Der Versuch einer ökosystemischen Reflexion der Etikettierung "Verhaltensstörung"


Hausarbeit, 2004

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung:

1. Einleitung
1.1. Die ökologische Perspektive

2. Entwicklung im systemisch-ökologischen Kontext
2.1. Das systemtheoretische Konzept

3. Das Mehrebenen-Modell von Bronfenbrenner
3.1.1. Das Mikrosystem
3.1.2. Das Mesosystem
3.1.3. Das Exosystem
3.1.4. Das Makrosystem

4. Der ökosystemische Ansatz als theoretische Standortbestimmung
4.1. Theoretische Grundlegung des Symbolischen Interaktionismus

5. Theorien zur Interaktion
5.1. Der „labeling approach“ als mögliche Perspektivenerweiterung
5.1.1. Der prozesshafte Charakter abweichenden Verhaltens
5.1.2. Determinanten der Etikettierung
5.1.3. Vermittlung der Lehrererwartungseffekte

6. Intervention
6.1. Das Beispiel der kooperativen Beratung

7. Schlussbemerkung

Literaturliste

1. Einleitung

In dieser Arbeit werden Verhaltensauffälligkeiten nicht als objektive Gegebenheiten diskutiert, sondern in Abhängigkeit von der Wahrnehmung und Bewertung des Verhaltens durch den jeweiligen Erzieher gesehen. Somit wird auffälliges Verhalten als ein Phänomen diskutiert werden, in dem subjektive Momente mit dem wahrgenommenen konkreten Verhalten verschmelzen, um eine neue Begriffsqualität zu bilden. Der Fokus wird also in erster Linie auf die Wahrnehmung von Verhaltensauffälligkeiten gerichtet, die sich schließlich durch ihre Subjektivität charakterisieren lässt. In Anlehnung an Havers (1978, S. 24) werden deshalb Verhaltensstörungen als Regelübertretungen bewertet, „die vom Handelnden selbst oder von jemandem, der sich ihm gegenüber in einer Machtposition befindet, als störend und unangemessen beurteilt wird.“ Havers führt weiter aus, dass sich diese Definition bewusst von denjenigen Begriffserklärungen unterscheidet, die Verhaltensstörungen als psychische Erkrankungen verstehen und deshalb auch von „Symptomen“ einer Verhaltensstörung sprechen. Entscheidend für die weitere Diskussion dieser Arbeit ist, dass diese Definition versucht, sowohl Verhaltensstörung als Abweichung von einer „Norm“ zu betrachten, als auch Definitionen miteinbezieht, die Störungen als das Ergebnis eines Etikettierungsprozesses thematisieren.

Die Schule, die eine wichtige Sozialisationsinstanz im Leben eines Kindes darstellt, ist unter dem Aspekt „abweichendes Verhalten“ vor allem der Ort, an dem, innerhalb der sozialen Beziehungen, der Schüler einer ständigen Bewertung durch Mitschüler und Lehrer unterliegt. Somit werden in der Schule neben den Persönlichkeitsmerkmalen des Schülers, die Normen und die Erwartungshaltungen von Lehrern, sowie Mitschülern bedeutsam. Alle diese verschiedenen Faktoren wirken über einen permanenten Beurteilungsprozess bei der Definition des Verhaltens jedes einzelnen Schülers mit. Das mag auch für die Definition des abweichenden Verhaltens gelten. In diesem Sinne ist abweichendes Verhalten nicht einfach ein Merkmal einer bestimmten Person, dass es nur festzustellen gilt. Es wird vielmehr erst durch die Urteile der anderen konstituiert und damit individuelle und soziale Wirklichkeit. Eine weitere, aber schon etwas ältere Definition von Becker (1963, S. 9) lautet dementsprechend: „Devianz ist im wesentlichen das Resultat sozialer Reaktionen. Im Mittelpunkt des Interesses steht nicht die Frage, wer abweicht, sondern wie die anderen den Abweichenden definieren. Abweichendes Verhalten liegt dann vor, wenn eine Verhaltensweise negativ sanktioniert wird: Abweichendes Verhalten ist jedes Verhalten, das die Leute so etikettieren.“ Für Cloerkes (2003, S. 22) steht nach einer Analyse der deutschen Schulstatistik immer noch fest, dass Behinderung als statische Größe sozial konstruiert wird und somit die behindertensoziologische Grundannahme bestätigt.

Keupp (1972, S. 200 ff.) hingegen, kritisiert am prozessualen Ansatz abweichenden Verhaltens, eine Vernachlässigung der makrosoziologischen Ebene, also der gesamtgesellschaftlichen Systembedingungen. In dieser Arbeit soll deshalb auf eine ökosystemische Perspektive verwiesen werden, mit der prozessuale Ansätze zur Erklärung „abweichenden Verhaltens“ in größere Kontexte oder Systeme gestellt werden können. Exemplarisch wird dies am ökologischen Modell von Bronfenbrenner verdeutlicht werden, wobei der Fokus auf die in der Tradition des „Symbolischen Interaktionismus“ stehenden Theorien liegt, mit denen u.a. die Lehrer-Schüler-Interaktionen thematisiert werden können. Nach Preuss-Lausitz (1981, S. 17 ff.), verweisen Auffälligkeiten, die in einem spezifischen Kontext auftreten, wie beispielsweise hyperaktives Verhalten in Unterricht, auf eine mögliche „gestörte“ Interaktion zwischen einem bestimmten Kind und einem bestimmten Setting. So wird nachfolgend noch erörtert werden, dass insbesondere der Umweltbereich Schule für sozial benachteiligte Schüler eine größere Störanfälligkeit aufweist.

Kaminski (1993, S. 47 ff.) weist darauf hin, dass Bronfenbrenner die ökologische Perspektive stärker mit traditionellen sozialwissenschaftlich-systemtheoretischen Konzepten verbindet. Hierin erweist sich das Konzept Bronfenbrenners als ein geeigneter Ansatz, mit der viele Aspekte der nachfolgend diskutierten Theorien, wie z.B. die Theorie des Symbolischen Interaktionismus, wenn auch eher in einem eklektizistischen Sinne, zu integriert versucht werden. Nachfolgend sollen nun in Anlehnung an Kaminski (1993, S. 53 ff.) einige allgemeine Charakteristika der ökologischen Perspektive skizziert werden, um anzudeuten, warum sie für die Bearbeitung des komplexen Phänomens „Verhaltensstörungen“ herangezogen wurde.

1.1. Die ökologische Perspektive

Kennzeichnend für eine ökologische Sichtweise ist u.a. das Taxonomierungs-Prinzip, wie es sich beispielsweise in der sogenannten „Hierarchisierung“ wiederfindet. Damit ist gemeint, dass ein soziales Geschehen in Subsettings verschiedener Ebenen hierarchisch untergliedert werden kann. Desweiteren muss die besondere Affinität zu Prozessmodellen betont werden, mit denen Kollektiv- oder Gruppen-Handeln in Alltagssituationen beschrieben und interpretiert werden kann. So könnte man mit Bezug auf Phänomene der Verhaltensstörung, primär in konkretem, aktuellem Geschehen ansetzten und analysieren, inwieweit „auffälliges Verhalten“ sich innerhalb konkreter Handlungssysteme bemerkbar macht. Kaminski betont auch die Tendenz zu „transaktionalistischen“ Auffassungen und Konzepten, also das Aufeinander-Bezogensein von Individuum und Umwelt. Für die „Verhaltensstörungen“ bedeutet dies, dass sogenannte Defizite stets in fundamentaler Korrespondenz zu den Anforderungen gesehen werden müssen. Ein weiteres Merkmal der ökologischen Perspektive und für diese Arbeit wesentlich, ist die „Kontextualisierung“, durch die fokussierte Phänomene nach dem jeweiligen Kontext und spezifischen Bedingungen hinterfragt werden. In Bezug auf Miller (1998, S. 28) lässt sich also vorläufig resümieren, dass der Begriff Ökologie ausschließlich über die Annahme definierbar ist, dass der Mensch nur mit Hilfe der Umwelt zu verstehen ist und umgekehrt. Mit dem Begriff „Umwelt“ kann aber ebenso die soziale Umwelt gemeint sein, die hier besondere Berücksichtigung finden wird.

2. Entwicklung im systemisch-ökologischen Kontext

Als Raster, um die Fülle von Merkmalen konkreter Umwelten zu strukturieren, soll in dieser Arbeit der theoretische Ansatz des amerikanischen Psychologen Urie Bronfenbrenner herangezogen werden. Das ökologische Modell Bronfenbrenners weist verschiedene Analyseebenen auf, durch die „Umwelt als ein Satz ineinander geschachtelter Strukturen“ (Bronfenbrenner 1981, S. 19) konzipiert wird. Diese Umwelten lassen sich voneinander abgrenzen, hierarchisch strukturieren, wobei die Umwelten niederer Ordnung zugleich Elemente der Umwelten höherer Ordnung sind. Mit diesem „integrativen Ansatz“ (Kleber 1987, S. 236) lassen sich, wie bereits erwähnt, einige Theorien, die für die Bearbeitung des Themas dieser Arbeit wesentlich sind und noch im einzelnen zu erörtern sein werden, integrieren. Das ökologische Paradigma der Sozialisationsforschung, welches die Entwicklung des Menschen in der aktuellen Umwelt untersucht, lässt sich nach Bronfenbrenner (1981, S. 37) wie folgt definieren: „Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befasst sich mit der fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seines unmittelbaren Lebensbereiches. Dieser Prozess wird fortlaufend von den Beziehungen dieser Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beeinflusst, in die sie eingebettet sind“. Mit dieser Definition soll betont werden, dass die Entwicklung des Kindes aus einer ganz individuellen Auseinandersetzung mit der Umwelt resultiert. Damit wird das Kind nicht mehr nur zu einer ausgelieferten Entität von Umwelteinwirkungen, sondern es ist auch aktiv am eigenen Entwicklungsprozess beteiligt. Bronfenbrenner (1996, S. 76) sieht in der Entwicklung einer Person, eine wachsende dynamische Einheit, die das Milieu, in dem sie lebt, fortschreitend in Besitz nimmt und umformt. Speck (2003, S. 271 ff.) formuliert, dass das Kind, in einem transitiven Verhältnis, sich auch selbst entwickelt, indem es selbst und autonom Einfluss auf seine Umwelt nimmt. Damit ist es aktiv und auf seine eigene Weise an seiner Entwicklung beteiligt. Aber auch die Umwelt übt Einfluss aus, so dass durch einen Prozess gegenseitiger Anpassung, die Interaktion zwischen Person und Umwelt, durch Reziprozität charakterisiert ist. In dem Modell Bronfenbrenners wird Umwelt als differenziertes System gesehen, an dem ein Kind unmittelbaren oder mittelbaren Anteil hat. Die direkt und indirekt wirkenden Systeme, die als Entwicklungskontexte des Kindes gesehen werden können, werden als Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosysteme bezeichnet. Nicht die isolierbaren, monokausalen Einwirkungen zwischen dem Kind und den einzelnen Systemen sind ausschlaggebend, sondern die Komplexität der Verbindungen und Interaktionen.

Kleber (1987, S. 234 ff.) greift das Konzept Bronfenbrenners, der „geschachtelten Handlungssysteme“ auf, um darauf hinzuweisen, dass eine Fokussierung des Schülers als „Verhaltensauffällig“, eine vorschnelle Etikettierung darstellt und das „bleibende Faktum“, vielmehr auffälliger Handlungssysteme, unberücksichtigt lässt. Verhaltensauffälligkeiten lassen sich somit nicht mehr der Person, sondern vielmehr den Handlungssystemen zuschreiben. Die „geschachtelten Handlungssysteme als Lernumwelt“, konzipieren Umwelt als ein Komplex von Handlungssystemen und stellen somit eine Kombination aus systemtheoretischen und phänomenologischen Ansätzen dar. Der systemische Ansatz, der weiter unten noch erörtert werden wird, diskutiert die Einbettung von Individuen in Systeme und Subsysteme, also in Makro-, Meso- und Mikrosysteme. Hierbei wird zirkulär, in größeren Zusammenhängen, in Strukturen und Wirkgefügen gedacht. Aus phänomenologischer Sicht stellt die jeweils subjektiv, erlebte Situation, die primär bedeutsame dar. Bronfenbrenner (1979, S. 23) spricht von der phänomenologischen Konzeption in Handlungssystemen. Aus dieser Perspektive werden Mikrosysteme als Handlungssysteme konzipiert, durch die nicht mehr nur Verhaltensauffälligkeiten als einzelne konkrete Phänomene, sowie äußerlich sichtbare Faktoren beschrieben werden können, sondern stets dem jeweiligen Handlungssystem zugeordnet werden müssen. Der jeweilige Lebensbereich, also der Ort, in dem Menschen direkte Interaktionen miteinander aufnehmen, stellt die Perspektive in dieser Arbeit dar, aus der Verhaltensauffälligkeiten diskutiert werden sollen. Bronfenbrenner (1981, S. 38 ff.) verwendet auch für den Begriff des „Lebensbereichs“, die Bezeichnung „Setting“, das sich dadurch auszeichnet, inwieweit sich die Teilnehmer in spezifischer Weise, in spezifischen Rollen und in spezifischen Zeitabschnitten betätigen. Diese Settings werden als Mikrosysteme analysiert, in denen Dyaden oder Triaden als Elemente von Settings behandelt werden. In dieser Arbeit wird insbesondere das schulische Setting, also die Lehrer/innen-Schüler/innen-Interaktion diskutiert werden, die als konstitutives Merkmal ein spezifisches Machtverhältnis ausweist. Nach Hurrelmann (1980, S 47ff.) liegt das besondere Kennzeichen der Interaktionsprozesse innerhalb der Schule, in der Tatsache, dass Lehrer die größere Chancen besitzen, die Qualität und den Ablauf der Interaktion zu steuern. In diesem Zusammenhang werden auch die Einflüsse aus anderen Lebensbereichen, die auf das jeweilige, zu analysierende Setting einwirken, diskutiert werden. Darüber hinaus soll auch stets auf das von Speck (1994, S. 26) betonte, komplex strukturierte Wechselwirkungsgefüge zwischen Kind und Umwelt verwiesen werden. Aus dieser Perspektive lassen sich die sogenannten Verhaltensstörungen eines Kindes, nur dann hinreichend erklären und verstehen, wenn sie in den ökologischen Zusammenhängen gesehen werden, in denen das Kind steht.

2.1. Das systemtheoretische Konzept

Gerhard Kaminski (1993, S. 44 ff.) weist darauf hin, dass i.d.R. auf den Psychologen Urie Bronfenbrenner verwiesen wird, wenn das Attribut „ökologisch“, oder das Präfix „öko“ in Literatur über Behinderung auftaucht. Ein Grund liegt sicherlich darin, dass Bronfenbrenner die ökologische Perspektive stark mit traditionellen sozialwissenschaftlichen, systemtheoretischen Konzepten verbindet, die weiter unten am Beispiel des interaktionistischen Ansatzes (labeling approach) diskutiert werden soll. Gegenüber ätiologischen Ansätzen, bei denen z.B. anlagedominante Interpretationsmuster vorherrschen und das Gesamtbild des Kindes in Abhängigkeit von seiner Schädigung gesehen wird, spielen sonstige Einflussgrößen, wie die Interaktionsverhältnisse innerhalb einer konkreten Lebenswelt, eine nur nachrangige Rolle. In diesem Sinne soll der labeling approach als notwendige Perspektivenerweiterung gewertet werden, wobei er aber nicht als alleiniger Zugriff auf das Phänomen „Abweichung“ verstanden werden kann. Otto Speck (1994, S. 38) betont bei der Entstehung von Erziehungsschwierigkeiten, die jeweilige Verflochtenheit verschiedener Umweltsysteme. So könnte man jeweils von einem ganzen und eigenen Komplex interaktional und zirkulär wirksamer Bedingungsfaktoren ausgehen.

Somit entspricht eine systemtheoretische Sicht den notwendigen Erfordernissen einer hochdifferenzierten und vernetzten Wirklichkeit. Es gibt verschiedene systemtheoretische Ansätze, die sich nicht als abgeschlossene, sondern als offene Systeme verstehen und ihren Vorteil u.a. in der Vielfalt der Anwendbarkeit, in der Möglichkeit der fachübergreifenden Gültigkeit und in der Kompatibilität mit anderen Theorien sehen. Die Verwertbarkeit des systemtheoretischen Ansatzes, liegt Speck (2003, S. 82 ff.) folgend, insbesondere in der Verwertbarkeit einer ganzheitlichen und vernetzten Sichtweise, mit ihrer zirkulären Kausalität, die sich von den linear-kausalen Theorien, wie dem medizinischem Paradigma entsprechend abgrenzt. Der, aus den eben genannten Gründen, noch vorzustellende theoretische Ansatz von Bronfenbrenner bietet eine solche Möglichkeit, soziale Wechselwirkungen aus systemtheoretischer Perspektive zu erfassen.

Myschker (1998, S. 100 ff.) führt aus, dass nach der Systemtheorie jedes Individuum in Systeme und Subsysteme, in Makro-, Meso- und Mikrosysteme eingebettet ist. Diese Systeme wirken auf das Individuum ein und im Sinne einer kreisförmigen und rückgekoppelten Interaktion, wirkt das Individuum wiederum auf die entsprechenden Systeme zurück. Wesentlich ist, dass sich alle Mitglieder eines Systems gegenseitig beeinflussen, somit trägt jeder eine Mitverantwortung, ohne einen eindeutig Schuldigen fokussieren zu können. Mit der Verflochtenheit einzelner Systeme verlieren einseitige Kausalitäten an Bedeutung. Sogenannte Verhaltensstörungen, die auf dem Wege monokausaler Folgerungen entstanden sind, haben damit ihre bisher dominante Funktion verloren. Zirkuläre Kausalität lässt sich vielmehr dadurch kennzeichnen (Winkler U., Vernooij M.A. 1998, S. 157 ff.), dass das Verhalten der einzelnen Mitglieder eines Systems, als Regelkreis verstanden wird, also alle Systemmitglieder stehen in wechselseitiger Verbindung miteinander. Den Autoren folgend, müssen „aus einem erweiterten Blickwinkel auch die anderen Mitglieder des betreffenden Systems wahrgenommen und einbezogen werden. Das kranke oder gestörte Systemmitglied wird dabei als definierter bzw. identifizierter Patient oder als Symptomträger verstanden.“ Aus systemtheoretischer Sicht, stellt jedes System, das Individuum, das Mikrosystem Schüler-Lehrer oder eine Schulklasse als soziale Gruppe, eine Einheit dar, also ein System eigener Organisiertheit und eigener Intentionalität, dass sich zwar von seiner spezifischen Umwelt abhebt, aber mit ihr kommuniziert und in Wechselwirkung steht. Weil also bei der Betrachtung von Verhaltensschwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen nicht nur das individuelle Verhalten, sondern die Systeme in den Blick genommen werden sollten, wird exemplarisch, als eine mögliche theoretische Perspektive, der, dem Symbolischen Interaktionismus verpflichteten, „labeling approach“ oder die „Etikettierungstheorie“ diskutiert werden.

3. Das Mehrebenen-Modell von Bronfenbrenner

Nach dem Konzept Bronfenbrenners (1996, S. 76 ff.) muss die Umwelt aus ökologischer Perspektive topologisch als eine ineinandergeschachtelte Anordnung konzentrischer, ineinandergebetteter Strukturen skizziert werden. Diese verschachtelten Strukturen unterscheiden sich, wie bereits dargestellt, in Mikro-, Meso-, Exo, Makro- und Chronosysteme.

3.1. Das Mikrosystem:

Bronfenbrenner (1981, S. 38) sieht im Mikrosystem „ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit dem ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt.“ Es werden also die Lebensbereiche verstanden, die sich durch Interaktionen des Individuums auszeichnen. Entscheidend dabei, sind die subjektiven Bedeutungen der beobachteten Aktivitäten, Rollen und Beziehungen. Bronfenbrenner bezieht sich auf die sogenannte „rezipierte“ Umwelt, die sich in Anlehnung an Dann et. al. (1978, S. 124 ff.) von der potentiellen Umwelt durch Sachverhalte unterscheidet, wie sie bei den Sozialisanden kognitiv repräsentiert sind und sich demzufolge in ihrem Erleben und Verhalten ausdrücken. Das Handlungssystem – Mikrosystem betont also, ähnlich wie der symbolische Interaktionismus, der weiter unten noch skizziert werden wird, die erlebte Situation, als die primär bedeutsame. Im Sinne des bekannten Theorems von Thomas/Thomas (1928): „If men define situations as real, they are real in their consequences“, weist Bronfenbrenner auf die bereits diskutierte phänomenologische Konzeption in Handlungssystemen hin.

Kraimer (1985, S. 22 ff.) folgend, weist das „Thomas-Theorem“ mit dem Begriff der Situation auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft hin. Durch die, in der frühkindlichen Sozialisationsphase übernommenen, vorgegebenen Situationsdefinitionen, kann die Lebensgeschichte als eine „Serie von Situationsdefinitionen“ beschrieben werden. Als „defining agencies“ gelten Familie, peer group und Gemeinde. Die drei Komponenten von Situationen, die Thomas (1965, S. 84 f.) unterscheidet, sind die objektiven Bedingungen, bestehende Einstellungen und die Definition der Situation. Die Bedeutung von Ereignissen hängt also nicht alleine von den objektiven Bedingungen ab. Im Verlauf einer Situationsdefinition wird das subjektiv wahrgenommene Handlungsfeld strukturiert und typisiert, um schließlich eine Handlungsausführung zu initiieren.

Das Mikrosystem ist also der Lebensbereich, in der ein Individuum mit seinen eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen, eine direkte Interaktion mit anderen eingehen kann. Bei sogenannten Verhaltensauffälligkeiten, gilt es in Anlehnung an Kleber (1987, S. 234 ff.), das Mikrosystem Schüler – Lehrer zu verbessern. Die Auffälligkeit resultiert also aus dem Handlungssystem selbst, somit ist auch eine Verbesserung in den Situationen der Handlungssystemen zu erzielen. Jedoch können individuell beobachtbare Prozesse nicht auf die Mikrosystembetrachtung beschränkt bleiben, da jedes Individuum gleichzeitig Mitglied in mehreren Mikro- und Mesosystemen ist.

3.2. Das Mesosystem:

Mit der Mesoebene wird ein größerer Kontext von Sozialisation ins Blickfeld gerückt, denn es umfasst die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen, an denen ein Individuum aktiv beteiligt ist. Ein Mesosystem kann auch als ein System von Mikrosystemen verstanden werden. Speck (2003, S. 271 ff.) führt aus, dass ein pädagogisch wichtiger Systemverbund, wie der von Familie und Schule, sich dann als förderlich für das Kind darstellen kann, wenn die unterstützenden Verbindungen, auf gegenseitigem Vertrauen, positiver Orientierung und Zielübereinstimmung in den Lebensbereichen beruhen. Desweiteren betont er auch, dass unterstützende Verbindungen sich zwar als förderlich erweisen, aber im negativen Falle, wenn entsprechende Verbindungen nicht zustandekommen oder als unerträglich erlebt werden, auch zum Schaden der Entwicklung des Kindes gereichen können.

3.3. Das Exosystem:

Lebensbereiche, an denen Individuen nicht selbst beteiligt sind, die aber indirekt Einfluss auf ihren Lebensbereich nehmen, werden von Bronfenbrenner (1996, S. 76 ff.) als Exosysteme bezeichnet. Als Beispiele für das Exosystem eines kleinen Kindes nennt Bronfenbrenner den Bekanntenkreis der Eltern, die Schulklassen älterer Geschwister und den Arbeitsplatz der Eltern. Geschehnisse des Arbeitsplatzes der Eltern übertragen sich auf die gesamte Familie, so können beispielsweise berufliche Belastungen oder Erfolge, alltäglicher Ärger, oder außergewöhnliche Vorkommnisse sich in der Stimmung der Eltern niederschlagen und das Klima im häuslichen Bereich beeinflussen. Die schichtspezifische Sozialisationsforschung hat sich z.B. ausführlich damit beschäftigt, inwieweit sich die berufliche Stellung oder der Status, sowie bestimmte Arbeitserfahrungen im Erziehungshandeln von Eltern niederschlagen. So gibt sie einen Erklärungsansatz dafür, welche Chancen oder aber Defizite Kinder in Abhängigkeit einer bestimmten sozialen Schicht haben. Im Kontext des Exosystems lässt sich z.B. verdeutlichen, dass Behinderung nicht einfach nur als ein Merkmal, oder eine Eigenschaft des Menschen verstanden wird, sondern ebenso in Abhängigkeit von äußeren Systemen prozessual zugeschrieben werden kann und von außerindividualen Gegebenheiten abhängig ist. Solche außerindividualen Gegebenheiten können einen indirekten Einfluss auf die Zuschreibung des Etiketts „Verhaltensstörung“ haben.

Havers (1978, S. 106 ff.) weist zum Beispiel auf die positive Erwartungshaltung von Lehrern hin, die sie gegenüber Schülern aus der Ober- und Mittelschicht haben, aber von Kindern aus der Unterschicht eher erziehungsschwieriges Verhalten erwarten. Diese Erwartungshaltung führt dazu, dass Regelverstöße bei Unterschichtkindern früher bemerkt und als „Erziehungsschwierigkeiten“ etikettiert werden. Diese Annahmen der Erwartungsbestätigungen werden noch im Rahmen der Diskussion zur „self-fulfilling-prophecy“ dargestellt.

In diesem Zusammenhang weist aber auch Cloerkes (2001, S. 63 ff.) auf einen, für diese Arbeit, wichtigen Aspekt hin, nämlich auf den deutlich, empirisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen Behinderungen und sozio-ökonomischen Bedingungen. Er macht in einer prägnanten Formulierung deutlich, dass „behindert vor allem der wird, der arm ist, und wer behindert ist, wird arm. Behinderung und Armut sind eng miteinander verflochten.“

Für Thimm (1977, S. 62 ff.) gilt der Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischen Bedingungen und Behinderungen, der bei sogenannten Lernbehinderungen besonders nachweisbar ist, prinzipiell für alle Formen von Behinderung. Nachfolgend sollen einige soziale Merkmale skizziert werden, die typisch für lernbehinderte Schüler sind:

1. Ungefähr 90% der Sonderschüler stammen aus den unteren Sozialschichten, wobei nur rund 10% als „lernbehindert“ eingestuft werden.
2. Die Familien weisen eher eine hohe Kinderzahl auf, die Wohnverhältnisse sind beengt.
3. Kennzeichen für die familiäre Sozialisation sind Normenrigidität, die sich durch starre Regeln ohne Begründung auszeichnet, mangelnde Zukunftsorientierung und restringierten statt elaborierten Sprachcode.

Diese Merkmale lassen sich, z.B. in der Wahrnehmung des Lehrers, mit der Zuschreibung stigmatisierender Persönlichkeitsmerkmale zu einem typischen Bild vom „Lernbehinderten“ zusammentragen.

Auch Brusten und Hurrelmann (1974, S. 61 ff.) konnten eine schichtspezifische Verknüpfung der Typisierungsprozesse nachweisen, die bei den Lehrern deutlicher ausgeprägt war, als bei den Kindern. Die Autoren kamen zu der Feststellung, dass Typisierungsprozesse eine besondere Intensität erreichten, wenn die subjektiven Einschätzungen der sozialen Herkunft durch die Lehrer zugrunde gelegt werden. Daraus folgt, dass die, im gesellschaftlichen und schulischen Sozialsystem, unterprivilegierten Schülergruppen, schneller einem sozialen Stigmatisierungsprozess ausgesetzt sind, bei ihnen also normabweichendes Verhalten eher erwartet wird, als von Schülern aus oberen sozialen Schichten. Brusten und Hurrelmann argumentieren, dass „die Einschätzung der sozialen Herkunft, immer zugleich auch eine Einschätzung der Annäherung und Anpassung an die gesellschaftlich vorherrschenden mittelschichtspezifischen Werte und Verhaltensstandards ist.“ Die Untersuchungsergebnisse zeigen auch, inwieweit auch Schüler positive und negative Bewertungen unterschiedlicher Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale verschiedene Elternhäuser übernehmen. Die Schüler orientieren sich ebenso an den Maßstäben einer Schulkultur, in der Standards und Verhaltensweisen aus den Mittel- und Oberschichten eher positiv sanktioniert werden. Somit können die in bezug auf Aussehens- und Verhaltensmerkmale wahrgenommenen Schülerunterschiede, verhaltensrelevante Vertrautheits- oder Fremdheitserlebnisse bei den Schülern untereinander auslösen. Rolff (1997, S. 229 ff.) resümiert, dass der Sozialisationsprozess in der Schule schichtspezifische Unterschiede weder aufhebt noch angleicht, sondern eher vergrößert. Er sieht in der Schule ein System, in dem Statusvorteile de facto prämiert und Statusnachteile konserviert werden, die also „bevorzugt werden, die sowieso schon im Vorteil sind, und die anderen benachteiligt, die schon immer im Nachteil waren.“

[...]

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Der Versuch einer ökosystemischen Reflexion der Etikettierung "Verhaltensstörung"
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Bildungs- und Medienwissenschaften)
Veranstaltung
Seminar: Vom Sinn der Störung
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
31
Katalognummer
V57532
ISBN (eBook)
9783638519786
ISBN (Buch)
9783638665414
Dateigröße
575 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Versuch, Reflexion, Etikettierung, Verhaltensstörung, Seminar, Sinn, Störung
Arbeit zitieren
Magister Artium Rene Limberger (Autor:in), 2004, Der Versuch einer ökosystemischen Reflexion der Etikettierung "Verhaltensstörung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57532

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