Der Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenvereine im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Resignation - Politik und Engagement in den Jahren der Bedrohung 1933-1945


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

47 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Flüchtlingspolitik des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes 1933-1945
2.1 Anfänge der Flüchtlingshilfe
2.2 Die Flüchtlingspolitik des SIG 1935-1945
2.3 Die praktische Flüchtlingsbetreuung

3. Stellung und institutionelle Vernetzung der Schweizer Jüdin am Anfang des 20. Jahrhunderts

4. Die Zeit der Bedrohung: Politischer Diskurs und Reflexion im Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenorganisationen( BSJF) 1933-1945
4.1 Statuare Ausrichtung und Selbstdefinition
4.2 Die Zwischenkriegszeit: Konsolidierung des Selbstbildes
4.3 Vereinspolitik in den Jahren der Bedrohung
4.3.1 Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft „Frau und Demokratie“
4.3.2 Loyalitätsbekundung und Heimatverbundenheit
4.3.4.1 Rückzug der nationalen Kampagne gegen Antisemitismus
4.3.4.2 Zurückhaltung bei Frauenspezifischen Diskriminierungen

5. Die Rolle des BSJF in der praktischen Flüchtlingsbetreuung 1934-1946
5.1 Aufbau der Kinderhilfe 1934-1938
5.2 Das Engagement des BSJF während den Kriegsjahren
5.3 Verstärkte Zusammenarbeit mit dem SHEK
5.3.1 Ferienkolonie in Klosters
5.3.2 Chanukka-Päckchen Aktion

6. Fazit

7. Glossar
7.1 Abkürzungen

8. Bibliographie
8.1 Ungedruckte Quellen:
8.2 Gedruckte Quellen:
8.3 Sekundärliteratur:

1. Einleitung

[] dass die jüdische Schweizerfrau wohl einerseits tatkräftig der jüdischen Sache zu dienen habe, andererseits aber ihrer ganzen Kräfte in den Dienst des Vaterlandes stellen müsse, sowie es jeder Wehrmann seit Kriegsbeginn in selbstverständlicher Weise tue“[1]

Stefan Mächlers Buch „Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung“ bietet einen umfassenden Überblick über die Rolle des SIG und seiner ihm angeschlossenen Hilfswerke in der Flüchtlingsbetreuung. Schon in seiner Einleitung gibt Mächler jedoch an, dass sich seine Ausführungen zu einem Grossteil auf Akten der leitenden Gremien konzentrieren. Das Denken und Handeln der einzelnen Gemeinden kann aufgrund der vorliegenden Aktenlage also nur bedingt wiedergegeben werden. Diese Tatsache gelte - so Mächler - ganz besonders für die jüdischen Frauen, die - abgesehen von Ausnahmen beim jüdischen Hilfswerk VSIA (beziehungsweise VSJF) - von allen entscheidenden Ausschüssen ausgeschlossen waren: „Diese Leerstelle ist umso gravierender, da doch die Frauen einen Hauptteil der immensen, aber in den meisten Quellen unsichtbaren ehrenamtlichen Arbeit leisteten“[2]

Dieser Umstand hat mich zum Verfassen der vorliegenden Arbeit bewogen, wobei ich feststellen musste, dass sich Stefan Mächlers Urteil zur Quellensituation bestätigt hat. Wenn der Einsatz jüdischer Frauen in der Flüchtlingsbetreuung Erwähnung findet, dann nur im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit innerhalb eines Hilfswerks oder einer Flüchtlingsorganisation. Ähnlich ergeht es den Frauen, welche im Alleingang Rettungsaktionen für Juden aus dem Ausland durchführten, wobei der Fall von Recha Sternbuch-Rottenberg[3] wohl die grosse Ausnahme bildet. Am wenigsten aber fanden meines Erachtens die unaufhörlichen Bemühungen der verschiedenen ehrenamtlichen jüdischen Frauenvereine Beachtung, auf deren Ressourcen sowohl der Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG)[4] bei der Koordination, der Verband Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSIA)[5] bei der Logistik und das Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) bei der praktischen und finanziellen Durchführung seiner Aktionen selbstverständlich zurückgreifen konnten. Vielleicht ist es gerade diese Selbstverständlichkeit, die eine spezielle Würdigung des Einsatzes jüdischer Frauen überflüssig erscheinen lässt. Vielleicht liegt dieses Manko aber auch in der Eigenschaft der Frauenvereine selbst, die sich in ihrem Wesen ganz der Tradition der Chewra Kadischa (Heilige Gemeinschaft) verschrieben haben, in der die Fürsorge und die unentgeltliche Anteilnahme an der Situation von Bedürftigen als eine der ersten Pflichten der Gemeindemitglieder gilt.

In der vorliegenden Arbeit werde ich mich dem Engagement des Bunds Schweizerischer Jüdischer Frauenvereine (BSJF) - Dachverband der regionalen jüdischen Frauenvereine in der Schweiz - in der Flüchtlingshilfe widmen. Ich möchte mich dabei nicht auf den praktischen karitativen Einsatz des BSJF beschränken, sondern setze meinen Fokus bewusst auf die politischen Reflexionen, die den einzelnen Aktionen zu Grunde lagen und schliesslich auch zum eigenen Selbstverständnis führten. Da den Schweizerfrauen die politische Partizipation bis zur Erlangung des Frauenstimmrechts im Jahre 1972 verwehrt wurde, bildete die soziale Wohlfahrtspflege lange ein zentrales Forum für die politische Arbeit von Frauen. Anfang des 20. Jahrhunderts profitierten vor allem konfessionelle Organisationen von den zunehmenden Möglichkeiten bürgerlicher Frauen, sich „akzeptabeln“ Vereinigungen anzuschliessen. Dies erklärt die Popularität und den Mitgliederzuwachs der konfessionellen Verbände und belegt eine Verschmelzung von fürsorgerischen, religiösen und politischen Motivationen. Die Betrachtung von Wohltätigkeits- und Frauenvereinen fungiert somit als wichtiges Arbeitsinstrument, um den politischen Diskurs und die dazugehörigen Reflexionen von Frauen erforschen zu können, welche sich nicht über eine Parteizugehörigkeit definieren.

Im Gegensatz zu dem, seit 1904 bestehenden und als Vorbild dienenden deutschen Jüdischen Frauenbund, standen bei der Gründung des BSJF keine politisch-emanzipatorische Motivationen, sondern einzig und allein das Credo der karitativen Tätigkeit im Vordergrund. Diese betont apolitische Haltung war nötig, um möglichst viele der äusserst heterogenen jüdischen Frauenvereine unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Als es mit der äusseren, von Deutschland ausgehende Bedrohung jedoch immer schwieriger wurde, sich nicht in die gängige Politik einzumischen, erfuhr dieses Prinzip mit dem Beitritt zur Arbeitsgruppe „Frau und Demokratie“ eine gewisse Lockerung. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun herauszufinden, wie sich die Vereinspolitik des BSJF hinsichtlich der akuten, äusseren Bedrohungssituation verhielt und das dazugehörige praktische Engagement in der Flüchtlingshilfe beeinflusste. Dabei soll aufgezeigt werden, wie sich die Kooperation mit dem SIG und dem ihm angeschlossenen Hilfswerk VSIA entwickelte und sich das Engagement des BSJF in der Flüchtlingsbetreuung ausgestaltete. Zusätzlich gehe ich auch auf die Zusammenarbeit mit dem SHEK ein, die vor allem im Zusammenhang mit der Organisation von Ferienkolonien für jüdische Kinder zum tragen kommt und in den bisherigen Arbeiten über das SHEK keine Erwähnung fand.[6] Es scheint mir von Bedeutung, den Fokus zur sozialen Stellung der jüdischen Frau auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auszuweiten, da ich mir daraus Antworten auf gewisse Verhaltenweisen erhoffe. Um diesem Anliegen möglichst gerecht zu werden, möchte ich mich vor allem auf die Originalquellen beziehen, um so dem Engagement und der dazugehörigen Selbstreflexion eine eigene Stimme zu verleihen.

2. Die Flüchtlingspolitik des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes 1933-1945

2.1 Anfänge der Flüchtlingshilfe

In der Zeit von 1933-1945 gilt der 1929 zum Aktuar und 1936 zum Präsidenten gewählte Saly Mayer – dieser erledigte mit unentgeltlichem Einsatz die institutionellen Alltagsgeschäfte - als überragende Figur im SIG. Mit dem Machtantritt Hitlers wurde man sich der institutionellen Schwäche des Bundes zunehmend bewusst und es wurde klar, dass in Bezug auf die Flüchtlinge, welche nun in der Schweiz Asyl suchten, grundsätzliche Entscheidungen in die Wege geleitet werden mussten. So wurde im April 1933 beschlossen, dem in Paris gegründeten Europäischen Hilfskomitee beizutreten, bei der Privatbank von SIG Präsident Dreyfus-Brodsky einen Kredit von 100'000 aufzunehmen, eine Sammelaktion zu lancieren und die organisatorische Gesamtverantwortung für die Flüchtlingshilfe an die Vertreter von Zürich zu delegieren.[7] Der Zeitpunkt schien gut gewählt zu sein. Kurz darauf forderte das Eidgenössische Justiz – und Polizeidepartement alle „politischen Flüchtlinge“ öffentlich dazu auf, sich bei den Behörden zu melden. Bei einer Aussprache zwischen SIG und dem Polizeichef Heinrich Rothmund wurde es jedoch klar, dass in der fremdenpolizeilichen Direktive Jüdinnen und Juden aus der Kategorie der „politischen Flüchtlinge“ herausgenommen und zusätzlich mit einer bundesrätlichen Absegnung untermauert wurde. Die Bezeichnung „Politischer Flüchtling“ bezog sich nach dieser Auslegung nur auf diejenigen Personen, welche sich in ihrem Heimatland als PolitikerIn linksstehender Parteien betätigt haben oder in ihrem Heimatland als solche diffamiert worden sind. Diejenigen Flüchtlinge aber, die hauptsächlich infolge des im April 1933 offiziell eingesetzten Boykotts gegen die Juden Deutschlands in die Schweiz gekommen sind, gehörten zur Kategorie „Flüchtling aus ökonomischen Gründen“ und erfüllten somit den Asylstatus nicht.[8] Obwohl sich diese Begriffklärung später als fatal erweisen sollte, waren sich SIG und die Schweizer Regierung in ihrer engen Flüchtlingsdefinition einig und es kam keine Kritik auf, da diese Kategorisierung in etwa der Unterscheidung entsprach, wie sie auf den verschiedenen Konferenzen der jüdischen Landesorganisationen und überdies auch von den Regierungen der anderen Nachbarländer Deutschlands gehandhabt wurde. Des Weiteren wurden auch gegen alle anderen behördlichen Prämissen – nur vorübergehendes Aufenthaltsrecht aufgrund der „Überfremdungsgefahr“, die Privatfinanzierung des Aufenthaltes und das Erwerbsverbot für Flüchtlinge – keinerlei Einwände erhoben. Im Gegenteil: Bei jeder Gelegenheit wurde den Flüchtlingen von den jüdischen Verantwortlichen eingeschärft, sich streng an die behördlichen Weisungen zu halten.[9] Ohne Widerstreben kam der SIG des Weiteren der Erwartung der Regierung nach, dass nicht der Staat, sondern das einheimische Judentum für die geflüchteten GlaubensgenossInnen aufzukommen habe. Dieses Entgegenkommen auf die staatlichen Forderungen legte letztlich auch der Grundstein für die Kooperation zwischen SIG und den Behörden, welche im Laufe der Jahre stärker intensiviert wurde.

In den Monaten nach dem Geschäftsboykott vom 1. April 1933 waren etwa 20'000 Menschen, hauptsächlich Juden, panikartig in die Schweiz aufgebrochen. Die meisten benutzten die Schweiz jedoch bloss als Transitland und reisten nach wenigen Wochen entweder in ihr Herkunftsland zurück oder in Drittländer weiter. Ende 1933 befanden sich nur noch rund 2500 Flüchtlinge in der Schweiz, davon 2100 jüdischer Herkunft.[10] Die Ausreise aus der Schweiz erfolgte meistens freiwillig, wurde jedoch durch die fehlende Asylmöglichkeit und das Erwerbsverbot, das sich in der damaligen europäischen Hochpreisinsel besonders gravierend auswirkte, zusätzlich gefördert.

Bei der ersten Fluchtwelle kümmerten sich jüdische Lokalkomitees spontan um die Ankommenden. In Basel und Zürich, wo der Zustrom am grössten war, wurden je ein provisorisches Heim errichtet; viele jüdische Familien nahmen Flüchtlinge bei sich zu Hause auf. Doch schon im März 1933 hatten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Vorbereitungen begonnen, um für die ganze Schweiz Massnahmen zu organisieren, falls eine Massenflucht aus Deutschland unabdingbar wurde. Im April 1933 kam es schliesslich zur Gründung des Centralcomité für Flüchtlingshilfe, welches dem SIG unterstand und dessen Vorsitz Saly Braunschweig, Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, übernahm. Die eigentliche Aufgabe des Centralcomité für Flüchtlingshilfe lag vor allem im Aufbau eines Kontrollsystems, womit alle unterstützungswürdigen Personen erfasst werden konnten und in der Zusammenarbeit mit dem Ausland.[11] Als erste Aktion rief das Comité gemeinsam mit dem SIG die jüdische Öffentlichkeit zu Spenden auf, da die neuen Aufgaben nicht mehr mit den herkömmlichen Mitgliedbeiträgen finanziert werden konnten.[12] Besondere Sorge bereitete dem SIG vor allem die desolaten Lebensbedingungen, welche die AuswandererInnen im Exil antrafen. Die Wirtschaftsnot, gepaart mit antisemitischen Impulsen, führte in allen Nachbarstaaten Deutschlands zu protektionistischen Massnahmen gegen die Einreisenden, die daher keine Möglichkeit fanden, sich eine ökonomische Existenz aufzubauen.

Ein weiteres Anliegen brachte Saly Braunschweig im Herbst 1933 auf einer Konferenz in London, bei der sich 44 jüdische Landesorganisationen und grosse Gemeinden aus der ganzen Welt versammelten. Die Juden seien nicht nur in Deutschland gefährdet, sondern in ganz Europa:

„Nicht nur aus menschlichen Gefühlen des Mitleids und der Bruderliebe, sondern aus Gründen unserer eigenen Existenzerhaltung müssen die Juden Europas mit aller Energie dem deutschen Juden – Problem zu Leibe rücken. Die Ausstossung der deutschen jüdischen Brüder aus ihrem jetzigen Lebensraum muss zu politischen Schwierigkeiten in anderen Ländern führen, wenn nicht durch planmässige constructive Methoden die Auswanderung geregelt wird.[13]

Die Angst, dass der deutsche Antisemitismus bei stärkerer jüdischer Präsenz auch in die Schweiz überschwappen könnte, wurde zu einer grundlegenden Prämisse in der Betrachtung des Flüchtlingsproblems des SIG. Einzige Lösung dieses Problem umfahren zu können, lag in der Devise einer „geplanten und kontrollierten Emigration“, welche sowohl vom SIG, wie auch den Schweizer Behörden propagiert wurde.[14] Das jüdische Hilfswerk war in den ersten Jahren seines Bestehens der Ansicht, dass nur die wenigsten Juden wegen politischer Verfolgung aus Deutschland ausreisen mussten; bei „wirtschaftlich gescheiterten Existenzen“ sei die Ausreise mangels Ansiedelungsmöglichkeiten zwecklos, ganz besonders in Richtung Schweiz.

Es ist festzuhalten, dass schon in den ersten Jahren nach der Machtübernahme durch die Nazis die Regeln in der Fürsorgepraxis und Flüchtlingsbetreuung verschärft wurden. Bereits im März 1934 kündigte das zuständige Centralcomité für Flüchtlingshilfe ostentativ die Schliessung seiner Büros an[15]. Dieser Massnahme lag die verbreitete Absicht der kontrollierten Emigration zugrunde, welche die Jüdinnen und Juden vor der Auswanderung in die Schweiz abzuhalten versuchte. Als Bedingung für die Arbeit des Hilfswerks galten restriktive fremdenpolizeiliche Bestimmungen, die bis zum Kriegsende die Flüchtlingspolitik der Schweiz bestimmten. Im Jahre 1936 wurde Saly Mayer zum SIG- Präsident gewählt. Damit vertiefte sich das Kooperationsverhältnis zwischen SIG und den Schweizer Behörden noch stärker.[16] Da sich der Staat bis 1940 weigerte, für die Betreuung der Flüchtlinge aufzukommen und somit am Prinzip des so genannten „prophylaktischen Antisemitismus“[17] festhielt, mussten die finanziellen Mittel vom SIG beschaffen werden. Die Leitung des SIG übernahm auch die Aufgabe, mit den Behörden zu verhandeln.[18]

2.2 Die Flüchtlingspolitik des SIG 1935-1945

Die praktische Flüchtlingsarbeit wurde 1935 dem Verband Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSIA) übertragen, der von Silvain S. Guggenheim präsidiert wurde. 1936 kam es zu einer weiteren Verschärfung der Richtlinie für aufzunehmende Flüchtlinge. Dies geschah jedoch nicht zufällig, befürchtete doch das Hilfswerk aufgrund des hohen Anstiegs der Flüchtlingszahlen durch die Einführung der Nürnberger Rassengesetze ein finanzielles Debakel.[19] Am Jahresende waren die Finanzen des VSIA dermassen erschöpft, dass mit der Schliessung des Büros gerechnet werden musste. Finanzielle Hilfe durch die öffentliche Hand anzufordern blieb jedoch ausser Frage; befürchtete man doch, dass mit der Aufmerksamkeit auf die anwesenden Flüchtlinge auch in der Schweiz Antisemitismus provoziert werden könnte. Stattdessen beschloss man, die Finanzen besser in den Griff zu kriegen. Dies bedeutete zum einen, dass die Unterstützungsansätze der Flüchtlinge nur noch in dringenden Notfällen ausgeschöpft wurden, zum anderen eine strengere Handhabung der bestehenden Richtlinien zwischen den „richtigen Flüchtlingen“ und den „Wirtschaftsflüchtlingen“. In den Jahren 1933-1937 betreute der VSIA rund 6500 Flüchtlinge. Die Weiterreise und Aufnahme in Drittländer konnte jedoch für 1500 erreicht werden, der Rest scheiterte an der restriktiven Haltung gegenüber jüdischen Flüchtlingen in Europa und den USA. Die Flüchtlingsbetreuung der VSIA belastete in diesen Jahren das Zwei- bis Dreifache des ordentlichen Budgets des SIG, dem auch der VSIA unterstellt war.[20]

Nach dem Anschluss Österreichs verschärfte sich die Flüchtlingssituation zusätzlich. Als die Nazis im Sommer 1938 mit Plünderungen und illegalen Ausschaffungen begannen, sahen die Schweizer Behörden vorerst von Rückschiebungen ab, da SIG und VSIA dagegen intervenierten und für den Unterhalt der angekommenen Flüchtlinge zu sorgen versprachen. Doch schon nach wenigen Tagen war die jüdische Flüchtlingshilfe durch den Ansturm derart überfordert, dass sie niemanden mehr aufnehmen konnten. Dank dem Engagement des American Jewish Joint Distribution Comittee (Joint), das sich Ende 1938 bereit erklärte, finanzielle Mittel für die Flüchtlingsbetreuung bereit zustellen, konnte der VSIA seine Arbeit dennoch fortsetzen. Am 17./18. August 1938 wurden schliesslich die Grenzen zum Deutschen Reich für jüdische Flüchtlinge geschlossen. Gegen diesen Entscheid opponierten weder SIG noch VSIA, im In-und Ausland wurde die jüdische Öffentlichkeit um Verständnis für die getroffenen Massnahmen angerufen.[21] Auch als die Schweizer Behörden im Oktober 1938 die Visumspflicht für „NichtarierInnen“ einführten, nationalsozialistische Unterscheidungskategorien übernahmen und den so genannten Judenstempel lancierten, gab es keine offiziellen Protestbekundungen durch den SIG; Gegenstimmen blieben auf die Aktion einzelner beschränkt. Im Sitzungsprotokoll des Geschäftsauschusses über diesen Regierungsbeschluss ist lediglich folgende Aussage zu finden:

Die Formulierung des Beschlusses hat aber begreiflicherweise im In- und Ausland grosse Erregung und Enttäuschung darüber geweckt, dass ausgerechnet die Schweiz auf Grund der Nürnberger Gesetze operiert. Es bleibt auch unsererseits unbestritten, dass aus finanziellen Gründen, wie auch wegen der Proportion der jüdischen Bevölkerung zur Landesbevölkerung angesichts der anwesenden Tausenden die Verhinderung der Einreise weiterer Juden verständlich erscheint.“[22]

Das Verhältnis zwischen Saly Mayer und dem Chef der Fremdenpolizei Heinrich Rothmund soll schliesslich so eng gewesen sein, dass Joseph Schwarz, Chefbeauftragter des Joint in Europa folgendes darüber zu berichten wusste:

„Switzerland is among the very few countries in Europe which has not adopted anti-Jewish laws, and in order to maintain that record, it would be far better if the refugee population were diminished.”[23]

Die Verantwortlichen des SIG waren durch jüdische Emissäre stets hervorragend über die NS-Verfolgung informiert. Unmittelbar nach der Grenzschliessung vom 13. August 1942 wurde erschüttert realisiert, dass die Deportationen den Tod bedeuteten. Auch wenn dieses Geschehen die Vorstellungskraft der meisten ZeitgenossInnen überforderte, war es doch unverkennbar, dass sich alle Schutz suchenden Flüchtlinge in einer tödlichen Gefahr befanden – was die Schweiz nicht davon abhielt, genau in dieser Zeitspanne ihre Rückweisungspolitik zu verschärfen und die Grenzen hermetisch abzuschliessen. Das einzige Entgegenkommen auf die prekäre Situation war die erlaubte Einreise der nächsten Verwandten, unter der Bedingung, dass die Kantone dem Aufenthalt ebenfalls zustimmten und die Hilfswerke bei Mittelosen für den Unterhalt aufzukommen versprachen.[24]

Dieser restriktive Zustand hatte Auswirkungen auf das enge Kooperationsverhältnis zwischen den Schweizer Behörden und dem SIG. Aufgrund von internen Konflikten, welche den Rücktritt des SIG-Präsidenten Saly Mayer zur Folge hatten, kam es 1943 im Rahmen einer Restrukturierung von VSIA und SIG zur Umbenennung des VSIA in Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorge/Flüchtlingshilfe (VSJF), was jedoch keine direkten Auswirkungen auf die Flüchtlingsarbeit hatte.[25]

Im März 1943 unternahm der VSJF bei der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe den konkreten Vorstoss, um von der Regierung die Einstellung der Rückweisung und die Einbeziehung der Flüchtlinge zu fordern. Diese Initiative scheiterte an der regierungsfreundlichen Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtingshilfe und erst recht bei den Bundesbehörden, die bis zum 12. Juli 1944 an ihrer Verordnung festhielten.[26] Das jüdische Hilfswerk beschränkte sich in dieser Zwischenzeit auf Aktionen in Einzelfällen, bei denen Abweichungen vom generellen Abweisungsprinzip möglich waren. Eine grosse Bedeutung erlangte dabei die Liste der Non-Refoulables, die auf Initiative der ProstestantInnen mit den Behörden ausgehandelt worden waren. In den gut zwei Jahren vom Frühjahr 1943 bis zum Kriegsende in Europa wurden die finanziellen und psychischen Kräfte des VSJF weiterhin gefordert. Von Januar bis August 1943 flohen 6000 Jüdinnen und Juden aus Frankreich in die Schweiz. Die Besetzung Italiens durch deutsche Truppen nach dem Sturz Mussolinis und dem Wechsel des Landes zu den Alliierten führte zu einer Fluchtwelle, mit der rund 2500 Jüdinnen und Juden allein zwischen dem 20. und 23. September über die Grenze kamen. Bis zur Befreiung Frankreichs im Sommer 1944 flohen weiterhin Juden in die Schweiz.[27]

[...]


[1] Littmann- Guggenheim, Rita, Präsidentin des BSJF von 1938-1947, Israelitisches Wochenblatt vom 4. Februar 1944.

[2] Mächler, Stefan, Hilfe und Ohmacht, S.23.

[3] Vgl. dazu Friedenson, Joseph/ Kranzler, David, Heroine of Rescue: Recha Sternbuch-Rottenberg gründete unter anderem das Schweizer Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge im Ausland (HIJEFS). Es gelang ihr Altbundesrat Musy zu überzeugen, Verhandlungen mit Himmler aufzunehmen, was schliesslich zur Rettung von 1200 jüdischen Menschen aus Theresienstadt führte.

[4] Dachverband der jüdischen Gemeinden in der Schweiz, dem auch der BSJF untersteht.

[5] Vorgänger des 1943 gegründeten Vereins Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfe (VSJF).

[6] Vgl. Sutro, Nettie, Jugend auf der Flucht 1933-1945 und Zeder, Eveline, Ein Zuhause für jüdische Flüchtlingskinder.

[7] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.45

[8] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.62

[9] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.63

[10] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.56

[11] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.58

[12] ebd.

[13] S. Braunschweig, Das deutsche Flüchtlings-Problem, Exposé vom 11. Sept. 1933, zitiert in Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.62

[14] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.64

[15] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.108

[16] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.129

[17] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.134

[18] Vgl. Gerson, Daniel/ Hoerschelmann Claudia, Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/ Flüchtlingshilfen (VSJF), S.58

[19] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S. 136

[20] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.438

[21] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.165

[22] Vgl. Prot. SIG-GA, 27.10.1938 zitiert in Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.185

[23] Friedenson Joseph / Kranzler David, Heroine of Rescue, S.33

[24] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.265

[25] Vgl. Gerson Daniel/ Hoerschelmann Claudia, Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/ Flüchtlingshilfen, S.61

[26] Vgl. Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, S.442

[27] Vgl. Gerson Daniel/ Hoerschelmann Claudia, Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/ Flüchtlingshilfen, S.61f.

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Der Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenvereine im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Resignation - Politik und Engagement in den Jahren der Bedrohung 1933-1945
Hochschule
Université de Fribourg - Universität Freiburg (Schweiz)  (Departement für Zeitgeschichte)
Note
1
Autor
Jahr
2006
Seiten
47
Katalognummer
V58277
ISBN (eBook)
9783638525190
ISBN (Buch)
9783638952880
Dateigröße
614 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bund, Schweizerischer, Jüdischer, Frauenvereine, Spannungsfeld, Solidarität, Resignation, Politik, Engagement, Jahren, Bedrohung
Arbeit zitieren
Master Angela Mattli (Autor:in), 2006, Der Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenvereine im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Resignation - Politik und Engagement in den Jahren der Bedrohung 1933-1945, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/58277

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