Das andere Gesicht der Viktorianik. R. L. Stevensons "Dr Jekyll and Mr Hyde" und Oscar Wildes "The Picture of Dorian Gray"


Magisterarbeit, 2006

71 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Teil I: Literaturkritischer Hintergrund
1. Die Tradition der Gothic novel
1.1. Eine Definition des Begriffs ‚ Gothic
1.2. Die Gattung der Gothic novel
1.3. Merkmale
1.4. Die Gothic novel am Ende des 19. Jahrhunderts
2. Der Doppelgänger
2.1. Begriffliche Definition
2.2. Entwicklung, Formen und Funktionen
2.3. Der Doppelgänger und die Psychoanalyse
2.4. Dualität und Gothic novel: Der spätviktorianische Doppelgänger

Teil II: Historischer Kontext
1. Das Fin de siècle
Lebensraum: Die Metropole
Wissenschaft
Lebensstil

Teil III: Textanalyse
1. The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde
1.1. Entstehung
1.2. Jekyll and Hyde und Jack the Ripper
1.3. Hyde
1.4. Der Schauplatz
2. The Picture of Dorian Gray
2.1. Entstehung
2.2. Dorians Formung
2.3. Dorians Fall
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

England unter der Herrschaft von Königin Viktoria, das ist die Zeit des einflussreichen Empires, des durch die Industrielle Revolution erlangten Reichtums und den wissenschaftlichen Errungenschaften. Es ist aber auch eine Zeit – im fin de siècle – des Umbruchs und des langsamen Zerfalls. Die „Great Depression“ (Manfred Pfister 121), die das Land in eine Krise stürzt, führt zu Missständen und Arbeitslosigkeit, das Ende einer Wohlstandsgesellschaft ist nah. Die Wissenschaft nimmt den Viktorianern mit Darwin und dessen Entdeckung der animalischen Herkunft des Menschen den Glauben an Gott und versetzt sie mit Lombroso und seiner Kriminalanthropologie in Panik. Die Psychologie und Psychiatrie, die sich zu dieser Zeit noch in den ‚Kinderschuhen’ befindet, stört durch ihre Entdeckung von Geisteskrankheiten wie Hysterie und Persönlichkeitsspaltung die von den Viktorianern propagierte Einheit von Körper und Seele (Pfister 88). Der Ästhetizismus dieser Zeit flüchtet sich in eine schöne Scheinwelt, welche die miserablen Zustände der Gesellschaft einfach ausblendet (ibid. 119-127). Die Viktorianer des fin de siècle sind nun nicht mehr so fortschrittsdenkend; sie haben Angst vor dem Zerfall ihrer Kultur, ihrer Rasse und ihren Institutionen (Patrick Brantlinger 187). Die selbst auferlegten hohen Moralstandards, die die Viktorianer dazu zwingen, auf der einen Seite ihre Sexualität einzuschränken, bringt sie auf der anderen Seite, diese heimlich auszuleben, ein Doppelleben zu führen (Astrid Schmid 43). Vordergründig ist man der gutsituierte Gentleman – Frauen haben offiziell keine sexuellen Gefühle –, hintergründig suchte man seine Abenteuer in sexuellen Ausschweifungen (Pfister 127-138).

Die Ängste und Befürchtungen der Viktorianer finden Ausdruck in den fin de siècle Gothic novels – David Punter bezeichnet sie als die „’decadent Gothic’“ (239)–, die sich alle mit dem „problem of degeneration, and thus [with] the essence of the human“ (Punter 239) auseinandersetzen. Die für diese Arbeit ausgewählten Werke, Robert Louis Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde und Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray, bedienen sich des Motivs des ‚Anderen’, des Doppelgängers, um den Konflikt zwischen gesellschaftlichen Konventionen und individuellen Neigungen, der unweigerlich zum menschlichen Verfall führt, darzustellen. Diese Doppelgänger zeigen „[d]as andere Gesicht der Viktorianik“, wie es der Titel dieser Arbeit nennt. Im ersten Teil wird dabei zunächst ein Überblick über die Tradition der Gothic novel und deren Merkmale gegeben werden, um anschließend die besonderen Charakteristika der spätviktorianischen Gothic novel besser in ihren historischen Kontext einordnen zu können. Verbunden damit ist ein Abriss über die Entwicklung des Motivs des Doppelgängers und seiner Verwendung als sozialkritisches Moment im fin de siècle. Im zweiten Teil wird eine Zusammenfassung über den historischen Hintergrund gegeben. Der dritte Teil schließlich beinhaltet die Analyse der beiden Werke.

Teil I: Literaturkritischer Hintergrund

1. Die Tradition der Gothic novel

Um zu einem besseren Verständnis darüber zu gelangen, inwiefern sich Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde und Wildes The Picture of Dorian Gray als Gothic novels in die Linie dieser Gattung einreihen, wird im Folgenden ein kurzer Überblick über die Ursprünge und Entwicklungen der Gothic novel gegeben werden.

1.1. Eine Definition des Begriffs ‚ Gothic ’

Der Begriff ‚ Gothic ’ selbst umfasst heute noch eine ganze Vielfalt von Bedeutungen und wird in verschiedenen Zusammenhängen in der Architektur, der Geschichte, der Kunst und der Literatur verwendet, wo er allerdings mit dem ostgermanischen Stamm der Goten, von welchen sich die Bezeichnung eigentlich ableitet, nichts oder nur wenig gemeinsam hat. Ursprünglich wird der Begriff noch bis zur Aufklärung mit negativer Konnotation in Bezug zu ‚römisch’ im Sinne von ‚klassisch’ und ‚zivilisiert’ gesetzt und bedeutet soviel wie ‚andersartig’, also ‚unkultiviert’ und ‚unvernünftig’. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erfährt die Bezeichnung ‚ Gothic’ aber einen Bedeutungswandel und wird zunächst als neutrales Synonym für das Mittelalter gebraucht (Punter1, Valdine Clemens 15).

1.2. Die Gattung der Gothic novel

Ein Phänomen, das eng mit der steigenden Beliebtheit des Gothic zusammenhängt, ist die Entdeckung der Gattung des Romans als literarisches Ausdrucksmittel, die eng mit den Veränderungen der sozialen Strukturen in England verbunden sind. Literatur ist nun auch für den mittelständischen Bürger zugänglich und die Anzahl der Buchdruckereien steigt während des wirtschaftlichen Aufschwungs enorm an. Zwar können sich weiterhin nur wenige Menschen ein Buch leisten – viele von ihnen sind darüber hinaus Analphabeten –, dennoch weitet sich der Leserkreis erkennbar aus (Punter 22f.).

Mit den Vorstellungen vom Mittelalter als Epoche des Übernatürlichen, in welcher Hexen und Dämonen ihr Unwesen treiben, prägt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Literatur stetig eine der vernunftgeprägten Aufklärung gegenläufige Bewegung aus, die sich mehr der menschlichen Fantasie- und Gefühlsebene zuwendet und großes Interesse an mittelalterlicher Dichtung, die voll von Darstellungen grausiger und unheimlicher Szenerien ist, zeigt. Als ‚ Gothic’ benennt man folglich, so Clemens, alle literarischen Werke, deren Handlungen sich, von einem mittelalterlichen Schauplatz unabhängig, mit übernatürlichen Phänomenen auseinander setzen (15). Üblicherweise wird ‚ Gothic’ einer Reihe von Romanen, die in dem Zeitraum von etwa 1764 bis 1820 verfasst worden sind, zugeschrieben. Darunter fallen unter anderem Horace Walpoles The Castle of Otranto (1764) und Charles Robert Maturins Melmoth the Wanderer (1820), welche den genannten Zeitraum abstecken. Weitere bekannte Gothic Autoren sind Ann Radcliffe, Matthew Lewis oder auch Mary Shelley (Robert D. Hume 382). Die Gothic novel ist somit „hardly “Gothic” at all”; sie ist eher „an entirely post-medieval and even post-Renaissance phenomenon.“ (Jerrold E. Hogle 1)

1.3. Merkmale

Wenn von der Gothic novel die Rede ist, werden Assoziationen über bestimmte Charakteristika der Gattung bezüglich der Handlung, des Schauplatzes, der behandelten Themen, Stil und Erzähltechnik aufgerufen. So verbindet man mit ihr oft atmosphärische Darstellungen von Angst und Schrecken. Alte Ruinen, in denen es spukt, Geister, dunkle Gestalten oder Vampire gehören dazu. Meist werden gesellschaftliche Tabuthemen wie Gewalt, sexuelle Perversion oder auch Geisteskrankheit aufgegriffen. Die Wirkung des Unheimlichen wird durch eine konfuse Erzählweise noch verstärkt; Erzählstränge sind unzusammenhängend oder die Erzählperspektiven wechseln schnell und häufig (Kelly Hurley 191). Die Gattung aber unter diesen Gesichtspunkten vereinen zu wollen ist viel zu einfach und wird ihrer Komplexität nicht gerecht, da sich die unter ‚ Gothic’ zusammengefassten Romane des 18. Jahrhunderts doch voneinander unterscheiden, wodurch sich die Frage nach den eigentlichen Gemeinsamkeiten stellt (Hume 282f.).

Drei im späten 18. Jahrhundert weit verbreitete Romangattungen sind der didaktische Roman, der Sittenroman[1] und die Gothic novel, welche sich aufgrund der Beliebtheit von „“Gothic“ trappings“ (Hume 283) oft in die anderen beiden Genre miteingeflochten ist, wodurch sich die Obergattung der Gothic novel in der Forschung oft in verschiedene Unterarten eingeteilt sieht: „[S]entimental-Gothic“[2], „Historical-Gothic“[3] und „Terror-Gothic“.[4] Während der Sittenroman sich einer schaurigen Atmosphäre bedient, um die eigentliche Handlung lebendiger zu gestalten, spielen sich die Geschehnisse in einer historischen Gothic novel an einem historischen Schauplatz ab. Die terror-Gothic novel sei die einzige „most nearly “pure“ Gothic novel“ (Hume 283).

Jedoch ist diese Einteilung nicht sehr zufriedenstellend, da sie einzelne Werke nicht deutlich genug voneinander unterscheidet; so handelt es sich bei Walpoles rechtschaffenen Figuren um Abbilder einer Idealvorstellung des späten 18. Jahrhunderts, seine Bösewichte hingegen nehmen sich den typischen Schurken des Jakobinischen Dramas zum Vorbild. Für Radcliffe wird sozusagen die gesamte mittelalterliche Periode zum Inbegriff des Schauerlichen. Des Weiteren wird die historical - Gothic novel in direkten Zusammenhang mit der Gothic novel an sich gestellt, obwohl sie nur zufällig mit dieser verwandt ist. Es bleibt also die Frage, welche Eigenschaften es genau sind, die zum Beispiel Maturins und Lewis’ Romane zu Gothic novels machen. „One of their most prominent concerns [...] might grandiosely be called a psychological interest. [...] there is a considerable amount of concern for interior mental processes.” (Hume 283, Hervorhebung im Original) Sie sollen den Leser in die Handlung miteinbeziehen und ihn in seinem Innersten erschüttern:

There is [...] one element which [...] crops up in all the relevant fiction, and that is fear. [...] exploring Gothic is also exploring fear and the various ways in which terror breaks through the surfaces of literature. (Punter 21)

1.4. Die Gothic novel am Ende des 19. Jahrhunderts

Arthur Machens The Great God Pan (1890), Herbert George Wells’ The Island of Dr. Moreau (1896), Rudyard Kiplings The Mark of the Beast (1890), sowie Robert L. Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde (1886) und Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1891) besitzen eine Gemeinsamkeit: sie alle zeichnen „human bodies that have lost their claim to a [...] fully human existence”, was furchteinflößend auf den Leser wirken muss, denn diese Körper “occupy the threshold between the two terms of an opposition, like human/beast, male/female, or civilized/primitive, by which cultures are able meaningfully to organize experience.” (Hurley 190) Diese Darstellungen des Menschen als im Grunde unmenschliches, abscheulich bestialisches Wesen taucht in der spätviktorianischen Gothic novel immer wieder auf; sie spiegeln zeitgenössische Ängste und Traumata der Gesellschaft wider und verarbeiten diese mit Hilfe von Monstern, von übernatürlichen Phänomenen (Hurley 197, Punter 240). Dabei spielen revolutionäre Erkenntnisse in den Wissenschaften, wie Darwins Evolutionstheorie in The Descent of Man (1871) und die voranschreitende Forschung in der Psychologie und Psychiatrie über den menschlichen Geisteszustand und die Psyche eine herausragende Rolle, was sich unter anderem durch die Beschreibung wissenschaftlicher Experimente, durchgeführt meist von der Realität entrückten Wissenschaftlern, in den Gothic novels zeigt. Ziel ist es, eben die Bestie im Menschen, die sich hinter einem attraktiven Äußeren verbirgt, aufzudecken.

Gleichzeitig nimmt die Angst vor einem langsamen aber stetigen Verfall des Empire zu und damit dem Verfall entweder des einzelnen Menschen, wie bei Dorian Gray, dessen Niedergang sich in der satanischen Entartung seines Portraits zeigt, und bei Jekyll and Hyde, in welchem sich zwar keine Metamorphose von Jekylls Körpers im Sinne des Dorian Gray zeigt, in welchem Jekyll aber dadurch dem Untergang geweiht ist, dass er immer öfter zu Hyde wird und die Verwandlung für ihn nicht mehr kontrollierbar ist. Der Verfall einer ganzen Gesellschaft wird zum Beispiel in Wells’ The Time Machine (1895) aufgezeigt. Die Gothic novel „can thus serve as a sort of historical or sociological index“ (Hurley 197). Dazu gehört ebenfalls die Schilderung einer explosionsartig expandierten Stadt mit ihren verwinkelten Gassen, den dunklen, unheimlichen Ecken und heruntergekommenen Vorstädten, in deren zunehmender Anonymität sich ein kriminelles Eigenleben entwickelt und wo sich der sonst so prüde Viktorianer unerkannt gesellschaftlich verpönten Vergnügungen hingeben kann (Hurley 194f., Glen Cavaliero 73).

Die sich entwickelnde Doppelmoral lässt ein literarisches Motiv in der spätviktorianischen Gothic novel besonders populär werden: den Doppelgänger, der dazu dient, die heruntergekommene Seite des Menschen, das andere Gesicht der Ära anzuzeigen (Punter 239f.).

2. Der Doppelgänger

2.1. Begriffliche Definition

Der Begriff ‚Doppelgänger’ ist im englischen Sprachgebrauch[5], ähnlich wie ‚rucksack’, ,zeitgeist’, ‚angst’ oder ‚kindergarten’, dem Deutschen entlehnt (Aglaja Hildenbrock 18). Geprägt durch Jean Pauls Roman Siebenkäs (1796), bezeichnet er bei diesem zunächst nur diejenigen Personen, die ihre eigene Erscheinung wie im einen Spiegel erblicken (Hildenbrock 8, Karl Miller 49). Das englische ‚ double’ hingegen besitzt ein semantisch viel weiteres Bedeutungsspektrum und meint ursprünglich „A double quantity; twice as much or many; a number of magnitude multiplied by two“ (OED s.v. “Double“, 1.) und „A thing that is an exact repetition of another“ (OED s.v. “Double“, 2.). Als weitere, genauere Definitionen unter Punkt zwei fallen

a. A duplicate, copy, transcript (of a writing). Obs.
b. A counterpart; an image, or exact copy (of a thing or person)
c. spec. The apparition of a living person; a wraith, fetch.
d. pl. Two of the same kind, twins. Obs.

Während es sich bei allen Erklärungen unter Punkt zwei grob gesagt um Kopien, Replikate mit demselben äußeren Erscheinungsbild handelt, gibt eine andere Bestimmung für ‚ double’ im Sinne von ‚ counterpart’ (‚Gegenstück’ oder ‚Abbild’) „one or two parts which fit and complete each other; a person or thing forming a natural compelement to another“ (OED s.v. “Counterpart“, 3.) an, was bedeuted, dass sich zwei Teile – entweder zwei gleiche oder gegensätzliche – ergänzen. Dies ist vergleichbar mit Dorian und dessen Portrait, und Jekyll und seinem Gegenpart Hyde, wobei Jekyll und Hyde sogar in einer einzigen Person miteinander verbunden sind (Schmid 27, Hildenbrock 18f.). Hildenbrock fügt hinzu, dass sowohl das englische ‚ double’ als auch das deutsche ‚Doppelgänger’ „fast immer psychologisch determiniert“ sind. Sie „weisen über eine rein körperliche Ähnlichkeit hinaus auf eine seelische Affinität“ hin (20).

2.2. Entwicklung, Formen und Funktionen

Chava E. Schwarcz spricht von einer „Motivkonstanz“ (zit. in Schwarcz 3) in der literarischen Motivforschung, was bedeutet, dass ein bestimmtes Motiv im Hinblick auf seine Funktion, „spezielle [...] Formen und Inhalte, die seiner Struktur entsprechen“ (ibid.), auszudrücken, durch seine geschichtliche Entwicklung hinweg beständig bleibt. Dies trifft ebenso auf das Motiv des Doppelgängers zu, das sich sowohl in der Darstellung entweder zweier äußerlich ähnlicher oder gleicher Figuren, als auch in der Illustration von zweierlei Gestalten, die sich aus der Aufspaltung einer einzigen Person ergeben, niederschlägt.

2.2.1. Der ‚Ur’-Doppelgänger

Bei der Entwicklung des Doppelgängermotivs lässt sich eine grobe Dreiteilung erkennen. Erste literarische Zeugnisse über die Vorstellung von menschlichen Spiegelbildern finden sich schon bei Plautus’ in dessen Zwillingskomödie Menaechmi aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. Das Motiv dient hier der Entfaltung komischer Szenerien, die sich aus der Verwechslung zweier gleich oder ähnlich aussehender Individuen ergeben. Auf der Basis der Zwillingsidentität entsteht so die Begriffsbestimmung des Doppelgängers der ersten Entwicklungsstufe, deren Kennzeichen eben das Auftreten zweier getrennter, aber physisch übereinstimmender Charaktere ist (Sandro M. Moraldo 13f., 20, Horst und Ingrid Daemmrich s.v. “Doppelgänger“, Schwarcz 3).

2.2.2. Entzweites Individuum

Auf der zweiten Entwicklungsstufe sind das Selbst und sein Doppelgänger physisch zwar immer noch Ebenbilder, aber hier ist der Doppelgänger ein Teil dieses Selbst und verhält sich „komplementär“ (Moraldo 21) zu diesem. Meist taucht der ‚Andere’ aus der „subjektiven Einbildungskraft des einzelnen“ (ibid.) auf, er kann jedoch ebenfalls als reale Person agieren, die „aber nur [...] in ihrer Substanz als Spiegelungen des Unbewußten einer Figur erkennbar werden.“ (Daemmrich s.v. “Doppelgänger“) Das Motiv erhält an dieser Stelle psychologisierende Funktion; es trägt den inneren Konflikt des ‚Entzweiten’ nach außen, indem es unartikulierbare Gefühle, Wünsche und Vorstellungen oder Befürchtungen in Gestalt eines sich abgespaltenen Persönlichkeitsteils sichtbar werden lässt und somit auch eine Identitätskrise auslösen kann (Hildenbrock 7, Schwarcz 7).

Die Ausbildung des psychologisch interpretierbaren Doppelgängers findet vor allem während der Romantik[6], die ja ihr Interesse ganz auf die Vorgänge in der menschlichen Psyche richtet, statt, und geht mit der Ausbildung neuer, der Erforschung der Seele zugewandter ‚Wissenschaften’ wie dem Mesmerismus[7], dem Okkultismus oder der Telepathie einher, womit sie auch die volkstümliche Vorstellung vom Doppelgänger als Verkörperung des Dämonischen und Boten eines bevorstehenden Todes übernommen hat (Daemmrich s.v. “Doppelgänger“, Schwarcz 5, Hildenbrock 10).

Beispielhaft in der Umsetzung dieser Art des Doppelgängers, der in Form eines Spiegelbildes auftaucht, ist der Mythos des Narziss, welcher „daher als Urbild und Vorform des ‚modernen’ Doppelgängermotivs gelten“ darf (Hildenbrock 199).

In der deutschen Literatur ist E.T.A. Hoffmann Vorreiter bei der Verwendung der hier diskutierten Form der Doppelgängerfigur. Er hat durch Die Elixiere des Teufels (1815) nicht wenig zur Entwicklung des Doppelgängers in der englischen Literatur beigetragen (Miller 127). Seine Werke sind gespickt mit Personen, die durch einen Verlust der Realitätswahrnehmung besessen oder geisteskrank werden und psychisch ‚auseinanderbrechen’, also eine Persönlichkeitsspaltung erfahren. Der Doppelgänger soll hier die andere, unbewusste oder dunkle Seite, wie auch die innere Zerrissenheit des Menschen symbolisieren (Moraldo 22,f.). Hildenbrock bezeichnet den Doppelgänger in diesem Zusammenhang als „ein Symbol einer Zeit, deren Kennzeichen angesichts großer Umwälzungen in Philosophie und Wissenschaft auch eine existentielle Verunsicherung ist.“ (17)

2.2.3. Alternierende Persönlichkeit

In einer dritten Ausprägung wird den vorherigen Doppelgängertypen ein wesentliches Element hinzugefügt, welches Jean Pauls Definition des Motivs – zwei äußerlich gleiche Teile – hinfällig macht: Das ‚Andere’ unterzieht sich einer „[p]hysisch[en] [...] Wandlung“ (Moraldo 25) und kann jede beliebige äußere Form annehmen. Nun aber wird – und das ist ein zweiter entscheidender Punkt – den beiden Teilen kein individuelles Existenzrecht eingeräumt, weil sie zu ein und derselben Person gehören und somit zur Alternierung gezwungen sind, wie im Falle von Dr Jekyll und Mr Hyde (Moraldo 183, Hildenbrock 121f.). Harry M. Geduld ist der Meinung, Jekyll and Hyde sei keine Doppelgängergeschichte im klassischen Sinne, da in eben solchen der Doppelgänger meist eine eigene Identität besitzt, während Jekyll und Hyde jeweils abwechselnd ein und denselben Körper bewohnen (11). Dorian Gray hingegen darf zum Doppelgänger des zweiten Typus gezählt werden, da Dorians Portrait, das wie ein Spiegel wirkt, als der ‚Andere’ von ihm unabhängig, gleichzeitig mit Dorian, existiert.

2.3. Der Doppelgänger und die Psychoanalyse

Sigmund Freud versucht im Rahmen seiner psychoanalytischen Studien in seinem Essay “Das Unheimliche“ (1919) das Motiv des Doppelgängers aus anthropologischer Sicht zu ergründen[8]. So wird der Doppelgänger, welcher in früheren Zeiten – beispielsweise bei den alten Ägyptern – aufgrund einer „uneingeschränkten Selbstliebe“, eines „primären Narzißmus“ (258), als Teil des eigenen Ichs, als etwas „ehemals Heimische[s], Altvertraute[s]“ (267) anerkannt ist, durch eine Verdrängung eben jenes kindlichen Narzissmus zu etwas Unheimlichen. Freud beschreibt das Phänomen folgendermaßen:

Der Charakter des Unheimlichen kann doch nur daher rühren, daß der Doppelgänger eine den überwundenen seelischen Urzeiten angehörige Bildung ist, die damals allerdings einen freundlicheren Sinn hatte. (259) [...] dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. (264)

Hildenbrock stellt in Anlehnung an Freud die These auf, „daß [sic] der Doppelgänger immer dann als unheimlich und beunruhigend empfunden wird und tiefgreifende seelische Folgen hat, wenn er einen verdrängten Teil des Ichs sichtbar macht – also etwas repräsentiert, was tatsächlich einmal ’heimisch’ und ’altvertraut’ war“ (Hildenbrock 121).

2.4. Dualität und Gothic novel: Der spätviktorianische Doppelgänger

Der Verlust von Identität oder die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen im Allgemeinen ist ein Kennzeichen vieler fin de siècle Gothic novels, die sich mit dem Thema ‚Dualität’ beschäftigen, wobei sich das Problem der Zugehörigkeit der eigenen Person an „class and morality, [...] pleasure and pain, [...] beauty and ugliness, and [...] evolution and degeneracy“ geknüpft sieht (Linda Dryden 40).

Von der Romantik bis hinein ins 19. Jahrhundert präsentiert sich die Dualität der menschlichen Natur als unumgängliches Thema in der Literatur, sie ist die „hypothesis known to Victorians as the essential duality of man“ (Miller 22), jedoch ist es, so Dryden, nur der Moderne gelungen, die Dualitätsthematik mit Elementen des Schauerlichen – Elementen von Angst und Heimsuchung – zu verweben. So wirkt die moderne Dualitätsliteratur schließlich noch furchteinflößender, denn „[t]o be haunted by another, by a spectre, is uncanny enough, but to be haunted by yourself strikes at the foundations of identity.“ (41)

So findet das Motiv des Doppelgängers am Ende des viktorianischen Zeitalters bei den Autoren einer „nation [...] divided against itself“ (Walter E. Houghton 239) großen Anklang, besonders nachdem es seit der Mitte desselben Jahrhunderts stetig an Popularität verloren hatte. Mit Hilfe des Motivs ist es möglich, den inneren Kampf des Menschen in einer Welt voller Heuchelei und Maskerade, entstanden durch viel zu hoch angesetzte Moralstandards und ‚Scheuklappendenken’, darzustellen:

The term ’Victorian’ still connotes the double standards of a supposedly moral society, which preached sexual repression, banishing sexuality into the realms of subculture; it virtually prompted it citizens to lead a life of hypocrisy. (Schmid 43)

Der Doppelgänger zeigt der viktorianischen Gesellschaft die Folgen einer doppelbödigen Ethik: Kriminalität und Auslebung sexueller Perversionen. Das Böse, also das gesellschaftlich Inakzeptable, repräsentiert durch das andere Ich, verselbständigt sich hier jedoch nicht, so Schmid, durch Einwirkung übernatürlicher dämonischer Kräfte, sondern aus der inneren Entzweitheit des Menschen heraus (44).

Teil II: Historischer Kontext

1. Das Fin de siècle

Der Glanz des Viktorianismus mit seinen großartigen Errungenschaften findet sich gleichermaßen durchzogen von Ängsten vor diesen Errungenschaften. Die Demokratisierung des Landes, der stetige Rückzug aus dem christlichen Glauben – auch Dank der starken Progression in wissenschaftlichen Bereichen – und der Wirtschaftsboom erfüllen die Viktorianer sowohl mit einem Gefühl von Stolz, als auch mit negativen Empfindungen (Houghton 54).

Der Begriff ‚ fin de siècle’ ist höchstwahrscheinlich von einem gleichnamigen französischen Drama von H. Micard und Francis de Jouvenot aus dem Jahre 1888 übernommen und wird rückwirkend als Bezeichnung für die Zeit zwischen etwa 1880 und 1915 verwendet (Lyn Pykett 1). Die Periode des fin de siècle ist nicht nur charakterisiert durch eine allgemeine Niedergangsstimmung, es ist genauso eine Übergangsschwelle zwischen der Viktorianik und der Moderne. Zunächst ist es natürlich das Ende eines signifikanten Jahrhunderts, aber es bedeutet auch den Beginn einer neuen Ära, in der alles Alte umgewälzt wird:

Britain’s cultural and political landscape was being lit up by a constellation of new formations: the new woman, the new imperialism, the new realism, the new drama, and the new journalism, all arriving alongside ‚new’ human sciences like psychology, psychical research, sexology, and eugenics. (Sally Ledger und Roger Luckhurst xiii)

Für John Stokes endet das Jahrhundert nicht „in December 1899“ (1); er verbindet mit dem Ende die Jahreszahl 1895, dem Datum der Verurteilung Oscar Wildes, mit der auch eine signifikante Ära in der Kunst beendet wird.

Das fin de siècle ist das Ende einer erfolgreichen Politik und eines großen britischen Empires, das durch den politisch und wirtschaftlich immer stärker werdenden Kontinent langsam in die Knie gezwungen wird. Die Viktorianer verlieren durch immer neuere und revolutionärere Erkenntnisse der Wissenschaft langsam ihren Glauben, Darwins Evolutionstheorie stößt die Menschheit als von Gott nach dessen Bilde geschaffen von ihrem Thron und verweist sie in das Reich der Tiere, Lombroso ‚erkennt’ den ‚Zusammenhang’ zwischen degenerativem Äußeren und einem Hang zu primitiven Verhaltensweisen, während die Psychoanalyse und die Psychiatrie dem Menschen latente Schizophrenie attestieren (vgl. Fred Botting 137). Die einst so stolze britische Nation fällt mehr und mehr in einen moralischen und kulturellen Abgrund, was von dem Österreicher Max Nordau in Degeneration, 1895 ins Englische übersetzt, imponierend beschrieben wird.

Die Angst vor diesem Untergang findet en masse Ausdruck in den fin de siècle Romanen, welche die unvorstellbaren Folgen einer unaufhaltsamen Entwicklung der Wissenschaft und der gelebten Doppelmoral zeichnen (Pykett 1, Dryden 1).

Viele Literaturkritiker, darunter auch Holbrook Jackson und R.K.R. Thornton, begrenzen das fin de siècle auf die letzten zehn Jahre. Hogle spricht ebenfalls von den „1890s, still known today as the fin de siècle “ (1). Für Linda Dowling fallen zwar sowohl die Achtziger als auch die Neunziger unter ‚ fin de siècle ’, sie sieht jedoch wie die anderen die letzte Dekade besonders im Licht einer Befreiung von sozialen Fesseln (1977 viif.) Die genannten Kritiker setzen ‚ fin de siècle ’ auch gleich mit dem Begriff ‚Dekadenz’, einer Attitude übernommen aus Frankreich, die sich der Strenge des Viktorianismus entzieht und eine Gegenbewegung dazu bildet. Diese Reduzierung auf die letzte Dekade des 19. Jahrhunderts wird der weitumfassenden Begrifflichkeit des fin de siècle allerdings nicht gerecht, da ‚Dekadenz’, zusammen mit der Bewegung des Ästhetizismus, eine bestimmte Lebenshaltung meint, die sich der Hässlichkeit des industriellen Zeitalters entgegenstellt. Folglich würde Stevensons Jekyll and Hyde aus der Diskussion ausgeschlossen, da es in der Literaturkritik nicht zu den Dekadenzwerken zählt. Aus diesem Grund wird diese Arbeit die Periode der Dekadenz nicht als Synonym, sondern als einen wesentlichen Teil des fin de siècle betrachten.

[...]


[1] Hume nennt als Beispiele für den didaktischen Roman William Godwins Caleb Williams (1794) und für den Sittenroman Oliver Goldsmiths The Vicar of Wakefield (1766) (282f.).

[2] ‚Sentimental-gothic’ meint den Sittenroman, der Elemente des Gothic aufweist. In diese Kategorie gehört zum Beispiel The Old English Baron (1785) von Clara Reeve (ibid. 283).

[3] Darunter fällt auch The Recess (1786) von Sophia Lee (ibid.).

[4].Zu dieser Unterart gehörten wohl die klassischen Gothic novels wie die von Radcliffe, Maturin oder auch Lewis (ibid.).

[5] Auch ‚double-ganger’ oder ‚double’. Dabei wird das deutsche Lehnwort im Englischen dem „gehobenen Sprachgebrauch vorbehalten“ (Hildenbrock 20).

[6] Die Rede ist hier, wohl gemerkt, von der deutschen Romantik, die sehr eng mit dem Motiv des Doppelgängers verknüpft ist. Hildenbrock weist darauf hin, dass das Motiv in der englischsprachigen Literatur „nur vereinzelt und ohne erkennbaren Zusammenhang mit einem bestimmten Zeitgeist auftritt“ (21).

[7] Auch animalischer Magnetismus. Benannt nach dem österreichischen Arzt Franz Anton Mesmer, der eine Heilmethode entwickelte, bei welcher der Patient durch Beeinflussung des vegetativen Nervernsystems (meist wohl durch Handauflegen) in eine Art hypnotischen Zustand versetzt wird. Daraus entwickelt sich später die Hypnosetherapie (OED s.v. “Mesmerism“).

[8] Zwar entstand sein Essay, in welchem er sich unter anderem mit dem Doppelgänger auseinandersetzt, erst einige Jahre nach den in dieser Arbeit behandelten Werken Dr Jekyll and Mr Hyde und Dorian Gray, er trägt aber dennoch dazu bei, das Motiv in den beiden spätviktorianischen Werken rückblickend tiefenpsychologisch zu beleuchten und es mit den Gegebenheiten der damaligen Zeit in Verbindung zu bringen.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Das andere Gesicht der Viktorianik. R. L. Stevensons "Dr Jekyll and Mr Hyde" und Oscar Wildes "The Picture of Dorian Gray"
Hochschule
Universität Trier
Note
2,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
71
Katalognummer
V57539
ISBN (eBook)
9783638519854
ISBN (Buch)
9783656776628
Dateigröße
831 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beschäftigt sich mit den Besonderheiten der Spätviktorianik, dem sogenannten fin de siècle, das durch eine Reihe von Umbrüchen sozialer, politischer und wissenschaftlicher Art geprägt ist. Merkmal der fin de siècle Literatur ist Dualität und Zerrissenheit, und viele 'New Phenomenons': Das Ich und das Andere, Arm und Reich, außen und innen, The New Imperialism, The New Woman, etc.
Schlagworte
Gesicht, Viktorianik, Stevensons, Jekyll, Hyde, Oscar, Wildes, Picture, Dorian, Gray
Arbeit zitieren
Nadine Scherny (Autor:in), 2006, Das andere Gesicht der Viktorianik. R. L. Stevensons "Dr Jekyll and Mr Hyde" und Oscar Wildes "The Picture of Dorian Gray", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57539

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