Effet de réel? Kontingente Details und ausladende Beschreibungen bei Flaubert


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

22 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der effet de réel
2.1. bei Platon
2.2. bei Barthes
2.3. in der Forschung allgemein

3. Flauberts Beschreibungen
3.1. Kontingente Details
3.2. Ausladende Beschreibungen

4. Schlussfolgerungen

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Hausarbeit hat sich zum Ziel gesetzt, zwei Stilelemente Flauberts anhand einer Lektüre ausgewählter Stellen aus „Madame Bovary[1] “ aufs Genaueste zu betrachten. Das erste der beiden wird von Martin Swales bezeichnet als „virtuose und ausladende Beschreibungskunst“[2]. Ein Beispiel dafür findet sich im ersten Kapitel: Die Beschreibung der Mütze von Charles Bovary.

Sie war eine jener Kopfbedeckungen im Kompositstil, in denen man Elemente der Bärenmütze, des Tschapka, des runden Filzhuts, der Otterkappe und der Baumwollmütze wieder entdeckte, kurz eines jener armseligen Dinge, deren stumme Hässlichkeit ähnliche Tiefen des Ausdrucks haben wie das Gesicht eines Schwachsinnigen. Eiförmig und mit Fischbeinstäbchen ausgebaucht, bestand sie zuunterst aus drei kreisförmigen Wülsten; dann folgten, durch einen roten Streifen getrennt, im Wechsel Rauten aus Samt und aus Kaninchenhaar, dann kam eine Art Sack, der in einem mit komplizierten Litzenbesatz bedeckten vieleckigen Pappkarton endete und von dem als Troddel an einer langen, zu dünnen Kordel ein kleines Andreaskreuz aus Goldfäden herabhing. Die Mütze war neu; das Schild glänzte (S.10).

Das zweite Stilelement Flauberts, das hier zur Untersuchung stehen soll, will ich hier als „kontingente Details“ bezeichnen. Sie sind nebensächliche Beschreibungen, die nicht direkt zum Fortlauf der Haupthandlung beitragen. Roland Barthes beschränkt deren Funktion auf einen „effet de réel“ und unterstellt ihnen, dass sie auf nichts als auf die „Kategorie des Realen[3] verweisen. Beispiele für kontingente Details zu finden ist problematisch. Worin diese Problematik besteht, wird ein Thema dieser Arbeit sein, speziell unter Punkt 3.2. Bedienen wir uns also eines Beispiels, das Barthes selbst gibt: Das Barometer in einem Ausschnitt aus „Un coeur simple“.

Auf einem alten Klavier stapelte sich, unter einem Barometer, ein pyramidenförmiger Haufen von Kästen und Kartons.[4]

Im Folgenden soll betrachtet werden, inwieweit sich Flauberts Detailbeschreibungen in Barthes Konzept des „effet de réel“ einordnen lassen, ob man überhaupt genaue Grenzen zwischen den beiden Stilfiguren ziehen kann und welche Wirkung sie auf den Text haben.

Unter Punkt 2 wird zu diesem Zwecke erst einmal Barthes „effet de réel“ unter die Lupe genommen, um ein stimmiges Begriffsinstrumentarium für Punkt 3 zu gewinnen, der die ausladenden Beschreibungen und kontingenten Details bei Flaubert untersucht.

2. Der effet de réel

2.1. bei Platon

Der „effet de réel“ ist dort zu finden, wo in einem Text Informationen gegeben werden, die nicht für den Handlungsverlauf relevant sind, deren einziger Zweck die Vortäuschung von Wirklichkeit ist. Die Prägung des Terminus und dessen Integration in die poststrukturalistische Literaturdiskussion ist Roland Barthes zuzuschreiben, die erste Beobachtung und schriftliche Fixierung dieses Effektes geschah allerdings viel früher.

Platons Forderung „Man muss so tun, als sei es nicht der Dichter, der redet“[5] zielt darauf ab, dass ein relatives Informations-Maximum und ein Minimum an Redeausschmückung erreicht werden. Der Dichter soll nicht seine eigene Person in den Diskurs mit einbringen, indem er überflüssige, rein rhetorische Ausschmückungen vornimmt. Platon argumentiert also gegen den „effet de réel“, was praktisch veranschaulicht wird in seiner Übersetzung von einem Teil der „Ilias“ Homers.

Aus dem Fragment:

So sprach er. Da fürchtete sich der Greis und gehorchte dem Wort und schritt hin, schweigend, das Ufer entlang des vieltosenden Meeres. Und betete dann viel, als er abseits war, der Alte, zu Apollon, dem Herrn, den geboren hatte die schönhaarige Leto.[6]

wird bei Platon

Der Alte, als er dies vernommen, fürchtete sich und ging schweigend fort. Als er aber das Lager hinter sich hatte, betete er vieles zum Apollon.[7]

Es wird deutlich, dass bei Platon eine Informationsverdichtung[8] statt findet. Der Text schrumpft von 45 Wörtern auf 25, was hauptsächlich durch das Kürzen redundanter Informationen und das Verzichten auf „pittoreskes Beiwerk“[9] zustande kommt. „Pittoreskes Beiwerk“ meint hier ausschmückende Adjektive wir „schönhaarig“ oder atmosphärische Landschaftsbeschreibungen wie die Erwähnung des „Ufer des vieltosenden Meeres“, die nicht für den Fortgang der Handlung von Bedeutung sind, sondern eher einen ästhetischen Effekt haben.

2.2. bei Barthes

Barthes widmet dem „effet de réel“ einen kurzen Essay[10], der mit zwei Beispielen beginnt, nämlich dem bereits in der Einleitung erwähnten Barometer, unter dem sich Kästen und Kartons stapeln und einer Szene bei Michelet, in der vom Sterben Charlotte Cordays erzählt wird: „nachdem anderthalb Stunden verstrichen waren, klopfte es leise an eine kleine hinter ihr befindliche Tür“[11]. Nach Barthes besitzen beide Beschreibungen Details, die Erzählanalysen oft nicht berücksichtigen, weil sie als „überflüssige Details“[12] abgetan oder als „katalytische Füllsel“ behandelt werden, das heißt, dass ihnen als einzige Funktion ein indirekter Hinweis auf die Atmosphäre oder den Charakter der Figuren zugerechnet wird. In dem Beispiel aus „Un coeur simple“ könnte zum Beispiel das Vorhandensein eines Klaviers als „Hinweis auf die bürgerliche Stellung seiner Besitzerin“ gelesen werden und die darauf liegenden Kartons als ein „Zeichen von Unordnung“. Dem Vorhandensein des Barometers kann Barthes aber keinen direkten Hinweis auf Atmosphäre oder dergleichen zurechnen; es bleibt als konkrete Realie bestehen, ohne sich von der Erzählung eine offensichtliche Funktion zuweisen zu lassen. Gleiches gilt auch für den Auszug aus Michelet, denn „die Zeit des Posierens sowie Ort und Größe der Tür sind unerheblich“ (S.1).

Barthes zufolge ist praktisch jede Erzählung voll von solchen Details, denen nur schwer ein bestimmter Sinn zugesprochen werden kann, die also der semiotischen Struktur der Geschichte entzogen sind. Dies führt ihn zu der Frage, was denn nun letztendlich „die Signifikation dieser Insignifikanz“ (S.2.) ist. Einen Ansatzpunkt findet er in der Rhetorik. Jene sieht für die überflüssigen Beschreibungen einen Zweck, nämlich den „des Schönen“ (S.2). Ihnen kommt ein ästhetische Funktion zu - sie sollen die Geschichte ausschmücken eben als das, von Genette im vorigen Unterpunkt so bezeichnete, „pittoreske Beiwerk“.

Ebendiese ästhetische Funktion der Beschreibung findet Barthes auch bei Flaubert und führt dies an dem Beispiel der Schilderung Rouens aus, worauf ich unter Punkt 3.2. zurückkommen werde. Die funktionslosen Beschreibungen sind demnach „keineswegs ungehörig unpassend, sondern finden sich gerechtfertigt - wo nicht durch die Logik des Werks, so durch die Gesetze der Literatur: sie hat ihren Sinn; und dieser besteht in ihrer Angemessenheit nicht an das (reale) Modell, sondern an die kulturellen Regeln der Darstellung.“ (S.3). Man könnte nun diese „kulturelle Regeln der Darstellung“ synonym setzen mit dem foucaultschen Terminus „Dispositiv“[13], noch genauer: literarisches Darstellungsdispositiv. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es „die Voraussetzungen für kulturelle Formierungen schafft“[14], dass es also in unserem Fall die Regeln und Richtlinien für die literarische Darstellungsweise vorgibt. Durch literarische Werke, Literaturkritik, Regelpoetiken, ästhetische Schriften, Gesetze (z.B. Zensur), den Absatzmarkt, den öffentlichen Diskurs und unzählige weitere Faktoren entsteht ein Ensemble von (sich mitunter widersprechenden) Regeln, die der Literaturproduzent befolgen oder sich ihnen widersetzen kann. Die Beschreibung ohne direkte Funktion für die Handlung der Geschichte ist nun eine dieser kulturellen Regeln, bzw. Möglichkeiten der Darstellung, die Flaubert für sich anwendet.

Nun hat auch das Dispositiv des Realismus, dem Flaubert zu einem gewissen Grade angehört, eine Forderung an den Text: Er soll realistisch sein. Diese Forderung spiegelt sich in Flauberts ausladenden Beschreibungen wieder, nähern sie sich doch der zu dieser Zeit von einigen Schriftstellern geforderten naturwissenschaftlichen Darstellungsweise[15] an, dadurch dass sie so exakt und umgreifend sind. Nach Barthes rechtfertigt im Realismus bereits allein die „Exaktheit des Referenten“ dessen Darstellung.

Barthes baut eine Dichotomie auf: Das „Gelebte (Lebendige)“ (S.4) gegen das „Intelligible“. Das „Gelebte“ meint hierbei das konkrete Reale, dass sich vor jeder Sinnzuweisung versperrt und somit nur für sich und nicht als Metapher für irgend etwas anderes steht, das folglich jeder allegorischen Dimension entbehrt. Als Beispiele hierfür nennt Barthes „unscheinbare Gesten, vorübergehende Haltungen, unbedeutende Gegenstände, wiederkehrende Worte“ (S.4). Das „Intelligible“ hingegen steht für den höheren Sinn des Textes oder für die von Aristoteles postulierte Einheit des Sinns, für eben das, was das Konkrete übersteigt. Barthes diagnostiziert bei Klassischen Texten eine Neigung „alle Einzelheiten zu funktionalisieren, starke Strukturen zu produzieren und anscheinend keine Aufzeichnung bei der bloßen Deckung durchs Reale zu belassen“. Der Realismus hingegen fordert gerade diese kontingenten Details mit einer 1:1 Relation von gemeintem Gegenstand und dessen Beschreibung, allerdings nicht durchgehend für den gesamten Text, nein, nur in „erratischen Stücken“ (S.5) und einzig auf die Detailbeschreibungen beschränkt. Die Handlung eines realistischen Romans ist nicht dieser Wirklichkeitsabbildung unterworfen und hat damit Zugang zur Kategorie des „Intelligiblen“.

[...]


[1] Flaubert: Madame Bovary. Version siehe Literaturverzeichnis.

[2] Swales: Epochenbuch Realismus. S.21.

[3] Barthes: Effet de réel. S.5.

[4] Barthes: Der Real(itäts)effekt. S.1.

[5] Platon: Politeia. III, 394 a. Gefunden bei Genette: Die Erzählung. S.117-119.

[6] Homer: Ilias. I, V. 34-36.

[7] Platon: Politeia. III, 394 a.

[8] Oder zumindest eine Verdichtung der Informationen, die für den Verlauf der Handlung direkt relevant sind.

[9] Genette: Die Erzählung. S.117.

[10] Barthes: Effet de réel.

[11] Michelet: Histoire de France. S.292.

[12] Barthes. Effet de réel. S.1.

[13] Erstmals verwendet in Foucault: La volonté de savoir. 1976.

[14] Metzler Lexikon: Literatur und Kulturtheorie. S.117.

[15] Zum realistischen Darstellungsdispositiv siehe auch unter Punkt 3.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Effet de réel? Kontingente Details und ausladende Beschreibungen bei Flaubert
Hochschule
Universität Siegen
Veranstaltung
Realismus: Theorie und Geschichte
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
22
Katalognummer
V57969
ISBN (eBook)
9783638522748
ISBN (Buch)
9783638727037
Dateigröße
633 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser narratologischen Hauptseminararbeit werden zwei Stilelemente Gustave Flauberts untersucht: Kontingente Details und ausladende Beschreibungen. Diese werden wiederum mit dem "effet de réel" von Roland Barthes in Beziehung gesetzt.
Schlagworte
Effet, Kontingente, Details, Beschreibungen, Flaubert, Realismus, Theorie, Geschichte
Arbeit zitieren
Jonas Ivo Meyer (Autor:in), 2005, Effet de réel? Kontingente Details und ausladende Beschreibungen bei Flaubert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57969

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