten leicht ein missverständliches Jesusbild hervorrufen. Dieser wird dann als Übermensch oder gar als Zauberer gesehen, der jedoch damals gewirkt hat und für ihr heutiges, eigenes Leben keine Relevanz besitzt, „obwohl auch sie Bedrohung und Not leiden.“[5] Ein weiterer Kritikpunkt ist das mögliche Missverständnis über die Art des christlichen Glaubens. So könnten die Kinder die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich bei unserem Glauben lediglich um ein „unkritische[…][s] Fürwahrhalten rational nicht erklärbarer Geschehnisse“[6] handelt. Dies lässt sie eventuell zunächst am Glauben zweifeln und ihn später sogar aufgeben.

Es stellt sich nun die Frage, ob es Umsetzungsmöglichkeiten für den Unterricht gibt, die diese Probleme umgehen oder zumindest minimieren können und es somit möglich ist, die für die christliche Tradition so wichtigen Wundergeschichten auch Grundschülern nahe zu bringen und den vielfältigen positiven Gesichtspunkten dieser Texte[7] gerecht zu werden. Die Beantwortung dieser Frage wir ebenfalls in meiner Arbeit Berücksichtigung finden.

Ich möchte diese Arbeit wie folgt aufbauen:

Im ersten Kapitel geht es darum, einen Überblick über die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der Wunderschichten in den Evangelien zu erarbeiten. Anschließend wird im zweiten Kapitel das Wunderverständnis der Kinder aufgezeigt, wobei ein besonderer Akzent auf die Darstellung der bereits genannten entwicklungspsychologischen Untersuchungen gelegt werden wird. Innerhalb des dritten Kapitels werden zunächst die Argumente der Gegner und die der Befürworter der Behandlung von Wundergeschichten in der Grundschule nachgezeichnet, um daran anschließend mögliche didaktische Umsetzungen vorzustellen. Das vierte Kapitel dient einer exemplarischen Darstellung didaktischer Umsetzungsmöglichkeiten anhand einer konkreten Wundererzählung. Ich habe mich hier für die in der Grundschule sehr beliebte Bartimäusgeschichte in Mk 10, 46 – 52 entschieden. Nach einer Erarbeitung des exegetischen Hintergrundes werden drei Unterrichtsideen besprochen. Im Anschluss daran werde ich im fünften Kapitel einige abschließende Bemerkungen zum Thema ausführen und meine eigne Meinung darlegen.

1. Die Wunderüberlieferung in den Evangelien

Für eine Thematisierung der neutestamentlichen Wundergeschichten ist es, wie bei jedem anderen Thema auch, wesentlich, sich zunächst fachwissenschaftlich mit ihnen auseinanderzusetzen und Grundinformationen der Thematik zu erarbeiten, bevor eine unterrichtliche Umsetzung geplant und durchgeführt wird. Nur so ist gewährleistet, dass den Schülern keine fehlerhaften Informationen vermittelt werden, die eventuell negative Folgen haben könnten.

In diesem Kapitel sollen zunächst wesentliche Aspekte der neutestamentlichen Wundergeschichten erarbeitet werden, bevor im Anschluss daran das Wirklichkeitsverständnis der Wunder Jesu thematisiert werden wird.

1.1 Wesentliche Aspekte der neutestamentlichen Wundergeschichten

Die neutestamentlichen Wundergeschichten machen zu einem großen Teil die erzählende Jesusüberlieferung aus und bilden somit die häufigste Überlieferungsform. Noch nicht einmal von den Gleichnissen werden sie zahlenmäßig übertroffen. Nun darf jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass die Wunder Jesu, wie wir sie heute vorliegen haben, so auch wirklich stattfanden. Es ist vielmehr zu berücksichtigen, dass sie einer mehrere Jahrzehnte andauernden mündlichen Überlieferung unterworfen waren, bevor sie erstmals schriftlich fixiert wurden und später Einzug in die Evangelien erhielten. Um die ursprüngliche Form der Wundergeschichten zu ermitteln, ist es von Bedeutung, verschiedene Gesetzmäßigkeiten der Überlieferungsgeschichte zu beachten.[8]

So lässt sich beispielsweise feststellen, dass die Texte während der mündlichen, aber auch noch während der schriftlichen Überlieferung sekundär erweitert, ausgestaltet oder sogar neugebildet wurden. Bevorzugt kommt es hier zu einer „Steigerung des wunderhaften Elements“[9].Liegen mehrere Versionen eines Textes vor, ist in der Regel die kürzere, weniger wunderhafte Form als die ursprüngliche zu werten. Auch das Entstehen von Dubletten oder Varianten und die Umgestaltung einiger Bildworte Jesu zu Wundererzählungen sind als typische Gesetzmäßigkeiten der Wunderüberlieferungen zu nennen. Ebenso spielen bekannte antike Wundergeschichten für den Überlieferungsprozess eine Rolle. Die dort verwendeten Motive wurden teilweise auf Jesus übertragen. Des Weiteren muss damit gerechnet werden, dass zum Teil ganze Wundergeschichten Jesus zugeschrieben wurden – beispielsweise um die Wunder der alttestamentlichen Propheten zu übertreffen.

Betrachtet man die Wunderüberlieferung Jesu in der uns vorliegenden Fassung in den Evangelien, so lassen sich diese der Form nach in drei Kategorien unterteilen: In Logien, Einzelerzählungen und Summarien.[10] Unter Logien werden die Geschichten zusammengefasst, die Aussprüche Jesu enthalten, in denen er zu seinen Wundern Stellung bezieht. Einzelerzählungen sind ausführlicher gestaltete, einzeln stehende Wundergeschichten. Summarien stellen Sammelberichte verschiedener Wundertaten dar, die durch die Evangelisten zusammengefasst wurden.

Weiterhin ist eine gattungsspezifische Einordnung der Wundergeschichten möglich. Innerhalb der Forschung existiert hierzu jedoch keine einheitliche Klassifizierung. Ich möchte in dieser Arbeit lediglich eine Möglichkeit der Gattungsbestimmung darstellen, wobei ich mich für die Variante von Gerd Theißen entscheide, da diese plausibel erscheint und heute weithin Anerkennung findet.[11] Theißen unterscheidet sechs Gattungsformen – Exorzismen, Therapien, Normenwunder, Rettungswunder, Geschenkwunder und Epiphanien. Die Zuordnung eines Wunders zu einer dieser Formen wird jeweils durch die Person bestimmt, die im Zentrum der Erzählung steht.

Die erste für Theißen relevante Form bilden die Exorzismen. Diese beschreiben Dämonenaustreibungen „aus einem ,besessenen Menschen’“.[12] Drei Merkmale sind allen Exorzismen gemeinsam: Der Dämon gilt als Subjekt der Handlung; der Mensch, der von ihm heimgesucht wird, ist ihm ausgeliefert. Um den Dämon zu vertreiben, muss sich der Wundertäter einem Machtkampf mit diesem stellen. Das letzte Merkmal ist die „zerstörerische Tätigkeit des Dämons in der Natur“[13], also auch außerhalb des von ihm heimgesuchten Menschen. Dies geschieht vor allem, um sein Ausfahren aus dem Kranken zu verdeutlichen.

Die zweite Grundform bilden die Therapien, wobei auch die Totenerweckungen des Neuen Testaments hier einzuordnen sind. Kennzeichnend für diese Gruppe ist, dass die Heilung des kranken Menschen „durch die Übertragung einer wunderhaften Energie vom Wundertäter auf den Kranken bewirkt wird.“[14] Es findet, im Gegensatz zu den Exorzismen, kein Kampf statt. Typisch für Therapien ist die heilende Kraft, die von Jesus ausgeht. Diese wird entweder durch heilende Berührungen, oftmals in Form von Handauflegungen oder durch heilende Mittel, wie beispielsweise Speichel, übertragen. Des Weiteren spielt das Glaubensmotiv eine große Rolle. Die im Neuen Testament auftretende Bestätigung „Dein Glaube hat dich gerettet“[15] findet keine Entsprechung in den antiken Wundergeschichten.

Die nächste Gruppe bilden die Normenwunder. Diese haben die Aufgabe, Normen zu begründen, ihre Einhaltung zu würdigen oder Verstöße gegen bestehende Normen zu bestrafen. Letztere Form ist auch unter dem Begriff „Strafwunder“ geläufig, wobei keine Strafwunder Jesu an den Menschen überliefert sind. Von Bedeutung ist, dass die Normenwunder der Evangelien häufig der Entschärfung der Tora dienen. So missachtet Jesus beispielsweise die Sabbatgebote, indem er am Sabbat die kranke Hand eines Mannes heilte (Mk 3, 1-6).

Als vierte Form führt Theißen die Geschenkwunder an. Diese liegen dann vor, wenn „Jesus materielle Güter in wunderbarer Weise zur Verfügung stellt.“[16] Beispiele sind hier die Speisung der 5000 (Mk 6, 30 – 44) oder die Hochzeit zu Kana (Joh 2, 1 – 11). Charakteristischerweise geschieht das Wunder spontan, das heißt, dass niemand Jesus um die Wunderhandlung bittet. Es geschieht unauffällig, der genaue Ablauf wird nicht geklärt. Im Gegensatz dazu steht die Ausgestaltung und Betonung der Wunderdemonstration, also der Erläuterung, dass sich ein Wunder überhaupt ereignet hat.

Eine weitere Gattungsform bilden Rettungswunder. Uns wurden lediglich zwei solcher Wunder Jesu überliefert: Die Stillung des Sturmes (Mk 4, 35 – 41) und der Seewandel Jesu (Mk 6, 45 – 52). Typischerweise wird zunächst eine hoffnungslos erscheinende Notsituation geschildert. Die Rettung geschieht entweder durch die Anwesenheit einer schützenden Person auf dem bedrohten Schiff oder von außen durch eine göttliche Gestalt (rettende Epiphanie). Epiphanien bilden die sechste Grundform, in die Theißen die Wundergeschichten Jesu einteilt. Sie beschreiben das „wunderbare[…] Erscheinen und [das] plötzliche[…] Verschwinden Jesu als […] göttliche[…][s] Wesen[…]“[17].

Eine gattungsspezifische Einordnung aller neutestamentlichen Wundergeschichten lässt erkennen, dass ein großer Teil der Überlieferungen den Heilungen zuzuordnen ist.

Eine weitere Besonderheit der Wundergeschichten ist ihr stereotyper Aufbau (=Topik), der auch bei den antiken Parallelgeschichten feststellbar ist. Es ist somit davon auszugehen, dass die Evangelisten auf ihnen bekannte Stilgesetze zurückgriffen und diese auf die Erzählungen anwandten. Diese viergliedrige Topik besteht aus „Einleitung, Exposition, Wunderhandlung und Demonstration“[18]. Die Einleitung dient der Vorstellung der beteiligten Personen und beinhaltet situationsspezifische Erklärungen. In der Exposition wird die Notsituation, beispielsweise eine Krankheitsgeschichte inklusive Art und Schwere des Falles beschrieben. Die daran anschließende Wunderhandlung gilt als Höhepunkt des Geschehens. Diese gliedert sich wiederum in Vorbereitung, Repräsentation der Wundertechniken sowie den eigentlichen Vollzug des Wunders. Im Anschluss daran bildet die Demonstration den „Erzählungsabschluss“[19], in welchem die Reaktionen der Anwesenden auf das Wunder beschrieben werden.

Ähnlich wie der charakteristische Aufbau der Wundergeschichten festen Stilgesetzen folgt, ist dies auch bezüglich der Personenkonstellation der Fall, welche sich in den meisten Wundererzählungen wiederfinden lässt. Neben dem Wundertäter Jesus treten die hilfsbedürftige Person und deren Begleiter, die Gegner des Wundertäters und das Publikum auf. Typischerweise handelt es sich bei allen Charakteren um Figurentypen, mit denen der Hörer bzw. Leser sich identifizieren und in denen er „,seine eigenen Erfahrungen paradigmatisch vorgebildet’ finden kann.“[20]

Insgesamt lässt sich sagen, dass es sich bei den neutestamentlichen Wundergeschichten zwar um eine beliebte Gattung der Jesusüberlieferung handelt, diese jedoch keineswegs eine christliche Erfindung sind. Wundergeschichten entspringen vielmehr dem „religiösen und geistigen Umfeld der Antike.“[21]

1.2 Zum Wirklichkeitsverständnis von Wundergeschichten

Für den heutigen Menschen ist der Begriff „Wunder“ eher selten mit religiösen Inhalten gefüllt. Besonders erstaunliche oder sehr emotionale Ereignisse, wie beispielsweise die Geburt eines Kindes, bezeichnen wir als Wunder, die Blume im Garten empfinden wir als wunderschön und eine eher unangenehme Überraschung bezeichnen wir mit der Redewendung „ein Blaues Wunder erleben“. Unter einem Wunder im eigentlichen Sinne versteht man landläufig ein Ereignis, welches mit der Durchbrechung der Naturgesetze einhergeht und somit wissenschaftlich nicht zu erklären ist. Es widerspricht unserem rationalen Denken und unseren Erfahrungen. Folglich halten wir es für unhistorisch.

In der Antike und somit in der Zeit, in der die neutestamentlichen Wundergeschichten entstanden sind, kannten die Menschen die Naturgesetze nicht in dem Umfang, wie wir sie heute kennen. Für sie bezeichnen Wunder vielmehr „ungewöhnliche, staunenerregende Ereignisse, in denen außergewöhnliche Kräfte und überirdische Mächte zu spüren sind.“[22] Wunder beinhalten für die ersten Christen eine Begegnung mit Gott, da das geschehene Ereignis auf ihn verweist und somit stets „Hinweischarakter“[23] besitzt. Dies wird auch an den Begriffen deutlich, mit welchen im neuen Testament diese wunderhaften Ereignisse beschrieben werden. Ein einheitlicher Begriff, wie wir ihn mit dem Wort „Wunder“ haben, ist dort nicht zu finden. Die synoptischen Evangelien verwenden bevorzugt das Wort dynamis (=Machtentfaltung, Krafterweise) und betonen somit den Hinweischarakter dieser Geschichten: „Jesu Taten sind Äußerungen der Kraft Gottes!“[24] Auch die Begriffe semeion (=Zeichen), teras (=außerordentliche Erscheinung, göttliches Vorzeichen) und ergon (=Werk) finden Verwendung, wobei die beiden erstgenannten häufig in Verbindung als semeia kai terata (=Zeichen und Wunder) auftreten.

Analysiert man die Deutung der Wundergeschichten, so lassen sich verschiedene Phasen erkennen. Bis in die Neuzeit hinein galten Wundergeschichten als unproblematisch; sie wurden vielmehr als Legitimationsgrundlage für den christlichen Glauben verstanden und „supranaturalistisch“ als göttliches Eingreifen in die Natur erklärt. Dies änderte sich jedoch im frühen 19. Jahrhundert durch den aufkommenden Rationalismus. Die Menschen versuchten eine natürliche, rationale Erklärung für die Wunder Jesu zu finden. Carl Friedrich Bahrdt (1741-1792) erklärt den Seewandel beispielsweise damit, dass Jesus „auf im Wasser treibenden Bauhölzern spazierte“[25]. Die wunderbare Brotsvermehrung stellt für Carl Heinrich Venturini (1768-1849) eine Bitte Jesu an die Reichen dar, „ihre großen Speisevorräte mit den Armen“[26] zu teilen.

Die nächste Phase ist die Phase der mythischen Wunderinterpretation durch David Friedrich Strauß (1808-1874). Er deklariert die neutestamentlichen Wunder als Mythen, die Jesus als Beweis seiner Messianität zugeschrieben wurden. Die Wunder des Messias mussten vorangehende Wundertaten der Propheten übertreffen, um ihn in seiner Position zu stärken. Lediglich einzelne Heilungen und Dämonenaustreibungen spricht Strauß dem historischen Jesus zu. Für die Entstehung der anderen Texte macht er vor allem die Inhalte der Elia-Elisa-Überlieferung sowie Jes 35 verantwortlich. Ähnlich wie dieser Theologe gehen auch Martin Dibelius (1883-1947) und Rudolf Bultmann (1884-1976) mit ihrer religions- und formgeschichtlichen Deutung der neutestamentlichen Texte davon aus, dass die Wunder – zumindest teilweise – auf Jesus übertragen wurden. Im Gegensatz zu Strauß betonen sie jedoch die enge Verwandtschaft zu den antiken Wundergeschichten. Bultmann wertet die Wunder beispielsweise „als zeichenhafte Glaubenszeugnisse, als gepredigte Bilder der frühen Christenheit.“[27]

Auch heute wird im Allgemeinen davon ausgegangen, die Wundergeschichten als Glaubenszeugnisse der ersten Christen und nicht als historische Tatsachenberichte zu verstehen. Eine relativ neue Deutung der Wunder Jesu stellt Klaus Berger vor. Er versucht einen dritten Weg zwischen Historisierung und Metaphorisierung zu gehen, wobei die Wunder als „weiche Fakten“ einem anderen Wirklichkeitsverständnis folgen, als die uns geläufigen „harten Fakten“ der Naturgesetze. Nach Berger existieren mehrere Zonen oder Ebenen der Wirklichkeit, die alle „auf ihre Weise mit Gott zu tun [haben] und [...] in all ihrer Gegensätzlichkeit doch darin eins [sind]. [...] Gott [ist] auf allen Ebenen wirksam [...], nur auf jeweils verschiedene Weise.“[28] Seinen Ausführungen zufolge sind Wunder also nicht von vorneherein als unwahr zu erklären.

Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass es innerhalb der Auslegungsgeschichte verschiedene Ansätze gegeben hat, die Wundergeschichten zu interpretieren. Rainer Lachmann unterscheidet unter Berücksichtigung dieser Befunde drei Verstehenstypen[29]: Der biblizistisch-übernatürliche Verstehenstyp ist gekennzeichnet durch ein wörtliches Verständnis der Wundergeschichten als Tatsachenberichte, wobei die Wundertaten auf den allmächtigen Gott zurückzuführen sind. Ebenso als historische Tatsachenberichte, allerdings mit einer natürlichen Erklärung, werden die Wundergeschichten auf rationalistisch-natürliche Art verstanden. Als letzten Verstehenstyp nennt Lachmann den hermeutisch-persönlichen Typ. Demnach werden Wundergeschichten als Glaubenserzählungen ohne jegliches historisches oder naturwissenschaftliches Interesse interpretiert.

Die Forschung geht heute außerdem davon aus, dass die Einteilung der Wunder in verschiedene Gattungsformen bereits „eine gewisse Vorentscheidung über die Historizität“[30] mit sich bringt. Gerd Theißen und Anette Merz geben so für Exorzismen, Therapien und auch für Normenwunder einen grundsätzlichen Ursprung beim historischen Jesus an. Anders fällt ihr Urteil für Rettungswunder, Geschenkwunder oder Epiphanien aus: Als Voraussetzung für das Entstehen dieser Wundergeschichten ist der Osterglaube der ersten Christen zu sehen. Jesus werden hier übermenschliche Fähigkeiten zugeschrieben, wobei die Geschichten sich an Ereignissen orientieren, die im Leben des historischen Jesus so tatsächlich stattgefunden haben. Die Speisung der 5000 orientiert sich somit an tatsächlich stattgefundenen Speisungen, die Stillung des Sturms an tatsächlich stattgefundenen Bootsfahrten. Auffällig ist, dass diese drei Gattungsformen insgesamt seltener überliefert sind als beispielsweise Heilungen.

Abschließend lässt sich sagen, dass Wundergeschichten auch heute noch eine hohe Bedeutung innewohnt, wobei zu betonen ist, dass der Schwerpunkt in der Diskussion über Jesu Wunder nicht die Frage nach der Historizität bilden sollte. Wunder wollen vielmehr „zum Staunen und ,Wundern’ anregen“[31], Mut machen und vor allem Hoffnung schenken.

2. Kindliches Wunderverständnis

Das kindliche Wunderverständnis wird von diversen Faktoren beeinflusst. So spielen beispielsweise die Sozialisationsbedingungen, die kindliche Erfahrungswelt oder auch verschiedene entwicklungspsychologische Voraussetzungen eine bedeutende Rolle. Zu beachten ist hier, dass sich gleichaltrige Kinder auf unterschiedlichen entwicklungspsychologischen Stufen befinden können und unter verschiedenen Sozialisationsbedingungen aufwachsen.

Im folgenden Kapitel sollen diese Faktoren zunächst aufgezeigt und analysiert werden, um abschließend einige Schlussfolgerungen bezüglich des Wunderverständnisses von Grundschulkindern ziehen zu können.

2.1 Religiöse (Vor-) Erfahrungen

In unserer heutigen Gesellschaft scheint Religion eine immer geringere Rolle zu spielen. Es stellt sich somit die Frage, ob Kinder bereits religiöse Erfahrungen machen, bevor sie in die Schule kommen oder ob sie diese zu Beginn als „religiös [noch] unbeschriebene Blätter“[32] besuchen. Festzustellen ist, dass der Bezug zur kirchlichen Religion zusehens abnimmt. Immer weniger Eltern besuchen mit ihren Kindern den Gottesdienst, womit dieser für sie zu einem eher unbekannten Ereignis wird. Von den Festen des Kirchenjahres sind ihnen oft lediglich Weihnachten und Ostern ein Begriff, wobei sie die eigentliche Bedeutung dieser Feste oftmals nicht kennen. Trotz dieser Abnahme an kirchlicher Religiosität werden die Kinder im Alltag immer wieder mit ihr oder mit Religion im Allgemeinen konfrontiert; sei es bei der Taufe eines Geschwisterkindes, dem Besuch einer Kommunion bzw. Konfirmation oder während eines Sonntagsspazierganges, der an einem Dorfkreuz vorbei führt.

[...]


[1] Ritter, Werner, Kommen Wunder für Kinder zu früh?. Wundergeschichten im Religionsunterricht der Grundschule, KatBl 12 (1995), 832 – 842.

[2] Wegenast, Klaus, Wundergeschichten der Bibel in der Grundschule?, in: ders., Glaube – Schule – Wirklichkeit, Gütersloh 1970, 156 – 160.

[3] Auch wenn im Verlauf der Arbeit stets nur die maskuline Form verwendet wird, ist das Femininum jeweils mit eingeschlossen.

[4] Kollmann, Bernd, Bartimäus, 59.

[5] Kollmann, Bernd, Wundergeschichten, 185.

[6] Ebd. 186.

[7] Siehe hierzu Kapitel 3.2, S. 30.

[8] Vgl. hierzu beispielsweise: Kollmann, Bernd, Wundergeschichten, 57 ff.

[9] Ebd. 58.

[10] Vgl. Ebd. 57.

[11] Vgl. Ebd. 62.

[12] Theißen, Gerd, Merz, Anette, Der historische Jesus, 265.

[13] Theißen, Gerd, Wundergeschichten, 98.

[14] Theißen, Gerd, Merz, Anette, Der historische Jesus, 266.

[15] Bsp.: Mk 10, 52

[16] Theißen, Gerd, Merz, Anette, Der historische Jesus, 267.

[17] Kollmann, Bernd, Wundergeschichten, 63.

[18] Ebd. 61.

[19] Roloff, Jürgen, Neues Testament, 116.

[20] Lachmann, Rainer, Adam, Gottfried, Ritter, Werner H., Schlüsselbegriffe, 382.

[21] Ebd. 382.

[22] Ebd. 383.

[23] Roloff, Jürgen, Neues Testament, 111.

[24] Ebd. 113.

[25] Kollmann, Bernd, Wundergeschichten, 14.

[26] Ebd. 15.

[27] Ebd. 16.

[28] Berger, Klaus, Wunder, 125.

[29] Vgl.: Lachmann, Rainer, Adam, Gottfried, Ritter, Werner H., Schlüsselbegriffe, 358.

[30] Kollmann, Bernd, Wundergeschichten, 63.

[31] Lachmann, Rainer, Adam, Gottfried, Ritter, Werner H., Schlüsselbegriffe, 386.

[32] Schweitzer, Friedrich, Kind und Religion, 38.

Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Probleme und Perspektiven der Wunderdidaktik in der Grundschule
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,6
Autor
Jahr
2005
Seiten
75
Katalognummer
V58530
ISBN (eBook)
9783638526975
ISBN (Buch)
9783656785477
Dateigröße
825 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Nach einem Überblick über die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der Wunderschichten in den Evangelien, werden die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen von Grundschülern dargestellt. Im Anschluss an die Herausarbeitung der Argumente der Gegner und der Befürworter der Behandlung von Wundergeschichten in der Grundschule werden mögliche didaktische Umsetzungen vorgestellt. Es folgt eine exemplarische Darstellung möglicher Umsetzungen anhand der Bartimäusgeschichte in Mk 10, 46-52.
Schlagworte
Probleme, Perspektiven, Wunderdidaktik, Grundschule
Arbeit zitieren
Britta Wüst (Autor:in), 2005, Probleme und Perspektiven der Wunderdidaktik in der Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58530

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