Herzog Ernst B zwischen Fiktionalität und Faktizität


Hausarbeit, 2006

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Die Verleugnung der Fiktionalität

3. Die Materialität des Erzählten

4. Jenseits der Fiktionalität

5. Bibliografie

1. Einleitung

Die Fiktionalität der Literatur ist keine selbstverständliche Tatsache, wie der heutige Leser zu glauben geneigt ist. Vom Altertum bis zum frühen Mittelalter blieben viele Erzählungen an eine wie auch immer geartete Wirklichkeit, an eine für den Rezipienten nachvollziehbare, jedoch teilweise scheinbare Faktizität gebunden. Das bedeutet nicht, dass die Literaturgeschichte in die Kategorien faktisch und fiktional eingeteilt werden kann. Im Hochmittelalter allerdings tritt eine Tendenz zur verstärkten Fiktionalisierung der Literatur ein und damit werden die Texte ein Stück weit von der objektiven, historisch belegten Lebenswelt entfernt. Für diesen Übergang lässt sich selbstverständlich keine eindeutige Zäsur ausmachen, vielmehr existieren Fiktionalität und Faktizität oftmals nebeneinander in den Texten aus dieser Zeit. Diese Parallelität zweier scheinbar getrennter Seinsbereiche liegt auch im Herzog Ernst B[1] vor. Bereits die strukturale Zweiteilung des Textes in einen potenziell historisch-tatsächlichen Reichsteil und einen unwahrscheinlich-phantastischen Orientteil und deren enge Beziehung zueinander[2] deutet auf diese Koexistenz hin. Ohne Zweifel muss man den Herzog Ernst B allein durch die Einarbeitung des phantastischen Orientteils als extrem fiktionalisierten Text charakterisieren. Sobald der Leser oder der damalige Zuhörer jedoch in die Versuchung gerät, dem Erzähler der Geschichte nur ein wenig Glauben zu schenken, wird die Fiktionalität sofort in Frage gestellt, ja sogar aufs Äußerste negiert. Der Erzähler, und somit auch aus heutiger Sicht die den Text vermittelnde Instanz, versucht mit verschiedenen narrativen sowie argumentativen Strategien eben jene unbezweifelbare Fiktionalität zu verleugnen. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, wie der Text seinen eigenen Wahrheitsgehalt zu beweisen versucht und dabei an exponierten Stellen der Handlung eine faktische Legitimation des Erzählten ausstellt.

Dass auch der performative Vortrag der Erzählung zur Steigerung der Glaubwürdigkeit beiträgt, kann hier nicht untersucht werden, zumal sich dadurch das obligatorische methodische Problem jeder mündlich verbreiteten Literatur stellen würde: die Vortragsituation mit allen ihren Komponenten kann unmöglich rekonstruiert werden. Es besteht zwar die Möglichkeit, „aus einem schriftlich überlieferten Text des 13. Jahrhunderts […] Rückschlüsse auf Bedingungen und kommunikativ-performative Aspekte eines realen Vortrags des Werkes im 13. Jahrhundert“[3] zu ziehen. Dennoch scheint es abgesicherter und hinreichend, ausschließlich die textimmanenten Spuren aufzuzeigen, welche den Wahrheitsgehalt dokumentieren sollen, denn „truth, in oral or literate settings, operates as a fundamental conceptual tool, as a guide to action within the world“[4].Trotz der Vehemenz, mit der der Text seinen angeblich auf Tatsachen beruhenden Inhalt verteidigt, kann natürlich nicht erwartet werden, dass der Erzählung weder heute noch zu seiner Entstehungszeit ein faktischer Realitätsbezug zugesprochen wird bzw. wurde.

2. Wie verleugnet der Text seine Fiktionalität?

Bevor der eigentliche Teil der Erzählung beginnt, manifestieren sich bereits im Prolog zahlreiche Verweise auf den angeblichen Wahrheitsgehalt des Textes, die direkt das zu Erzählende untermauern. Der Erzähler setzt bei seinen Rezipienten nicht nur voraus, dass seine Ausführungen als wahr erachten werden, sondern er unterteilt gleichzeitig den Rezipientenkreis in „goute […] knehte“ (V. 21) und in weniger vorbildliche Rezipienten, über die resümiert wird: „den wonet niht gouter tugende bî“ (V. 20). Wie der Prolog struktural in einen allgemeinen und ab Vers 31 in einen speziellen Teil gegliedert ist[5], so teilt sich auch die Zuhörer- bzw. Leserschaft in zwei Gruppen ein. An die Einteilung in moralische Kategorien schließt sich, und das ist das Entscheidende, eine Beurteilung der Rezeptionshaltung an. Nur die „guote[n] knehte“ würden demzufolge an den wahren Kern der Erzählung glauben, während die ethisch defizitären Rezipienten den Wahrheitsgehalt verleugneten. Diese Operation übertrifft jedoch „die Erzeugung von attentio und damit die Sicherung des über das gewohnte Maß hinausgehenden Zuhörens“[6], denn die unabdingbare Aufmerksamkeit erhält ihre Relevanz nur in der Vortragssituation. Beim Leser der Erzählung hingegen stellt die Aufmerksamkeit eine Grundbedingung der Rezeption dar, so dass bei ihm nicht erst um die Aufmerksamkeit geworben werden muss. Dennoch verfehlt die geschickte Operation des Erzählers ihre Wirkung nicht, da sich wie beim Zuhörer auch beim Leser eine Entscheidung einstellt, mit welcher Seite er sich identifiziert. Die Anziehungskraft der idealen Rezipienten scheint dabei unzweifelhaft größer, so dass auch dem damaligen Leser der Wahrheitsgehalt verstärkt nahe gelegt wird. Im Gegensatz zum heutigen Leser konnte dieser die sozialen Implikationen aus der ethischen Zweiteilung verstehen und dementsprechend seine Rezeptionshaltung positionieren. Zu Beginn des speziellen Teils des Prologs begründet der Erzähler schließlich auch, warum er diese Zweiteilung vornimmt: „Diz spriche ich allez umbe daz / daz ir merket deste baz / ditze liet daz ich wil sagen“(V. 31-33). Da sich im Anschluss an diese Verse ein narrativer Vorgriff findet, in dem zum ersten Mal im Text „die nôt und starke arbeit“(V. 35) des Herzog Ernsts auftaucht, wird der Publikumsunterteilung rückwirkend ihre Funktion zugeschrieben: Jegliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der in diesem Moment einsetzenden Erzählung sollen im Voraus eliminiert werden. Dass diese Strategie zum Scheitern verurteilt ist, braucht nicht weiter betont zu werden, denn „in der mittelalterlichen Praxis der Repräsentation selbst sind […] bereits die Voraussetzungen für ein Fiktionsbewußtsein festzumachen“[7]. Deswegen kann sowohl hier als auch bei allen folgenden Strategien nicht davon ausgegangen werden, dass die Erzählung als wahrhaftig verstanden wurde.

Ungeachtet dessen fährt der Text in Vers 38 mit seinen Legitimationsstrategien fort, die von nun an eine andere Qualität besitzen, sich aber in dieser Form durch die ganze Erzählung ziehen werden. Der kurze, unscheinbare Vers „in den buochen stêt geschriben“ (V. 38) ist das erste Indiz im Text für eine bereits bestehende schriftliche Fixierung des Herzog Ernst, auf dessen Materialität im Folgenden immer wieder verwiesen werden wird. Wie auch für Otto Neudeck stellt die Verschriftlichung für Walter Haug eine Schwellensituation dar, in der eine intendierte Fiktionalisierung des Textes einsetzt. Da sich jegliche Analyse zwangsläufig auf die schriftliche Vorlage des Herzog Ernst - Stoffes[8] mit all den daraus resultierenden Implikationen stützen muss, stellt sich in Bezug auf die Fiktionalität die Frage, „in welchem Maße der einzelne Text jeweils diesen fiktionalen Charakter herausstellt, reflektiert, dem Hörer oder Leser bewußt macht bzw. ihn verschleiert“[9]. Genau jene Verschleierung der Fiktionalität liegt auch im Herzog Ernst B vor. Trotz der Schriftlichkeit lassen sich die Legitimationsstrategien als Spuren der mündlichen, heldenepischen Erzähltradition lesen, in der die Wahrheit und der Sinn durch das mediale Erzähldispositiv und die narrative Struktur selbstverständlich aus dem Epos heraustrat[10] und eben nicht, wie in schriftlichen Erzählungen, „im Fluchtpunkt der Interpretation“[11] steht. In diesem Zusammenhang scheint der mediale Traditionsbruch durch die Schriftlichkeit im Herzog Ernst B noch nicht ganz verwunden zu sein[12], denn die Anlehnungen an den Wahrheitsgehalt des mündlich überlieferten Epos treten an exponierten Stellen im Text immer wieder hervor. Der physisch abwesende Erzähler, der in der schriftlichen Erzählung nicht mehr durch seine Präsenz für die angestrebte Faktizität einstehen kann, greift deshalb zu anderen Mitteln, um das Defizit auszugleichen. Dazu zählen auch die bereits angesprochenen zahlreichen Verweise auf die schriftliche Vorlage der Erzählung. Die Anordnung und Gruppierung dieser sich wiederholenden Rückbezüge folgen innerhalb der Erzählung einem bestimmten, genau kalkulierten Prinzip. So lassen sich bis zum Beginn der Kreuzfahrt Herzog Ernsts kaum Anspielungen auf die schriftlichen Quellen finden. Da sich bis zu diesem Zeitpunkt der Handlungsraum im mittelalterlichen Europa, dessen Geographie als bekannt vorausgesetzt werden konnte, situiert ist, besteht auch kein Grund, dafür eine Legitimationsquelle heranzuziehen. Zumal wird auch dem Rezipienten keinen Anlass gegeben, an der Wahrhaftigkeit der beschriebenen Welt und den darin stattfindenden Handlungen zu zweifeln. Was der Erzähler für die Stiftung des Erzbistums Magdeburg durch Kaiser Otto proklamiert, lässt sich auf die gesamte Geographie des Reichsteils übertragen: „daz ist genuogen wol bekant“ (V. 201).

[...]


[1] Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A, herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski, Stuttgart 2003. Im Folgenden sind alle Zitate aus dem Herzog Ernst dieser Ausgabe entnommen.

[2] Vgl. Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ‚Straßburger Alexander’, im ‚Herzog Ernst B’ und im ‚König Rother’, Tübingen 2002, S. 151-166.

[3] Robert Luff: nu vernemet alle besunder:/ ich sage iu michel wunder. Dichter, Publikum, und Konturen der Vortragssituation im ‚Herzog Ernst’ B, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heidelberg 2001, 95. Band, S. 307.

[4] Jeremy Downes: Or(e)ality: The Nature of Truth in Oral Settings, in: W.F.H. Nicolaisen: Oral tradition in the Middle Ages, Binghamton 1995, S. 130.

[5] Vgl. Robert Luff: nu vernemet alle besunder:/ ich sage iu michel wunder. Dichter, Publikum, und Konturen der Vortragssituation im ‚Herzog Ernst’ B, a. a. O., S. 311. Luff bringt den Aufbau des Prologs mit der Rhetoriktheorie Quintilians in Verbindung.

[6] Ebd. S. 313.

[7] Otto Neudeck: Das Spiel mit den Spielregeln. Zur literarischen Emanzipation von Formen körperhaft-ritualisierter Kommunikation im Mittelalter, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heidelberg 2001, 95. Band, S. 302. Neudeck postuliert darin, dass durch die symbolischen Kommunikationsformen im Mittelalter die Grundlage für ein Verstehen von Fiktionalem liege, allerdings stelle erst der Übergang zur Verschriftlichung die Bedingung für „literarische Fiktionalität“ dar.

[8] Jürgen Kühnel: Zur Struktur des Herzog Ernst, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, Heidelberg 1979, 73. Band, S. 248-271. Kühnel schlägt aufgrund der ungeklärten Werkgenese die strukturale Einheit des gesamten Textes vor.

[9] Walter Haug: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität, in: Joachim Heinzle (Hg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M. 1994, S. 388.

[10] Vgl. Ursula Schaefer: Individualität und Fiktionalität. Zu einem mediengeschichtlichen und mentalitätsgeschichtlichen Wandel im 12. Jahrhundert, in: Dies./ Werner Röcke (Hgg.): Mündlichkeit - Schriftlichkeit - Weltbildwandel: Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 1996, S. 65.

[11] Walter Haug: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität, a. a. O., S. 388.

[12] Vgl. Thomas Ehlen: Hystoria ducis Bauarie Ernesti. Kritische Edition des ‚Herzog Ernst’ C und Untersuchungen zu Struktur und Darstellungen des Stoffes in den volkssprachlichen und lateinischen Fassungen, Tübingen 1996: „Der ‚Herzog Ernst’ kann aber als deutlicher Hinweis darauf interpretiert werden, daß während des prozeßhaften Übergangs der weltlichen, volkssprachlichen Literatur im 12. Jahrhundert in die Schriftlichkeit zunächst mit dem überlieferten Material gearbeitet wird, daß man es den Zeitumständen anpasst und seine eigene Zeit mit den alten Mustern erklärt, sich ihrer sinnsetzenden Angebote bedient.“

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Herzog Ernst B zwischen Fiktionalität und Faktizität
Hochschule
Universität Konstanz
Veranstaltung
Proseminar: Herzog Ernst
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
14
Katalognummer
V57743
ISBN (eBook)
9783638520942
ISBN (Buch)
9783638792493
Dateigröße
497 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit ordnet den Text Herzog Ernst B in die literaturgeschichtliche Schwellensituation ein, als eine zunehmende Fiktionalisierung der Literatur im Hochmittelalter einsetzte. Dabei werden im Text die narrativen Strategien zur Erzeugung einer scheinbaren Faktizität des Phantastischen aufgezeigt.
Schlagworte
Herzog, Ernst, Fiktionalität, Faktizität, Proseminar, Herzog, Ernst
Arbeit zitieren
Frank Dersch (Autor:in), 2006, Herzog Ernst B zwischen Fiktionalität und Faktizität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57743

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