"Das transparente Ich". Was bedeutet es, wenn keine Erinnerungen mehr verloren gehen würden?


Hausarbeit, 2019

25 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das transparente Ich – Black Mirror
2.1 Zusammenfassung des Gegenstands
2.2 Auswirkungen des „grains“ in der Episode

3. Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens der totalen Erinnerung
3.1 Google Glass – Die Datenbrille
3.2 Gordon Bells Projekt „MyLifeBits“

4. Biologisches Gedächtnis vs. künstliches Gedächtnis
4.1 Die Bedeutung des Vergessens und der subjektiven Erinnerung
4.2 Erinnerungsverfälschung

5. Diskussion

6. Schlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis

8. Anhang

1. Einleitung

„Wie hieß das Buch noch gleich, welches ich vor einigen Monaten gelesen habe und das mich so begeistert hat?“ - „Wo habe ich denn bloß meinen Schlüssel hingelegt?“ - „Wie hieß der Mann neulich, der mich auf dem Geburtstag meiner Schwester angesprochen hat?“

Obwohl wir Menschen über ein Gedächtnis verfügen, das es uns möglich macht, Erinnerungen abzurufen, die teilweise bis in die frühe Kindheit zurückliegen, passiert uns auch häufig der umgekehrte Fall: wir vergessen. Dabei gehen einige Wissenschaftlicher davon aus, dass unser Gedächtnis eine beinahe unbegrenzte Speicherkapazität aufweist, jedoch häufig der „Schlüsselreiz“ fehlt, der das Erinnern auslöst.1 Menschen bedienen sich daher an Gedächtnisstützen wie Notizzettel, Terminplanern oder Eintragungen in das Smartphone, um sich so z.B. an wichtige Namen, Termine oder Nummern zu erinnern. Auch persönlich bedeutsame Erinnerungen, wie beispielsweise der erste Urlaub oder der Hochzeitstag, werden häufig digital festgehalten, um in Erinnerung zu bleiben. Diese „gesammelten Erinnerungen“ werden dann mit eigenen Erzählungen untermalt, um so auch dritte Personen daran teilhaben zu lassen. Jedoch bleiben durch solche Aufnahmen nur „Abrisse“ des tatsächlich Erlebten erhalten, sodass der Rest „hinzugedacht“ werden muss. Doch wie wäre es, wenn jeder Name, jede Nummer und jedes Erlebnis, dass wir einst vor Augen hatten, jederzeit abrufbar wäre, und das in vollem Umfang, ohne Verlust jeglicher Details? Was würde es bedeuten, wenn wir eine Gedächtnisprothese, eine Art Speichermedium implantiert bekämen, mithilfe dieser wir unsere Erlebnisse vor unseren eigenen und vor den Augen anderer jederzeit erneut abspielen könnten?

In der folgenden Arbeit soll es um die Vorstellung gehen, in der in Zukunft alle Menschen ein implantiertes Gedächtnis erhalten würden, das alles aufzeichnet, was sie tun, sehen und hören. Es sollen Überlegungen angestellt werden, was es bedeuten würde, wenn keine unserer Erinnerungen mehr verloren gehen würde. Gegenstand dafür stellt die Folge „Das transparente Ich“ der britischen Science-Fiction Serie „Black Mirror“ von Charlie Brooker dar, in der die eben beschriebene Zukunftsvorstellung in einer 48-minütigen Episode aufgezeigt wird.2 Zu Beginn dieser Arbeit soll eine Zusammenfassung dieser Episode folgen, in der die Gedächtnisprothese und die Kernbestandteile der Handlung dargestellt werden. In geringem Ausmaß wurden auch Auswirkungen in der Serie behandelt, die bei den Protagonisten infolge der Nutzung des Gedächtnisimplantats entstanden sind, welche ich ebenfalls schildern möchte.

Im dritten Kapitel soll dann die Wahrscheinlichkeit des Eintretens der totalen Erinnerung behandelt werden, indem ausgeführt wird, welche technischen Entwicklungen bereits existieren, die dem Gedächtnisimplantat nahekommen. Um die Leitfrage dieser Arbeit auf einer wissenschaftlich fundierten Grundlage diskutieren zu können, möchte ich dann im vierten Kapitel Vorgänge des biologischen und des künstlich erzeugten Gedächtnisses betrachten. In einer anschließenden Diskussion sollen dann Argumente für und gegen die Nutzung einer Gedächtnisprothese aufgestellt werden, die dann in der Schlussbetrachtung zu einem Fazit zusammengetragen werden.

2. Das transparente Ich – Black Mirror

2.1 Zusammenfassung des Gegenstands

In jeder Episode der Serie „Black Mirror“ wird eine eigenständige Geschichte erzählt, wobei es sich jeweils um eine Utopie technischer Entwicklungen handelt. Die Folge „Das transparente Ich“ (engl. „The Entire History of You“) präsentiert eine alternative Welt, in der die Menschen jederzeit all ihre Erinnerungen abrufen können. Mithilfe eines kleinen Chips namens „grain“, welcher unter lokaler Narkose hinter dem Ohr implantiert wird, wird es den Menschen ermöglicht, jeden wachen Moment ihres Lebens aufzunehmen und jederzeit „zurückzuspulen“, um sich vergangene Momente erneut anzusehen. Es ist außerdem möglich, die Bilder der Erinnerungen „heran zu zoomen“ bzw. zu vergrößern und mit dieser Funktion per Gesichtserkennung Personen zu identifizieren. Die Erinnerungen können vor dem eigenen inneren Auge angeschaut werden oder alternativ auf einem Großbildschirm, gemeinsam mit anderen Personen. Die Folge beginnt damit, dass der Hauptdarsteller Liam Foxwell ein Vorstellungsgespräch für eine Anwaltsstelle wahrnimmt und sich das Gespräch anschließend im Taxi sitzend, auf seinem „grain“ immer wieder anschaut. Er untersucht seine Erinnerungen konzentriert, um so herausfinden zu können, wie seine Chancen stehen, für die Stelle ausgewählt zu werden. Als der Protagonist die Bildschirmfunktion des „grains“ startet, wird der Leitspruch der technischen Entwicklung eingeblendet: „Erinnerungen wollen gelebt werden.“. Bei dem Bewerbungsgespräch ist zu sehen, dass die Arbeitsgeber Liam danach fragen, ob in seinem „Portal“ (der digitalen Erinnerungen) etwas gelöscht sei. Liam verneint dies mit einer Selbstverständlichkeit. Sie erklären außerdem, dass in einem nächsten Gespräch, falls dies stattfinden sollte, eine „Abspielung“ seiner Erinnerungen erfolgen würde. Später am Tag befindet sich der Protagonist in einer Flughafenkontrolle, in der eine solche „Abspielung“ stattfindet, ein Vorgang, in dem seine Erinnerungen der letzten vier Wochen mit schneller Geschwindigkeit abgespielt und kontrolliert werden. Die Kontrolle fällt positiv aus, sodass Liam seine Reise fortsetzen kann und sich am Abend gemeinsam mit seiner Frau Ffion bei Freunden trifft. Im Haus angekommen, beobachtet Liam, wie seine Frau mit einem Mann namens Jonas spricht, den er bislang noch nicht kennengelernt hat. Er beobachtet die Situation genau, da das Gespräch zwischen Ffion und Jonas für ihn ungewohnt vertraut aussieht. Beim späteren Abendessen ergreift vor allem Jonas, der „Neuzugang“ des Freundeskreises, das Wort und erzählt begeistert und amüsiert davon, dass er immer wieder alte Szenen einer vergangenen Beziehung vor seinem inneren Auge abspiele, da die Erinnerungen, unter anderem auch intime Erlebnisse, so schön gewesen sein sollen. Während der Erzählung fällt Liam auf, dass seine Frau den Jonas gefesselt anschaut und über jeden seiner Witze lacht. Als das Ehepaar zurück ins eigene Haus kehrt, kann Liam ihr entlocken, dass sie in der Vergangenheit eine kurzlebige Beziehung mit Jonas führte. Beunruhigt und eifersüchtig bleibt Liam die ganze Nacht wach und konsumiert eine Menge Alkohol, um sich dabei immer wieder die Aufnahmen des Abends anzuschauen und herauszufinden, worüber seine Frau und Jonas gesprochen haben. Er analysiert wiederholt, welche Blicke die beiden miteinander austauschten und versucht nahezu krampfhaft, weitere Details ihrer Geschichte herauszufinden. Am nächsten Morgen konfrontiert er seine Frau mit seinen Beobachtungen und projiziert diese auf einen Großbildschirm. Da Ffion aufgrund der vielen Anschuldigungen „dichtmacht“ und ihn das Verhalten sehr beunruhigt, entscheidet er sich dazu, zu Jonas zu fahren. Dort angekommen, stellt er diesen zur Rede und droht ihm, dessen Chip gewaltsam zu entfernen, wenn er seine Erinnerungen an Ffion nicht sofort lösche. Um weitere Streitigkeiten zu vermeiden willigt Jonas ein und geht auf dem Großbildschirm all seine Dateien bzw. Erinnerungen durch, die unter anderem vergangene intime Szenen mit Ffion widergeben. Dem vor Wut und Eifersucht gepeinigten Liam gelingt es nicht, diese Bilder aus seinen Erinnerungen zu bekommen, da er diese nun selbst immer wieder in seinem „Portal“ abspielen kann. Im weiteren Verlauf der Episode spitzt sich die Lage weiter zu, da Liam mithilfe der Analyse seiner detaillierten Erinnerungen herausfindet, dass Ffion ihm mit Jonas sogar während ihrer Ehe betrogen hat. In der Schlussszene wird gezeigt, wie Liam einsam durch das nun beinahe leere Haus läuft, da die Ehe mit Ffion gescheitert ist. Er spult immer wieder die schönen Erinnerungen ihrer gemeinsamen Zeit zurück, sieht dabei sichtlich verletzt und mitgenommen aus. Die Episode endet mit einer Szene im Badezimmer, in der sich Liam unter starken Schmerzen den Chip hinter dem Ohr selbst entfernt.2

2.2 Auswirkungen des „grains“ in der Episode

Der Gedächtnischip „grain“ wirkt zu Beginn der Episode wie eine einfach bedienbare und praktische Technologie, die es ermöglicht, dass jede gute Erinnerung, jeder Glücksmoment oder gewisse Lebensabschnitte erneut erlebt werden können. Im Freundeskreis der Hauptdarsteller wird die Technologie als eine unterhaltsame Beschäftigung genutzt, da Erzählungen mit „echten“ Bildern untermalt werden können und ein Austausch darüber stattfinden kann. Jedoch werden auch gefährliche Auswirkungen der Technologie ausgeführt. So wird beispielsweise einer der Freundinnen von Jonas und Ffion ihres Chips beraubt, so dass ihre privaten Erinnerungen nun den Tätern zugänglich sind, sie selbst sich diesen nicht mehr bedienen kann. Die Freundin führt jedoch aus, dass sich ihr Leben nach dem Raub nun unbeschwerter anfühle und dass sie ohne das jederzeit mögliche Abspielen ihrer Erinnerungen teilweise glücklicher sei. Im Falle des Protagonisten Liam erzeugt der implantierte Chip starke Auswirkungen auf dessen Gefühlslage, da sich seine Vermutungen bezüglich Ffion durch das ständige Analysieren seiner Erinnerungen fast schon zu Wahnvorstellungen entwickeln, die sich letztlich doch als Wahrheiten darstellen. Das Untersuchen seiner Erinnerungen bestimmt seinen Alltag (siehe Bild 1) und lenkt ihn so sehr ab, dass er in einer Szene volltrunken und unkonzentriert gegen einen Baum fährt. Durch das Schwelgen in der Vergangenheit und der daraus resultierenden Abwesenheit von der Gegenwart wird hier eine lebensbedrohliche Situation ausgelöst. Als weitere Auswirkung ist das Scheitern seiner Beziehung anzusehen, was letztendlich die selbst vorgenommene und gewaltsame Entfernung seines „grains“ auslöst. Seine Vermutungen hinsichtlich seiner Frau Ffion und ihrer Beziehung zu Jonas stellen sich als wahr heraus, eine Bestätigung, die ebenso durch den „grain“ ermöglicht wird und ohne diesen möglicherweise nie aufgedeckt worden wäre. Die so erkannte Lüge sorgt bei Liam für Gefühle starker Enttäuschung und des Unglücks, was sich insbesondere in der letzten Szene widerspiegelt. Ob die Lüge auch ohne den „grain“ aufgeflogen wäre, ist ungewiss.3

Da die Nutzung des „grains“, unabhängig von Liams und Ffions Geschichte, in der Serie als teilweise sehr nützlich dargestellt worden ist, bleibt die Frage vorerst offen, was es bedeuten würde, wenn keine Erinnerungen mehr verloren gehen würden.

3. Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens der totalen Erinnerung

3.1 Google Glass – Die Datenbrille

Um zu reflektieren, wie wahrscheinlich das Eintreten der „totalen Erinnerung“ durch die Implantierung eines solchen Gedächtnischips ist, möchte ich mich im Folgenden auf Techniken stützen, die bereits in unserer Welt existieren. In dieser Arbeit geht es somit um eine Technik, die dem Menschen jederzeit die Möglichkeit eröffnen soll, alles Gesehene und Gehörte seiner Vergangenheit vergegenwärtigen zu können, wodurch keine Erinnerung mehr „verloren“ gehen würde. Eine technische Neuerung, die genau dies ermöglicht, wurde vom kalifornischen Internet-Konzern Google entworfen und nennt sich Google Glass (siehe Bild 2). Im Grunde genommen fungiert die Datenbrille, die 2013 auf dem Markt erschien, als ein winzig tragbarer Computer, der durch Sprachsteuerung bedient werden kann. Von einem kleinen Sensor über dem rechten Auge wird über bzw. vor dem Sehfeld des Trägers ein halbtransparentes Bild gelegt, in dem alles dargestellt werden kann, was ein modernes Smartphone über seine Funktionen abrufen kann. Es erscheint also ein „Monitor“ vor den Augen des Trägers, vergleichbar den Möglichkeiten im Beispiel des „grains“(siehe Bild 3). Noch ähnlicher erscheint die Google Glass zum „grain“ durch die Funktion der Bild- und Videoaufnahme. Es ist möglich, alles was sich vor den eigenen Augen abspielt mit einer integrierten 5-MegapixelKamera zu fotografieren und/oder hochauflösende Videos davon zu fertigen. Die Aufnahmen können mit anderen Usern jederzeit geteilt werden.4 Anders als bei Smartphones, durch die das digitale Festhalten von Erinnerungen schon sehr geläufig geworden ist, wird bei der Verwendung einer Datenbrille eine neue Form der Dokumentation ermöglicht: das Aufnahmen eines Fotos oder Videos kann jederzeit unbemerkt durchgeführt werden. Das Gerät muss nicht mehr mithilfe der Hände bedient werden, stattdessen bleiben die Hände frei und allein ein Augenzwinkern des Glass-Trägers reicht aus, um eine Aufnahme auszulösen.6 Da die Aufnahmen zudem aus der direkten Sichtposition bzw. vor den Augen des Nutzers entstehen, werden realitätsnahe und lebendige Bilder, wie bspw. im Bild 4 im Anhang zu sehen ist, erzeugt.

Experten für Computertechnik sehen die Google Glass als eine entscheidende Entwicklung im Zeitalter der Digitalisierung, die zu einem weitreichenden Bedienkomfort führt und für Zeitersparnis sorgt. Sie ermöglicht bspw. Vorteile in der Polizeiarbeit, da Verdächtige aus Fahndungslisten per Gesichtserkennung identifiziert werden können. Jedoch werden auch weltweit kritische Aspekte im Zusammenhang mit der Datenbrille aufgezeigt, die sich insbesondere auf Problemfelder der Überwachung und des Datenschutzes beziehen. Einige Experten sind gegen die Einführung bzw. Verbreitung der Brille, da man über diese in der Lage ist, unbemerkt die Umgebung des Trägers zu dokumentieren und Bewegungsprofile zu erstellen, da das Gerät auch Standorte über GPS aufzeichnet. Diese „versteckten“ Aufzeichnungen im öffentlichen Raum und deren Übermittlung auf den konzerneigenen Server sind nach Meinung von Datenschützern als Verstöße gegen das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung zu werten.5

3.2 Gordon Bells Projekt „MyLifeBits“

Eine weitere technische Entwicklung, die dem menschlichen Gehirn das Erinnern erleichtern kann, wurde vom US-amerikanischen Computeringeneur Gordon Bell und seinem Team entwickelt. Das Forschungsprojekt, welches vom Großkonzern Microsoft finanziert wurde, nennt sich „MyLifeBits“ und repräsentiert die Vision, das gesamte Leben auf eine Festplatte aufzunehmen, um so alles Erlebte jederzeit abrufbereit zu haben. Das Projekt ist außerdem bekannt unter dem Namen „Totall Recall“, angelehnt an einen Film von Paul Verhoeven, der mit „Die totale Erinnerung“ übersetzt wird.6 In diesem Film geht es um fremde Erinnerungsimplantation – in Microsofts Projekt sollen jedoch die „echten“ bzw. die eigenen Erinnerungen dokumentiert werden. Der Leiter des Projekts, Gordon Bell, zeichnete von 2001 bis 2007 minutiös sein Leben auf. Konkret bedeutet dies, dass durch die digitale Selbstüberwachung seine Herzfrequenz, seine Körpertemperatur, sein Bewegungsablauf sowie sein Standort per GPS im Minutentakt auf Festplatten aufgezeichnet wurde. Mithilfe von sogenannten „SenseCam“-Kameras, die an seinem Ohr und Hals platziert wurden, konnte all sein Gehörtes und Gesehenes durch Tonspuren, Fotografie- und Videoaufnahmen dokumentiert werden (siehe Bild 5). Gordon Bells digitales Archiv umfasste insgesamt mehr als 100.000 EMails, 58.000 Fotos, 15.000 Word- und PDF-Dateien etc., täglich kamen ca. 1000 Fotodateien dazu. Jedes Gespräch und jedes Telefonat, das er führte, wurde gespeichert.9 Diese digitale Lebensform wird auch „Lifelogging“ genannt. Unter dem Begriff werden vielfältige Formen der digitalen Erfassung, Speicherung und Auswertung von Lebensdaten und Verhaltensspuren (sogenannte „lifelogs“) verstanden.7 Der Computeringenieur Bell glaubt fest an die Idee des „Lifeloggings“ und beschrieb, dass er sich durch die Nutzung der Maschine freier und kreativer fühle, da er sich nun auf sein „Surrogatgehirn“ verlassen könne, welches all seine Lebensdaten sammelt, und er sich somit keine Sorgen machen müsse, etwas Wichtiges zu vergessen.8 In seinem Buch „How the e-memory revolution will change everything - Total Recall“ (2009) schilderte Bell seine Erfahrungen im Rahmen des „Lifeloggins“, die Vision und Idee des Projekts und dessen Vorteile für die Lebenswelt der Menschen. Die Idee des Projekts beschreibt er folgendermaßen: „The idea is simple to state: „Record everything, keep everything“ 12 - sich an alles zu erinnern, ist in Bells Augen nur mit Vorteilen verbunden. Man müsse sich nicht mehr über das Vergessen von Namen, Gesichter oder wichtigen Details von Konversationen Gedanken machen. Merkzettel oder Eintragungen in Terminkalender, die wiederum auch verloren gehen können, würden überflüssig werden. Bell beschreibt, dass der Nutzer, der sich an etwas Vergessenes erinnern möchte, anhand von Schlüsselwörtern oder Phrasen dieses Wissen schnell zurückholen könne. Wenn die Suchanfrage zu viele Ergebnisse erziele, kann die Suche anhand weiterer Kriterien eingegrenzt werden. Ein Prozedere, welches die Menschen nach Bell bereits kennen, da sie täglich Suchmaschinen wie Google oder Wikipedia nutzen. Das „Lifelogging“ wäre nur eine Erweiterung, die dem Menschen den Zugriff auf weitere, lebenswichtige und persönliche Details ermögliche, die die herkömmlichen Suchmaschinen nicht hergeben würden.13 Er unterscheidet zwischen seinem „biological memory“, welches ihm teilweise nur „stumpfsinnig“ erlaubt, sich an Vergangenes zu erinnern und zwischen seinem „ememory“, welches seine komplette Historie wiedergeben kann und dadurch detailliertes Erinnern ermöglicht. Weiterhin helfe sein „e-memory“ seinem eigentlichen „biological memory“ bei Erinnerungsprozessen, da bspw. das einfache Abrufen einer Fotodatei oder einer Tonspur aus der Vergangenheit bewirke, dass immer mehr Erinnerungen auf „natürlichem Wege“ in das Gedächtnis zurückkommen könnten.14

Es bleibt festzustellen, dass sich die technischen Umsetzungen der „Google Glass“ und des „Lifeloggings“ stark der Utopie des „grains“, dem Gegenstand dieser Arbeit, ähneln. Alle drei technischen Entwicklungen vertreten die Vision, dem biologischen Gedächtnis durch ein künstliches Gedächtnis das Erinnern zu erleichtern bzw. zu ermöglichen. Doch wie funktioniert das biologische Gedächtnis – und wie das künstliche?

4. Biologisches Gedächtnis vs. künstliches Gedächtnis

Unser biologisches Gedächtnissystem wird von verschiedenen Gehirnarealen gesteuert, d.h., dass unterschiedliche Strukturen für verschiedene Arten des Gedächtnisses von Bedeutung sind. Es wird zwischen dem Langzeitgedächtnis (explizites, deklaratives Gedächtnis) und dem Kurzzeitgedächtnis/Arbeitsgedächtnis (implizit, nicht-deklaratives Gedächtnis) unterschieden. Das Arbeitsgedächtnis kann nicht mehr als sechs bis acht Elemente gleichzeitig aufnehmen und befindet sich im Wesentlichen im vorderen Teil des Stirnlappens (präfrontaler Cortex), so dass hier nur eine geringe Speicherfähigkeit vorhanden ist. Das Langzeitgedächtnis hat dagegen eine fast unbegrenzte Kapazität und speichert Informationen dauerhaft in unserem Gehirn, die entscheidende Gehirnstruktur bildet hier der sogenannte Hippocampus. Dieser Bereich ist also zuständig für unsere Erinnerungen, da hier Fakten, Erlebnisse, Ereignisse und Episoden unseres Lebens abgespeichert werden.9 Des Weiteren wird zwischen dem autobiografischen, dem prozeduralen und dem semantischen Gedächtnis unterschieden, da jedes dieser drei Systeme für unterschiedliche Arten der Erinnerungen zuständig sind. Das autobiografische Gedächtnis umfasst biografische, größtenteils einzelne Erlebnisse und Ereignisse, die emotional gefärbt sind und sich an einem bestimmten Ort und zu einem konkreten Zeitpunkt zugetragen haben (bspw. die erste Auslandsreise, der Auszug aus dem Elternhaus). Mithilfe des prozeduralen Gedächtnis erwirbt und reaktiviert der Mensch Gewohnheiten und motorische Fähigkeiten (bspw. Auto fahren, Schwimmen, Tippen oder Schreiben). Das semantische Gedächtnis enthält Erinnerungen in Form von Fakten, Definitionen und Konzepten.10 In Bezug auf das künstliche Gedächtnis, welches wir uns in Form des „grains“ vorstellen, würde dieses unserem autobiografischen und semantischem Gedächtnis Abhilfe leisten, nicht aber unserem prozeduralen. Das bedeutet, dass bestimmte Erlebnisse oder Wortbedeutungen, die wir meinen vergessen zu haben, durch das „grain“ abrufbar wären. Einen Einfluss auf unsere Motorik hätte das technische Gerät jedoch nicht.

Doch wie genau unterscheidet sich nun das biologische von dem künstlichen Gedächtnis?

Zuerst muss klar herausgestellt werden, dass das „natürliche“ Erinnern mehr als das Abrufen einer Information von der Festplatte eines technischen Geräts ist. Beim Erinnern beeinflusst die gegenwärtige Situation das Reaktivieren von Informationen und deren erneute Abspeicherung.

Das bedeutet, dass der Mensch eine reaktivierte Erinnerung erneut abspeichert und diese „neue Version“ nicht mehr der ursprünglichen entspricht. Jeder neue Gedanke oder jedes Gespräch kann eine Erinnerung verändern. Das biologische Erinnerungsleben ist also vielfältig und stets beeinflusst vom emotionalen und situativem Kontext. Diese Vielfalt lässt sich nicht mit Ausdrücken der Computersprache, wie bspw. „abspeichern“, „suchen“, „abrufen“ usw., gleichsetzen.11 Es ist nicht möglich, sich an einen Tag X zu erinnern und diesen wie ein Video vor den eigenen Augen abspielen zu lassen. Jedoch haben wir Menschen oft das Gefühl, dass wir uns genauso detailreich an etwas erinnern könnten, wie es sich in der Vergangenheit abspielte. Gordon Bell hält dies für einen Irrtum, denn er schreibt: „As the memory plays out in your mind you may have the strong impression that it’s a high-fidelity record, but only a few of its contents are truly accurate.“ 12 . Tatsächlich können wir unsere Erinnerungen nicht so detailreich wie ein Computer wiedergeben, vielmehr werden sie durch unser gegenwärtiges Wissen, unsere Überzeugungen, unsere Bedürfnisse und Emotionen beeinflusst. Daher „umschreiben“ Menschen häufig ihre Erinnerungen, um sie so ihren gegenwärtigen Auffassungen und Bedürfnissen anzugleichen.19 Zudem kann Erlebtes nicht gänzlich wiedergegeben werden, da wir Details, manchmal aber auch ganze Episoden, vergessen. Hier lässt sich der wahrscheinlich stärkste Unterschied zum künstlichen Gedächtnis feststellen, denn „natürliche“ Erinnerungen sind subjektiv, der eigenen Lebenswelt angepasst und nicht gänzlich reaktivierbar, während digital erzeugte Videoaufnahmen objektiv die Gesamtheit des Gesehenen und Gehörten abbilden können. Aufgrund dessen bezeichnet Bell das biologische Gedächtnis als „subjective, patchy, emotion-tinged, egofiltered, impressionistic, and mutable“ und das künstliche Gedächtnis als „objective, dispassionate, prosaic, and unforgivingly accurate.“ 13.

[...]


1 Vgl. Thyroff 2014. 2 Vgl. Netflix 2011.

2 Vgl. Netflix 2011.

3 Vgl. Netflix 2011.

4 Vgl. Klinke & Stamm 2013, S. 58f. 6 Vgl. ebd., S. 60.

5 Vgl. Matzat 2013.

6 Vgl. Spektrum der Wissenschaft 2007. 9 Vgl. Schmitt 2007b.

7 Vgl. Selke 2015.

8 Vgl. Schmitt 2007a. 12 Bell & Gemmell 2009, S. 3. 13 Vgl. ebd., S. 22. 14 Vgl. ebd., S. 52.

9 Vgl. Korte 2017, S. 31.

10 Vgl. Goller 2009, S. 96f.

11 Vgl. Goller 2009, S. 95.

12 Bell & Gemmell 2009, S. 54. 19 Vgl. Goller 2009, S. 137.

13 Bell & Gemmell 2009, S. 56.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
"Das transparente Ich". Was bedeutet es, wenn keine Erinnerungen mehr verloren gehen würden?
Hochschule
Universität Potsdam  (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde)
Veranstaltung
Philosophische Kernkompetenzen
Note
1,3
Jahr
2019
Seiten
25
Katalognummer
V584643
ISBN (eBook)
9783346170774
ISBN (Buch)
9783346170781
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Philosophie, Erinnerungen, Vergessen, Gedächtnis, Black Mirror, Das transparente Ich, Google Glass, Ethik, künstliches Gedächtnis, MyLifeBits, Gordon Bell, Erinnerungsverfälschung, grains, science-fiction, Gedächtnisprothese, Zukunftsvision, technische Entwicklung
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, "Das transparente Ich". Was bedeutet es, wenn keine Erinnerungen mehr verloren gehen würden?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/584643

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