Lebensglück und Lebensverfehlung in Christoph Heins Novelle "Der fremde Freund (Drachenblut)"


Seminararbeit, 2002

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Zielsetzung der Arbeit

2 Lebensweise der Protagonistin
2.1 Verdrängung und Ausbruch von Gefühlen
2.1.1 Kinderwunsch und Fotografie
2.1.2 Vergewaltigung
2.2 Beziehungen der Protagonistin zu Mitmenschen
2.2.1 Henry
2.2.2 Katharina

3 Ursachen in der Gesellschaft
3.1 Lebensgefühl
3.2 Kindheit

4 Lesart: Identifikation oder Distanz

5 Abschließende Folgerungen

Literaturverzeichnis

1 Zielsetzung der Arbeit

In Christoph Heins Novelle Der fremde Freund berichtet die Ich–Erzählerin Claudia, eine in Berlin lebende geschiedene Ärztin, nach dem Tod ihres Geliebten Henry über ihr einjähriges Verhältnis zu ihm. Dabei werden immer wieder einzelne Episoden der Beziehung, sowie länger zurückliegende Erinnerungen, insbesondere aus der Kindheit der Erzählerin, beschrieben. Dies geschieht auf eine sehr distanzierte und nüchterne Art, was den Leser zunächst befremdet.

Ziel dieser Arbeit ist es, durch die Untersuchung einiger kennzeichnender Elemente der Novelle herauszuarbeiten, inwiefern es sich bei der Daseinsform der Protagonistin um Lebensglück oder um Lebensverfehlung handelt.

Dazu sollen in Abschnitt 2 zunächst charakteristische, sowie eher untypische, aber umso bezeichnendere Verhaltensweisen der Protagonistin aufgezeigt werden. Weiterhin sollen ihre beiden kennzeichnendsten Beziehungen zu anderen Menschen zur Betrachtung hinzugezogen werden.

Daran anschließend sollen in Abschnitt 3 Gründe für die Lebensweise der Protagonistin erläutert werden, indem zunächst das allgemeine Lebensgefühl beschrieben und eine gesellschaftliche Einordnung geleistet werden soll. Darauf aufbauend sollen spezifische Ursachen in der Kindheit der Protagonistin dargelegt werden.

Abschnitt 4 schließlich soll über den inhaltlichen Aspekt hinaus aufzeigen, welche möglichen Lesarten die Novelle bietet.

Zuletzt soll zu einer abschließenden Beurteilung der Lebensweise Claudias gefunden werden.

2 Lebensweise der Protagonistin

2.1 Verdrängung und Ausbruch von Gefühlen

2.1.1 Kinderwunsch und Fotografie

Die Lebensweise der Protagonistin Claudia ist geprägt von Rationalisierung. Sie beobachtet ihr eigenes und das Leben anderer auf eine distanzierte und oft emotionslose Art. Dabei regen sich in Claudia durchaus Gefühle, sie lässt sie jedoch nicht zu, sondern verdrängt sie. Oft stellt Claudia eine bestimmte Gefühlsregung bei sich fest, sie geht dieser jedoch nicht nach, sondern verbannt sie sofort mit einem lapidaren „[es] interessiert[] mich nicht“ (Der fremde Freund, S. 39[1] ) aus ihrem Kopf. Sie will um keinen Preis über die Ursachen für ihr Verhalten und ihre Gefühle nachdenken und verdrängt beginnende Überlegungen augenblicklich.

Claudias wichtigster Abwehrmechanismus schlägt sich in der Fotografie nieder. Sie selbst erkennt, dass das Fotografieren für sie kein einfaches Hobby, sondern Therapie ist (S. 210: „Es ersetzt mir viel, es hilft mir über meine Probleme hinweg“). Das führt jedoch nicht dazu, dass sie den Problemen auf den Grund geht und versucht sie zu lösen. Sie „interessieren [sie] nur bedingt und selten“, denn ihrer Meinung nach „sind wirkliche Probleme ohnehin nicht“ zu lösen (S.115).

In erster Linie handelt es sich bei der Fotografie um einen Ersatz für Claudias verdrängten Kinderwunsch, was besonders an der Stelle deutlich wird, an der Claudia das Entwickeln von Filmen mit ihren abgebrochenen Schwangerschaften in Verbindung bringt.[2] Die Formulierungen „Schöpfung“, „Erzeugung“ und „entstehende[s] Leben“ zeigen wie eng die Verknüpfung zwischen den beiden Ereignissen ist. Was das Entwickeln von Filmen für Claudia anziehend macht, ist die Tatsache, dass sie dabei die Kontrolle hat. Im Gegensatz dazu hatte sie bei ihren Schwangerschaften das Gefühl benutzt worden und selbst nicht „beteiligt“ zu sein. Claudia behauptet, die Kinder nicht gewollt zu haben und leugnet jegliche Verbindung zu ihnen (S. 104: „Mit den Kindern hatte ich nichts zu tun“). Sie sieht sich selbst dabei als „Objekt“, die Schwangerschaft als einen „Eingriff in [ihre] Freiheit“ (S. 105) und die Abtreibung als eine Wahrung derselbigen[3] an. Auch dabei greift wieder ihr Prinzip der Verdrängung, denn Schuldgefühle und Verlustangst werden abgestritten. Die Verzweiflung nach den Unterbrechungen führt Claudia auf eine körperliche Ursache zurück. Die Tatsache aber, dass Claudia beim Entwickeln der Fotos sofort von ihren Erinnerungen an die Abtreibungen übermannt wird, dass sie die schmerzliche Erfahrung so detailliert schildert, enthüllt für den Leser ihre wahre Gemütsverfassung. Die Abtreibung wird als ein gewaltsamer Eingriff beschrieben (S. 107: „gewaltsam gespreizte[] Beine […] festgehalten, angeschnallt“) und doch redet Claudia sich ein, dass sie ausschließlich ihren freien Willen ausübt.[4]

Später in der Novelle gesteht Claudia sich selbst ein, dass sie sich in Wahrheit ein Kind wünscht: „Jetzt überfällt mich gelegentlich der Wunsch, ein elternloses Mädchen anzunehmen […] und [ich] bin überzeugt, ich würde sehr glücklich sein“. Doch sie glaubt auch, den Hintergrund für diesen Wunsch zu kennen, der in ihren Augen Egoismus ist:

Wenn ich weniger sentimental gestimmt bin, weiß ich, daß es mir dabei nur um mich selbst geht. Ich brauche das Kind zu meinem Glück. Ich benötige es für meine Hoffnungen, für meinen fehlenden Lebensinhalt. Mein Wunsch erscheint mir dann weniger freundlich. (S. 207-208)

Claudia scheint zu vergessen, dass Wünsche meistens darauf ausgerichtet sind, Glück zu erlangen, und dass die meisten Menschen Kinder nicht nur um der Kinder, sondern auch um ihrer selbst willen bekommen. Claudia weiß, wie sie glücklich werden könnte, doch wieder hat sie einen vermeintlichen Grund, der gegen das Erreichen dieses Glücks spricht. Der wahre Grund allerdings ist, dass sie gar nicht weiß, wie sie mit Glück umgehen sollte. Sie hat sich darauf eingerichtet, ihr Leben wie es ist als zufrieden stellend anzusehen. Ein emotionaler Zustand, der das übertreffen würde, also Lebensglück, würde ihr gesamtes bisheriges Leben in Frage stellen.

So gestattet sie sich ihr Lebensglück, von dem sie weiß, wie sie es erlangen könnte, nicht.

2.1.2 Vergewaltigung

Es gibt nur gelegentliche Gefühlsausbrüche, die dem Leser zeigen, dass Claudia nicht emotionslos ist. Ihre Rationalisierung kann nicht alles abdecken, auch sie hat unter ihrer „Drachenhaut“ verwundbare Stellen. Diese Zwischenfälle, in denen Claudia ihre Gefühle für kurze Zeit nicht unter Kontrolle hat, liefern dem Leser den Beweis für das, was er ohnehin schon vermutete: die Protagonistin belügt sich selbst, sie spielt sich und anderen etwas vor.

Den heftigsten Gefühlsausbruch stellt ihre Reaktion kurz vor der Vergewaltigung durch Henry dar. Er teilt ihr beiläufig mit, dass er verheiratet sei, was Claudia vollkommen durcheinander bringt. An dieser Stelle wird deutlich, dass Claudia nur verstandesmäßig, nicht jedoch gefühlsmäßig hinter der gemeinsamen Vereinbarung, die ihr Verhältnis bestimmt, steht. Da sie vorgibt, mit Henry eine Beziehung ohne „Verpflichtungen“ zu führen, dürfte es sie eigentlich nicht berühren, dass er verheiratet ist. Sie ist jedoch vollkommen fassungslos und fühlt sich hintergangen (S. 67: „Ich fühlte mich maßlos gekränkt“). Sie fragt sich selbst mehrmals nach dem Grund dafür, dass Henry ihr bisher verschwiegen hat, dass er verheiratet ist (S.67: „Warum hatte er es mir nicht gesagt, warum nur“). Das heißt, an dieser Stelle ist Claudia das einzige Mal in der ganzen Erzählung wirklich an einer Ursache interessiert. An keiner anderen Stelle fragt sie nach den Gründen für eine bestimmte Verhaltensweise.

In dieser Szene durchbricht die Erzählerin einmalig ihren Protokoll-Ton und bislang unterdrückte Emotionen brechen aus ihr heraus.[5] Ihre erste Reaktion heißt davonlaufen. Davonlaufen vor Henry, der ihr sie mit seiner Erklärung so sehr verletzt hat, und davonlaufen vor den eigenen Gefühlen. Gefühle, die sie so gut im Griff hatte, die sie so lange verdrängt hat. In diesem Augenblick des unkontrollierten Gefühlsausbruchs spürt Claudia, dass sie eben nicht „gegen [s]ich gewappnet“ ist, obwohl sie es sich weiterhin einredet. Diese Beteuerung steht in absolutem Gegensatz zu ihren Reaktionen, zu jedem anderen Satz ihres inneren Monologs.[6] Somit fühlt sie sich nicht nur von Henry, sondern auch von sich selbst betrogen.

Die hervorbrechenden Emotionen äußern sich weiterhin in hysterischem Lachen, das die wahren Gefühle überspielen soll. Die darauf folgende Vergewaltigung durch Henry zeigt Claudias Haltung gegenüber Männern. Obwohl sie glaubt, eine emanzipierte Frau zu sein, unterwirft sie sich in dieser Szene eindeutig dem Mann, akzeptiert sein Herrschen und genießt es sogar: „Dann löste sich meine Wut, meine Verzweiflung. Löste oder vermischte sich unentwirrbar mit einer jäh aufbrechenden Lust“ (S. 70). Anschließend verhält Claudia sich wieder gewohnt rational und denkt zunächst einmal nicht weiter über das Geschehene nach. Erst ihre nächtlichen Gedanken, die sich wie Hilferufe lesen lassen, zeigen, wie sehr sie unter der Vergewaltigung leidet: „Nein, Mama, ich will es nicht. Ich will kein großes Mädchen werden“ (S. 71). Doch Claudia denkt nicht weiter darüber nach, verdrängt, wie gewohnt, das Geschehene und verliert nie wieder ein Wort über die Vergewaltigung. Fast könnte man glauben, dass sie völlig vergisst, ist es ihr doch nicht möglich, eine Verbindung zu einer Kollegin, die von ihrem Mann vergewaltigt wird, festzustellen: „was habe ich mit ihren Vergewaltigungen zu schaffen“ (S. 15). Doch in ihrem Unterbewusstsein ist das schreckliche Ereignis verankert und da sie es nicht in ihr Bewusstsein vordringen lässt, wird es in Träumen wie dem zu Beginn der Novelle verarbeitet. Dieser Traum weist deutliche Parallelen zur Vergewaltigungs-Szene auf.[7] Die Waldlandschaft, die Verben „keuchen“ und „klammern“, bohrende Finger, all das, was bereits in der Traum-Sequenz geschildert wurde, wiederholt sich in der Vergewaltigungs-Szene. Was von dem Traum bleibt sind der „Schrecken [und] die ausgestandene Hilflosigkeit […] unfaßbar, unauslöschlich“ (S.7). Dies sind die Gefühle, die Claudia während der Vergewaltigung schmerzten, und die ihr Unterbewusstsein nicht mehr loslassen.

[...]


[1] Im Folgenden werden Zitate aus dem Primärtext nur mit Seitenangabe ohne Nennung des Titels versehen.

[2] Vgl. Bonner: Mantel, S.73.

[3] Vgl. Dwars: Hoffnung, S. 10 und Robinson: Abortion, S. 65.

[4] Vgl. Robinson: Abortion, S.76.

[5] Vgl. Dwars: Hoffnung, S. 9.

[6] Vgl. Hell: Antinomies, S.316-317.

[7] Vgl. u. a. Bonner: Mantel, S.78 und Böttcher: Diagnose, S. 147.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Lebensglück und Lebensverfehlung in Christoph Heins Novelle "Der fremde Freund (Drachenblut)"
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Proseminar: Prosa der Gegenwart
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
20
Katalognummer
V57866
ISBN (eBook)
9783638521918
ISBN (Buch)
9783640203826
Dateigröße
512 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ist durchgehend korrekt zitiert, inkl. Angabe der Seitenzahlen
Schlagworte
Lebensglück, Lebensverfehlung, Christoph, Heins, Novelle, Freund, Proseminar, Prosa, Gegenwart
Arbeit zitieren
Stephanie Schmitz (Autor:in), 2002, Lebensglück und Lebensverfehlung in Christoph Heins Novelle "Der fremde Freund (Drachenblut)", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57866

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