Kindheit ohne Perspektive oder alles eine Frage der 'richtigen' Betreuung? Sozialpädagogische Arbeit mit Waisenkindern vor einem bindungstheoretischen Hintergrund


Diplomarbeit, 2006

105 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Summary

Vorwort

Abbildungsverzeichnis

1. Einführung

2. Wissenschaftlicher Bezug

3. Definitionen
3.1 Waisen
3.2 Soziale Arbeit

4. Grundzüge der Bindungstheorie
4.1 Theoretische Verortung
4.2 Entwicklung der Bindungstheorie
4.3 Der Bindungsbegriff
4.4 Die Erweiterung des Bindungsbegriffs
4.5 Bindungsverhalten
4.6 Intensität des Bindungsverhaltens
4.7 Feinfühligkeit
4.8 Bindungsmuster
4.9 Optimaler Bindungsverlauf

5. Verlust

6. Bindungsstörungen
6.1 Definition
6.1.1 Gehemmte Formen
6.1.2 Ungehemmte Formen
6.2 Diagnostik
6.3 Zuordnung
6.4 Physische Beeinträchtigungen
6.5 Vergänglichkeit

7. Trauer
7.1 Kindliche Trauer
7.2 Trauerphasen
7.3 Trauerverlauf
7.4 Variablen des Trauerverlaufs
7.4.1 Identität und Rolle der verlorenen Person
7.4.2 Alter des Hinterbliebenen Kindes
7.4.3 Geschlecht des Kindes
7.4.4 Ursachen und Umstände des Verlustes
7.4.5 Soziale und psychologische Umstände
7.5 Positiv begünstigende Faktoren

8. Sozialpädagogische Arbeit
8.1 Methoden
8.2 Vorgehenssystematik

9. SOS Kinderdorf Ammersee
9.1 Gründungsidee und Selbstverständnis
9.2 Leitbild

10.Sozialpädagogische Arbeit mit Waisenkindern
10.1 Zielgruppe
10.2 Aufnahmeprozess
10.3 Anamnese
10.4 Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik
10.5 Störungen
10.6 Kinderdorffamilie

11. Kinderdorfmutter
11.1 Ausbildung
11.2 Nachsorge
11.3 Aufgabenbereich
11.4 Privatleben
11.5 Team

12. Ziele

13. Methoden
13.1 Kinderdorffamilie
13.2 Herkunftsfamilie
13.3 Heilpädagogische Angebote
13.4 Psychologischer Fachdienst
13.5 Einzel- und Gruppenarbeit

14. Resümee

15. Ausblick

Literaturverzeichnis

Summary

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bindungstheorie, den Auswirkungen des Verlustes der primären Bezugsperson und der daraus resultierenden Frage, in wie weit dieser Verlust für die weitere Lebensperspektive des hinterbliebenen Kindes ausschlaggebend ist. Hierbei geht es vor allem um die Klärung, ob der anschließende Lebensweg des Kindes durch den Verlust von Anfang an negativ beeinflusst ist, oder ob eine adäquate Betreuung die entstandenen Bindungsdefizite auffangen und positiv beeinflussen kann.

Zunächst wird ein Überblick über die historische Entstehung der Bindungstheorie und ihrer Grundbegrifflichkeiten gegeben. Anschließend werden der Verlust der Bindungsperson und die daraus resultierenden Störungen in Form von Definition und Diagnostik eingehender betrachtet. Der unumgängliche Aspekt der Trauer wird anhand der Trauerphasen und die den Trauerverlauf beeinflussenden Faktoren verdeutlicht.

Anhand eines Experteninterviews und Einblicken in die Konzeption einer bekannten Einrichtung, wird die sozialarbeiterische Praxis im Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Fremdunterbringung veranschaulicht.

Die daraus neu gewonnenen Kenntnisse werden zum einen in Bezug zu der Theorie gesetzt, und zum anderen sollen notwendige Schlüsse für die Betreuung und die sozialarbeiterische Arbeit mit bindungsgestörten Kindern gezogen werden.

Vorwort

Zunächst möchte ich meinem Prof. Franz Ruppert für die Unterstützung bei der gemeinsamen Aufarbeitung meines Diplomarbeitstraumas danken. Seine Ruhe, Zuversicht und hilfreiche Beratung bei der Entstehung dieser Arbeit machten es mir möglich, erneut Freude am Schreiben zu finden.

Meinen Stiefvater Peter möchte ich aus ganzem Herzen danken, dass er zu jeder Tages und Nachtzeit ein offenes Ohr für meine Fragen und Probleme hatte und nie scheute, mir mit Rat und Tat beizustehen, egal welches Anliegen gerade meine Seele plagte.

Herrn Rublack sei mein riesiges Dankeschön gewiss, für die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft und die stundenlange Geduld bei der Beantwortung all meiner Fragen, sowie für seine Hilfsmittel wie Fotos und die Konzeption.

Mein Dank gilt in diesem Zuge ebenfalls dem Sozialpädagogischen Institut des SOS- Kinderdorfvereins, die mir sehr ausführliche Literatur zukommen ließen und stets bereit waren, meine Fragen zu beantworten.

Mein besonderer Dank gilt jedoch meiner Frau Evita und meinen Kindern Louis, Emilia und Jascha, die phasenweise sehr wenig von mir und meiner Zeit hatten und hin und wieder auch meine gestressten Launen spüren mussten. Ich hoffe, dass dies keine ernsthaften Bindungsstörungen zur Folge hat und danke ihnen für ihr Verständnis, Einsicht und ihre Unterstützung.

Widmen möchte ich diese Arbeit in Anbetracht der Thematik meinen geliebten Eltern, die es trotz mancher Widrigkeiten, durch Liebe und Aufmerksamkeit geschafft haben, einen zufriedenen und glücklichen Menschen aus mir zu machen.

In meiner Arbeit gebe ich das Geschlecht ausschließlich in der männlichen Form wieder. Sollte nachfolgend oftmals lediglich von Waisen, Patienten, Klienten oder Mitarbeitern die Rede sein, bezieht sich dies selbstverständlich auch stets auf das weibliche Geschlecht.

Der Leser mag den Eindruck bekommen, dass ich die wörtlichen Zitate zu Anfang meiner Arbeit überdurchschnittlich lang halte. Dies rührt daher, dass sie mir an dieser Stelle äußerst wichtig erscheinen.

Zwar versuche ich Zitate ausschließlich zur Untermauerung meiner eigenen Formulierungen zu verwenden, aber oftmals blickt meines Erachtens der Geist des Gelehrten bei wörtlichen Zitaten auch zwischen den Zeilen durch und manches kann schlichtweg einfach nicht treffender ausgedrückt werden.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Gründe für die Fremdplatzierung in EU Mitgliedstaaten

Abbildung 2: Gründe für die Fremdplatzierung in anderen untersuchten Ländern

Abbildung 3: Kaiser Friedrich II.

Abbildung 4: Bedürfnispyramide nach Maslow

Abbildung 5: Reaktionen der Studienkinder von 1972

Abbildung 6: Ansichtskarte SOS Kinderdorf Dießen ca.1965

Abbildung 7: Luftaufnahme SOS Kinderdorf Dießen 2003

1. Einführung

Bindungen bestimmen den Lauf der Welt.

Seien es die Bindungskräfte der Schwerkraft die unser Universum in Form bringen oder die chemischen und elektrischen Bindungskräfte im molekularen, beziehungsweise atomaren Bereich.

In der vorliegenden Betrachtung soll es um die nicht minder starken Bindungskräfte im zwischenmenschlichen Bereich gehen und hier insbesondere um die Bindung zwischen Eltern und Kind.

Während meiner Arbeit im sozialen Bereich und im Rahmen meines Studiums bin ich oft mit der damit verbundenen Problematik konfrontiert worden.

Sogar als dreifacher Vater, hatte ich den Bund zwischen Eltern und Kind weder bewusst hinterfragt, noch an seiner ewigen Existenz und Selbstverständlichkeit gezweifelt. Ich hatte das Vorhandensein der Bindung als eine Art enge Beziehung gesehen und wurde zudem, seit meiner eigenen Geburt sowohl in der Familie, der Schule und meiner Umwelt mit christlichen Werten und Normen konfrontiert, die diese vermeintliche Selbstverständlichkeit niemals in Frage stellten.

Es schien selbstverständlich, dass Kinder ihre Eltern von Anfang an lieben und sie sich, egal was komme, an sie gebunden fühlen.

Was sollte schon die Macht haben diese starken Bande zu zerstören oder zu beeinträchtigen und warum dann die Diskussion über Beziehung bzw. Bindung?

Kurze Zeit später war es vorbei mit meiner vermeintlichen Einsicht, denn in dem Buch „Verwirrte Seelen“ von Prof. Ruppert erfuhr ich erstmals, welche massiven Schäden die liebes- und schutzbedürftige Seele eines kleinen Menschen erleiden kann, wenn sein Verlangen nach Geborgenheit, Annahme, Liebe und Schutz nicht ausreichend befriedigt wird und zu welch außerordentlichen Störungen es führen kann, wenn dieser kleine Suchende, das unbedingt Erforderliche nicht finden kann.

Sogar von Traumata war die Rede.

Diese These machte mich sehr neugierig und ich beschloss mich eingehender mit der Thematik zu befassen.

Also nicht das Kind sollte die Eltern ehren und lieben; das tat es sowieso. Viel wichtiger und anscheinend nicht halb so selbstverständlich wie zuerst einmal angenommen, war es, dass die Eltern ihren Kindern feinfühlig, emphatisch und liebevoll begegnen sollten.

„ Selbst die Liebe der Eltern zu ihren Kindern ist nicht selbstverständlich da. Sie ist etwas Besonderes “ (Ruppert 2005, S.155)

Diese Feststellung überraschte mich, vor allem da ich selbst mittlerweile drei Kinder habe. Ist es nicht „normal“, dass Eltern alles Erdenkliche und Mögliche für das Wohl ihrer Kinder tun und sie von Natur aus voll Zärtlichkeit, Liebe und Verständnis für das Schutzbedürftige sind?

Abgesehen von einigen „schwarzen Schafen“ gibt doch wohl jeder Elternteil ohnehin sein „Bestmögliches“.

Sollte dies trotz größter Anstrengung bei manchen Menschen womöglich einfach nicht ausreichen um das Kind zu einem mündigen Menschen zu erziehen?

Weil mich diese offenbar wissenschaftlich untermauerte These irritierte, mich zugleich aber ungemein interessierte, begann ich mich mit diesem Thema näher auseinander zusetzen.

Mit dem Literaturstudium einiger Standardwerke begann ich zunächst die ersten

Kontaktversuche unseres Babys als Bindungsverhalten zu begreifen.

Später versuchte ich auch Familienauseinandersetzungen, Streitigkeiten und Probleme im Berufs-, Bekannten- und Freundeskreis aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dabei sah ich viele Thesen der Bindungs- und Traumatheorie bestätigt und erinnerte mich in diesem Zuge an eine schlimme Geschichte vor einigen Jahren.

Eine sehr gute Freundin war vor 5 Jahren mit ihrem Ehemann und ihrem damals 10 Monate alten, gemeinsamen Sohn Luka, bei hohem Tempo mit einem VW Golf, ohne erkennbaren Grund, frontal gegen einen Alleebaum gefahren.

Beide Elternteile waren auf der Stelle tot.

Der kleine Luka lag nach Aussagen der Feuerwehr bereits einige Stunden weinend auf dem Rücksitz, unverletzt und fest in seinem Babysitz angeschnallt.

Was würde nun aus ihm werden?

Dieser kleine, hilfsbedürftige und zerbrechliche Mensch sucht nach jemandem der ihn liebt, wärmt, festhält, speist und tränkt, aber keiner seiner Eltern ist da um diese Aufgaben zu erfüllen. Was sagt die Bindungstheorie dazu?

„ Seit John Bowlby gilt die Bindung, die ein Kind im Laufe des ersten Lebensjahres zu seiner Mutter aufbaut, als wesentlich für die frühkindliche Entwicklung. Ein spezifisches Bindungssystem entsteht, das in seinen Grundmustern während des ganzen Lebens relativ konstant bleibt. Auch wenn Bowlby zeigt, dass Verlust und Trennung im frühen Lebensalter zu schweren Traumatisierungen führen, hat die Psychotherapie bisher wenig von diesen Erkenntnissen profitiert “ (Brisch, 2001)

Es ist für jemanden der dies nie erlebt hat sicherlich kaum vorstellbar, wie groß das Leid und die Qualen eines solchen Kindes wirklich sein müssen.

Es ist erwiesen, dass einige Elternteile ihrem Auftrag, hinsichtlich der Entwicklung eines adäquaten Einfühlungsvermögens für ihr Kind, nicht nachkommen können. Aber was geschieht bindungstheoretisch mit einem Kind, welches keine Eltern mehr hat, oder eben solche, die nicht annähernd in der Lage sind, sich um das Kind zu kümmern?

Was würde also nun mit dem kleinen Jungen passieren?

Würde Luka tatsächlich zunächst in ein Kinderheim kommen?

Danach den ein- oder anderen Pflegeeltern als kurzzeitiger Kindersatz dienen, bis er aufgrund einiger Querelen vielleicht als verhaltensauffällig oder verhaltensoriginell diagnostiziert wird und ein Bleiben in der jeweiligen Gastfamilie wegen zu starker nervlicher Belastung nicht mehr tragbar wäre?

Immer wieder würde er einen ständigen Wechsel von Bezugspersonen erleben. Eine Enttäuschung würde sich an die nächste reihen, bis er irgendwann keinem Menschen mehr trauen könnte.

Vielleicht würde er sich auch stets verlassen und verstoßen fühlen und sich im Zuge dessen sogar mehrere Aufenthalte in kinderpsychiatrischen Einrichtungen einreihen.

Damit verbundene wären sinnlose Medikationen und letztendlich Delinquenz, Suchtproblematik, Drogen und eine manifestierte Persönlichkeitsstörung vorprogrammiert und als Endstation, dieser traurigen Kindheitskarriere, ein langjähriger Aufenthalt in einer Strafvollzugsanstalt vorstellbar.

Muss er wirklich diesen „klassischen“ Weg gehen oder welche Faktoren gilt es zu beeinflussen, damit dies vermieden werden kann. Darf man wirklich davon ausgehen, dass Kinder, die ohne leibliche Eltern aufwachsen, als „bindungslos“, bzw. „desorganisiert“ gelten und deshalb aufgrund Ihrer vermeintlichen Bindungslosigkeit zu Ihren „Wurzeln“ von Anfang an keine Chance oder Perspektive auf eine erfüllte und zufrieden stellende Zukunft in unserer Gesellschaft haben?

Meinen persönlichen Hintergrund bzw. meine Motivation mich explizit mit dieser Thematik auseinander zusetzen, sehe ich in:

- den Erfahrungen meiner eigenen Fremdunterbringung in einem Internat;
- vielen Freunden die adoptiert worden sind;
- den seit frühester Kindheit oftmals äußerst angespannten eigenen Familiensituationen;
- dem frühen Tod meines Vaters und der damit verbundenen Trauer; Familiendynamik und Verdrängung;
- meinen eigenen Bindungserfahrungen als mehrfacher Vater;
- dem oben beschriebenen Unfall unserer Freundin und dem Leid ihres Sohnes,
- meiner Neugier, was die Theorie zu diesem Fall sagt und wie wiederum die Erfahrungswerte sind.

Aus dieser Motivation heraus, werde ich versuchen, all diese interessanten Fragen im Laufe dieser Arbeit zu klären.

2. Wissenschaftlicher Bezug

„ Bowlby sagt, in der Psychologie sei kaum etwas wichtiger, als zuverlässige Erkenntnisse darüber, wie aus unseren Kindern sichere Menschen werden, die ihre psychischen Kräfte, ohne Angst und Unzufriedenheit, kritisch, im wohlwollenden Einklang mit geschätzten Mitmenschen einsetzen …“ (Grossmann/Grossmann 2003, S.313)

Tag für Tag werden wir Sozialarbeiter mit dieser Problematik konfrontiert. Nicht nur als Mitarbeiter eines Waisenhauses bzw. Kinderheimes, die sich mit der akuten Trauerbewältigung eines eben verwaisten Kindes beschäftigen, sondern auch mit Kindern aus Multiproblemfamilien oder Kindern überforderter Eltern, den so genannten Sozialwaisen.

Wir Sozialarbeiter haben mit vielen Menschen zu tun, die ihre „psychischen Kräfte sicherlich nicht immer ohne Angst und Unzufriedenheit, kritisch, im wohlwollenden Einklang mit geschätzten Mitmenschen einsetzen“.

Das kann in der Psychiatrie, im Kinderheim, der Heilpädagogischen Tagesstätte, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Clearingstellen oder sonstigen Einrichtungen wie z.B. einer Strafvollzugsanstalt sein.

Was gilt es nun für einen Sozialarbeiter bei der Arbeit mit Waisenkindern besonders zu beachten und was bedeutet „richtige Betreuung“ dieser Klientel?

Kann Kenntnis über die Bindungstheorie einem Sozialarbeiter helfen, einen anderen Zugang zu der individuellen Problematik zu erhalten und seine Klientel besser zu verstehen, wenn z.B. „ungewohnt unsozial, aggressiv oder verhaltensauffällig“ agiert wird? Geben uns diese Theorien eventuell sogar Möglichkeiten zum Erreichen von eigenen positiven Eigenschaften, wie Verständnis und Einsicht für das oft befremdlich wirkende Handeln unserer Schützlinge an die Hand?

Um zu erforschen und zu erklären, ob Waisenkinder oder Kinder ohne Bindung nun eine Perspektive haben oder nicht und von welchen Faktoren eine positive oder negative Entwicklung eventuell abhängt, erscheint es mir äußerst wichtig den Theorieteil dieser

Arbeit etwas umfassender zu halten. Es ist wichtig, die Bedeutung der Bindung richtig einzuschätzen, um zu verstehen, wie traumatisch ein Verlust der Eltern wirklich ist.

Der Leitfaden der durch meine Arbeit führen soll ist folgender:

Nach einer Definition des Klientel, der Profession „Soziale Arbeit“ und einem kurzen entwicklungsgeschichtlichen Exkurs der Bindungstheorie, werde ich anhand von Grundzügen der Bindungstheorie aufzeigen, wie ein Kind an seine Mutter bzw. primäre Bindungsperson überhaupt gebunden wird, was darunter zu verstehen ist und welche Faktoren hierfür ausschlaggebend sind.

Anschließend möchte ich beleuchten, welche Qualitäten von Bindungsmustern sich zwischen Mutter und Kind bilden können, wie intensiv diese sind und wie ein optimaler Bindungsverlauf aussehen könnte.

Hinterher werde ich zeigen, was im Einzelnen passiert, wenn das Kind seine Eltern verliert und zum Waisen wird. Um den bindungstheoretischen Hintergrund meiner Arbeit dabei abzurunden, werde ich anschließend noch auf etwaige Bindungsstörungen eingehen, welche einem Verlust folgen können. Diese Form der Persönlichkeitsstörung stellt meines Erachtens den „worst case“, den denkbar ungünstigsten, leider jedoch meist unumgänglichen Verlauf eines Verlustes der Eltern dar.

Verlust führt zu Trauer und hierbei soll sich der Fokus besonders auf eine erfolgreiche Trauerbewältigung richten und welche veränderlichen Größen hierzu erforderlich bzw. hinderlich sind. Genau an diesem Punkt beginnt die Beantwortung der eigentlichen Fragestellung ob ein Waisenkind von vorhinein keine Perspektive hat oder ob es eine Frage der „richtigen“ Betreuung ist.

Aufgabe dieser Arbeit wird es nun sein, sozialarbeiterisches Handeln im Kontext zur Bindungstheorie zu sehen, diese wiederum in Verbindung mit Waisenkindern zu bringen, und zu überlegen, worauf bei dem Umgang mit dieser speziellen Klientel besonders geachtet werden sollte. In den letzten Jahrzehnten entstanden viele neue Methoden und Handlungskonzepte als neues Handwerkszeug für Sozialarbeiter, aber die beste Möglichkeit seinen individuellen Erklärungshorizont sozialer Probleme zu erweitern, wird wohl weiterhin die selbstständige Auseinandersetzung mit neuen bzw. unbekannten Theorien sein.

Eine Theorie, die meines Erachtens einen viel zu geringen Stellenwert bei der Diagnose sozialer Probleme besitzt, ist die Bindungstheorie nach John Bowlby. Diese Theorie wird an geeigneten Stellen dieser Arbeit durch die weiterführenden Gedanken von Prof. Dr. Franz Ruppert, Dr. Karl-Heinz Brisch und anderer Bindungsforscher ergänzt werden.

3. Definitionen

Bevor es möglich ist sich in dieser Arbeit mit der Thematik: „Sozialpädagogische Arbeit mit Waisenkindern vor einem bindungstheoretischen Hintergrund“ auseinander zusetzen, erscheint es mir vorrangig, einige Begriffsbestimmungen vorzunehmen.

3.1 Waisen

Anfänglich schien es vernünftig, ausschließlich von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Waise“ auszugehen, das ein Kind bezeichnet, wenn ein oder beide Elternteile gestorben sind. Ist ein Elternteil gestorben, wird es auch Halbwaise genannt, sind beide Elternteile gestorben Vollwaise. (vgl. Wikipedia) Im weiteren Verlauf dieser Arbeit zeigte sich jedoch, dass mit der Problematik nicht nur Waisenkinder im ursprünglichen Sinne gemeint sein können.

Es galt herauszufinden, wie Kinder Trauerprozesse bewältigen und es ihnen ohne feste primäre, familiäre Bindungsperson im weiteren Lebensverlauf erging. Dazu muss man nicht unbedingt Vollwaise sein.

Es genügt Eltern zu haben, die ihren Erziehungspflichten und Aufgaben aus unzähligen Gründen nicht angemessen bzw. gar nicht nachkommen wollen oder können - so genannte Sozialwaisen. Von Sozialwaisen spricht man, wenn zwar die leiblichen Eltern noch am Leben sind, die Eltern jedoch aufgrund (psycho-)sozialer Umstände die Erziehung des Kindes nicht wahrnehmen. (vgl.Wikipedia) Bestätigt wurde meine Vermutung, dass es keinen Unterschied macht, ob es sich um ein tatsächliches Waisenkind handelt oder „nur“ um ein Sozialwaisenkind, als ich auf einen Artikel von Robertson stieß.

Darin schrieb er, dass es am Leid des Kleinkindes gemessen, keinen Unterschied macht ob die Mutter tatsächlich tot, oder lediglich abwesend ist.

„ Wenn ein Kind in diesem Alter, wo es so besitzergreifend und leidenschaftlich an seine Mutter gebunden ist, ihre Pflege entbehren muss, ist es in der Tat so, als ob seine ganze Welt vernichtet wäre. Sein intensives Bedürfnis nach ihr ist unbefriedigt, und seine Frustration und seine Sehnsucht können es vor Kummer wahnsinnig machen. Es bedarf einer regen Phantasie, sich das Ausmaßdieser Qual vorzustellen. Das Kind ist ebensoüberwältigt wie ein Erwachsener, dem der Tod einen geliebten Menschen geraubt hat. Für das zweijährige Kind mit seinem Mangel an Verständnis und seiner vollkommenen Unfähigkeit,

Frustrationen zu ertragen, ist es wirklich so, als ob seine Mutter gestorben sei. Es hat kein Bewusstsein von Tod, sondern nur von Abwesenheit; und wenn die einzige Person, die sein dringendes Bedürfnis befriedigen kann, abwesend ist, könnte sie auch ebenso gut tot sein , soüberwältigend ist sein Gefühl von Verlust. “ (Bowlby 1983, S.21)

Ein weiteres Indiz, dass wir auch in Deutschland größtenteils mit Sozialwaisen arbeiten, zeigt folgendes Diagramm.

Abbildung 1: Gründe für die Fremdplatzierung in EU Mitgliedstaaten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb.1 & Abb.2 wurden bei der 3. Interdisziplinären Fachtagung des Deutschen

Kinderschutzbundes im April 2005 in Würzburg mit dem Moto: „ Nicht die Kinder sind anders, sondern die Kindheiten “ von Dr. Szilivia Gyurko / Nationales Institut für Kriminologie / Ungarn beim Vortragüber „ Kinder inübergangsgesellschaften “ verwendet.)

Nach diesem Diagramm liegt der Prozentsatz der tatsächlichen Waisenkinder, also der Kinder die wirklich keinerlei Familie haben, in der EU, bei unter 1 %. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, denn noch nie erfreute sich Europa einer so lang anhaltenden Friedenszeit wie in den letzten 60 Jahren.

Kinder die aus den Gründen „ausgesetzt, Armut, soziale Gründe“ und „Missbrauch, Vernachlässigung“ aufgeführt sind erscheinen, nach der oben genannten Definition, als Sozialwaisen zusammenfassbar und stellen mit mind. 54% die Mehrheit.

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich keine weiteren Differenzierungen der Waisenkinder vornehmen, sondern von Waisen im Allgemeinen ausgehen, die ihre primären, familiären Bindungspersonen zumindest vorübergehend, wenn nicht gar dauerhaft verloren haben und in Fremdunterbringung leben.

Abbildung 2: Gründe für die Fremdplatzierung in anderen untersuchten Ländern

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle siehe Abbildung 1)

3.2 Soziale Arbeit

Im Wesentlichen kann man Soziale Arbeit als Disziplin verstehen, deren primäres Ziel eine Erforschung der Zusammenhänge von menschlicher Problementstehung und Problemlösung ist. Soziale Arbeit als Profession arbeitet also an der Lösung und der möglichen Prävention dieser Probleme.

„ Soziale Arbeit dient alsüberbegriff für Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Soziale Arbeit versteht sich als Profession, Disziplin, Handlungswissenschaft, Lehrfeld und Forschungsfeld. Ziel der Sozialen Arbeit ist die Reduktion oder die Verhinderung sozialer Probleme. Sie ist damit eine Form der Sozialpolitik, die sich auf eine eigenständige Fachlichkeit beruft. Sozialarbeitswissenschaft, wie die Theorie Sozialer Arbeit auch genannt wird, ist eine Wissenschaft mit dem Gegenstand der Theorie, sozialen Praxis und der Methode der Interaktion. Sie vereinigt Erkenntnisse aus ihren Bezugswissenschaften, insbesondere der Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Philosophie, Theologie, Biologie, Kulturwissenschaften und derökonomie und erhält dadurch eine eigene transdisziplinäre Perspektive auf ihren Gegenstandsbereich. In gesellschaftlicher Perspektive ist die Soziale Arbeit eine Institution neben Elternhaus, Schule, Gesundheitswesen, Arbeitsförderung, Polizei und Justiz. “ (Wikipedia)

Im späteren Verlauf dieser Arbeit wird noch eingehender auf die Methoden und Vorgehensweisen eingegangen werden.

4. Grundzüge der Bindungstheorie

4.1 Theoretische Verortung

Im Wesentlichen bestehen drei konkurrierende Ansätze zur Erklärung der Bindungsgenese: die psychoanalytische, die lerntheoretische und die ethnologische. Nach dem Lerntheoretischen Konzept kann Bindung als Form der Abhängigkeit nach dem Prinzip sekundärer Verstärkung verstanden werden.

Der psychoanalytische Ansatz betont die Mutter als erstes Liebesobjekt des Kindes, weil sie mit elementaren Bedürfnissen, wie dem nach Nahrung, assoziiert wird.

Der ethologische Ansatz hingegen betrachtet eher den biologischen Kontext, betont also die phylogenetische Sicht.

„ Die Bindungstheorie ist ein sozialpsychologisches und psychoanalytisches Konzept, mit dem man das enge emotionale Verhältnis zu erklären versucht, das sich zwischen einem Kleinkind und seiner Mutter entwickelt. Sie versucht, ein im sozialen Umfeld beobachtbares und innerhalb gewisser Grenzen auch messbares Verhalten zugleich aus verhaltensbiologischer, psychologischer und psychoanalytischer Sicht zu erklären. Sie besitzt Berührungspunkte mit der Psychoanalyse, mit der sie die Auffassung teilt, dass frühkindliche Erlebnisse ein Schlüssel zur Erklärung der gesamten weiteren Entwicklung eines Menschen sind.

Gleichzeitig grenzt sie sich entschieden ab von der Lerntheorie, die etwa aus der mütterlichen Reaktion auf das Weinen des Kinde keinen anderen Schluss zu ziehen vermag als den, dass es der Mutter entweder um Stressabbau gehen müsse oder darum, belohnend oder verstärkend auf das Kind einzuwirken. Die weitreichenden Konsequenzen, die das mütterliche Verhalten in dieser Situation für die gesamte weitere Entwicklung des Kindes haben kann, vermag die Lerntheorie aus Sicht der Bindungstheorie nicht angemessen zu erfassen. Die Bindungstheorie versucht mithin, aus einer Synthese von psychoanalytischer Theorie und systematischer Verhaltensbeobachtung ein „ Konzept emotionaler Kohärenz und Integrität “ (Klaus E. Grossmann) des Menschen zu gewinnen. “ (Wikipedia)

4.2 Entwicklung der Bindungstheorie

Wie entstand die Bindungstheorie?

Das Interesse an den Folgen, wenn Kleinkinder von Ihren Eltern getrennt werden, ist sicherlich nichts außergewöhnlich Neues und bereits viele Jahrhunderte alt. Eine besonders alte Berichterstattung diesbezüglich stammt von einem Franziskanermönch namens „Salimbene von Parma“ (lat. Ognibene degli Adami). Er lebte von 1221 bis 1287/88, stammte aus Parma / Italien, reiste viel durch Italien und Frankreich und verfasste eine für die Geschichte des 13. Jahrhunderts wichtige Chronik. Damals schrieb er über den deutsch-römischen Kaiser Friedrich II. (1194-1250), der seines Erachtens nach von sieben Wahnideen geplagt wurde, unter anderem folgender:

Abbildung 3: Kaiser Friedrich II.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„ Seine zweite Wahnidee war, dass er herausfinden wollte, welche Sprache und Mundart die Kinder hätten, wenn sie heranwachsen würden, ohne je mit irgendwem sprechen zu können. Daher befahl er den Ammen und Nährmüttern, die Kinder zu säugen, sie zu baden und zu reinigen, aber ihnen niemals zu schmeicheln oder mit ihnen zu reden. Er wollte nämlich erfahren, ob sie die hebräische Sprache sprechen würden, welche die erste gewesen war, oder die griechische oder die lateinische oder die arabische, oder ob sie nicht immer die Sprache ihrer Eltern sprechen würden, von denen sie abstammten.

Doch er bemühte sich vergebens, denn die Kinder starben alle. Denn sie konnten nicht ohne den Beifall, die körperliche Zuwendung, die freundlichen Gesichter und die Schmeicheleien ihrer Ammen und Nährmütter leben. “

(Tusculum - Lexikon 1982, S.712)

Ersichtlich war bereits damals, wir Menschen können ohne jegliche Art von sozialem Kontakt nicht überleben, wir würden psychisch vertrocknen und sterben.

Hier handelt es sich zwar um eine Legende, aber der Kern der Geschichte wird von der modernen Forschung bestätigt.

Der amerikanische Psychologe Harry Frederick Harlow (1905-1981), wurde zwar vor allem durch seine oft grausamen Experimente mit jungen Rhesusaffen bekannt, die jedoch revolutionäre Erkenntnisse hervorbrachten und ihn zu einem der bedeutendsten Primatenforscher der Wissenschaftsgeschichte machten.

Bei diesen Experimenten setzte Harlow ab 1957 junge Rhesusaffen völlig isoliert in Käfige, ohne Spielkameraden und ohne Mutter.

Diese Affen spielten nicht, zeigten kein Neugierverhalten und wurden schwer verhaltensgestört (ängstlich, aggressiv).

Auch eine Art Mutterpuppe änderte nichts daran. Erst als sie wieder Sozialkontakte hatten und mit anderen Äffchen spielen konnten, war eine gewisse Heilung beobachtbar.

Die fehlende soziale Mitwelt wirkte sich nicht nur auf das Sozialverhalten, sondern auch auf die kognitive Entwicklung negativ aus. Es ist z.B. bekannt, dass Tiere im Spiel mit anderen die Gegend erkunden und dabei eine kognitive Landkarte erwerben. (vgl.Wikipedia)

Somit bedarf es bereits für den kleinen Menschen neben ausreichender Nahrung und physischer Wärme, einer gewissen psychischen Nestwärme, da er sonst an emotionaler Deprivation, wie eine Pflanze ohne Licht, eingehen kann.

Die eigentliche Pionierleistung hinsichtlich wissenschaftlicher Säuglingsbeobachtung wurde allerdings erst einige Jahrhunderte nach dem Experiment Friedrich II. erbracht.

Um 1935 begann der Psychoanalytiker René Spitz mit Säuglingsbeobachtungen in Heimen und Hospitälern. Er dokumentierte die Reaktionen während längerer Trennungsphasen von ihrer primären Bindungsperson, der Mutter und kam dabei zu dem Schluss, dass „totaler Entzug affektiver Zufuhr“ zu massiven negativen Folgen in der motorischen, kognitiven und emotionalen Entwicklung führen kann.

Dies führte ihn zu den Beschreibungen der Störungsbilder „Hospitalismus“ und „anaklitische Depression“, besser bekannt als Deprivation.

„ Die anaklitische Depression (von griechisch ĮȞȐțȜȘıȘ , an á klissi - Abberufung, Absage im Sinne von Entzug) tritt auf, wenn Menschen, besonders kleine Säuglinge und Kinder, sich lange in Heimen oder Krankenhäusern befinden und unter Zeitmangel nur körperlich versorgt werden. Eine anaklitische Depression kann auch im Elternhaus auftreten, wenn das Kind ungenügend betreut wird. Es fehlt ihnen an einer Bezugsperson, an liebevoller Zuwendung, an Nestwärme und an Geborgenheit und Sicherheit. Mögliche Symptome einer anaklitischen Depression sind anhaltendes Weinen, Schreien, Rückzug, Wimmern, später Kontaktstörungen und Apathie. Bei anhaltender seelischer Vernachlässigung kommt es zu psychischem Hospitalismus. Schon ein fünfmonatiger Krankenhaus- oder Heimaufenthalt kann irreversible Schäden hervorrufen.

(Wikipedia)

Ferner konnte Spitz zeigen, dass diese allumfassenden Entwicklungsstagnationen dieser Kinder bis hin zu völligem körperlichen und psychischen Verfall („Marasmus“) führen und nannte diese Folgen „die Konsequenzen des psychischen Verhungerns“.

„ Wie Spitz und Wolf (1946) erkannten, verkümmern Neugeborene und sterben sogar ohne den liebevollen Kontakt zu einer Bezugsperson trotz ausreichender Versorgung mit Nahrungsmitteln und Körperpflege “

(Ruppert 2005, S.33)

An dieser Stelle sei erwähnt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts in den Findelhäusern Deutschlands, noch rund 70% der Säuglinge starben.

Der Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby (1907-1990), der als Vater der Bindungstheorie gesehen wird, begann nach einem Medizinstudium und einer gleichzeitigen Ausbildung zum Psychoanalytiker, nach dem zweiten Weltkrieg, seine Tätigkeit in der psychotherapeutischen Abteilung einer Londoner Kinderklinik. Bereits damals war er überzeugt, dass reale frühkindliche Erlebnisse in der Beziehung zu den Eltern, die Entwicklung eines Kindes grundlegend bestimmen können. Die eigentliche Geburtsstunde der Bindungstheorie war jedoch, als Bowlby im Studieren der Lebensläufe von psychisch schwer gestörten Kindern und Jugendlichen, einen immer wiederkehrenden Zusammenhang zwischen extrem realen, frühkindlichen Traumatisierungen, vor allem hinsichtlich Trennung oder gar Verlust und den daraus resultierenden, bedeutungsvollen Auswirkungen auf die Entwicklung dieser Kinder, erkannte.

„ Die Erkenntnisse Bowlbys lassen sich auf einen grundlegenden Nenner bringen:

Ohne bewusstes Zutun werden in uns von Geburt an Bindungsstrukturen zu anderen Menschen, in erster Linie zu unserer Mutter, aufgebaut. Die emotionale Bindung an ihre Mutter ist für Kinderüberlebensnotwendig. “ (Ruppert 2005, S.33)

Bowlbys Erkenntnisse blieben der Fachwelt natürlich nicht verschlossen und fanden nicht sofort und überall ausschließlich Befürworter.

„ Während der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts begegnete man der Ansicht, eine Trennung von der Mutterperson oder ihr Verlust während der ersten Lebensjahre könnte auf menschliche Kinder langanhaltende Auswirkungen haben, von vielen Seiten mit Spott und Unglauben. Harlows Arbeit dämpfte die Erregung und begann eine ernsthafte Diskussion “

(Grossmann, Grossmann 2003, S.58)

Harlows Versuche bestätigten damals Bowlbys Vermutungen und so beschäftigte er sich fortan sehr intensiv mit den Arbeiten von Ethologen wie Konrad Lorenz (1903- 1989), einst auch „Einstein der Tierseele“ genannt und Nikolaas Tinbergen (1907- 1988).

Für ihre Entdeckungen hinsichtlich Aufbau bzw. Organisation und die Auslösung von individuellen und sozialen Verhaltenselementen bzw. Verhaltensmustern, (Original: „for their discoveries concerning organization and elicitation of individual and social behaviour patterns“) erhielten beide Forscher, zusammen mit Karl von Frisch, 1973 den Nobelpreis für „Physiologie oder Medizin“.(vgl.www.nobelprize)

Bowlby wies nach den ethologischen Prinzipien eine genetische Veranlagung nach, die menschliche Säuglinge befähigt, eine Art „affektives Band“ herzustellen.

„ Ein affektives Band wird verstanden als Folge bestimmter vorprogrammierter Verhaltensmuster, die auf ein Individuum konzentriert werden. Ihre Wirkung besteht darin, das erste Individuum nahe an das andere heranzubringen und es dort zu halten - deshalb der umfassende Begriff „ Bindungsverhalten “ (Grossmann, Grossmann 2003, S.23)

Dieses Band wiederum macht es dem Säugling möglich, Verhaltensweisen zu entwickeln, Nähe zu einer Person differenziert zu halten und bei drohendem Näheverlust ein so genanntes Bindungsverhalten zu zeigen.

„ Bindungsverhalten ist besonders deutlich während der frühen Kindheit (und im Säuglingsalter) erkennbar, doch geht man davon aus, dass es menschlichen Wesen von der Wiege bis zum Grab eigen ist. Es umfasst Weinen und Rufen, die Fürsorge und Zuwendung auslösen, Folgen und Festhalten und auch starken Protest, wenn ein Kind allein gelassen oder bei fremden Personen zurückgelassen wird. Mit zunehmendem Alter nehmen die Häufigkeit und die Intensität solchen Verhaltens kontinuierlich ab.

(Grossmann,Grossmann 2003, S.23)

Bowlby versucht mit seinem Ansatz, traditionell entwicklungspsychologisches und klinisch-psychoanalytisches Wissen mit evolutionsbiologischem Denken zu verbinden.

Er verband psychoanalytische Hypothesen mit einer Psychodynamik individueller Anpassung zu einem Konzept emotionaler Kohärenz und Integrität. Nach der psychoanalytischen Auffassung wird die Entwicklung einer Organisation von Emotionen des Säuglings in Übereinstimmung mit seinen wirklichen Erfahrungen durch die mütterliche Feinfühligkeit unterstützt oder durch geringe Feinfühligkeit gehindert. Dies ist der Beginn der Entwicklung von Selbst- und Selbstwertgefühl. Nach Erik Homburger Erikson (1902-1994) ist die liebevolle Fürsorge und die Befriedigung von Grundbedürfnissen des Säuglings von unmittelbarer Bedeutung für die Entwicklung des kindlichen Urvertrauens.

„ Wurden seine Veröffentlichungen Anfang der 60er Jahre von der Fachwelt noch reserviert bis ablehnend aufgenommen, so ist in den letzten 20 Jahren eine Fülle an Studien durchgeführt worden, die Bowlbys Konzepte bestätigen “ , (Psychologie Heute, Januar 2005, S.21)

Ein riesiges, neues Forschungsfeld wurde damals bei dem Versuch aufgetan, menschliche Bindung erstmals nachzuweisen. Diesem Feld haben sich im Laufe der letzten 50 Jahre immer mehr Fachleute und Wissenschaftler verschrieben. Die Ergebnisse sind sehr mannigfaltig.

Um repräsentative Ergebnisse zu erhalten, musste vor allem aber wissenschaftlich gearbeitet werden. Hierzu bedurfte es verschiedener neuer Forschungsmethoden und so schufen Bindungsforscher wie die vermeintliche Mutter der Bindungsforschung, Mary D.Salter Ainsworth (1913-1999) Versuchsfolgen wie die „strange-situation“ oder zur Feinfühligkeitsmessung der Eltern das „Adult-Attachment-Interview“.

Die Erkenntnisse dieser empirischen Studien untermauerten Bowlbys Theorien und so verfasste er von 1969 bis 1980 insgesamt drei Bände die seine Bindungstheorie darstellen:

1969 Band 1: Attachment (Bindung);

1973 Band 2: Seperation: Anxiety and Anger (Trennung);

1980 Band 3: Loss: Sadness and Depression (Verlust,Trauer und Depression).

„ Die Verbreitung und Erforschung der Bindungstheorie hat zu einer Fülle von Publikationen geführt, die ganze Bibliotheken füllen. Es wurden wichtige Befunde darüber erhoben, welche unterschiedlichen Bindungsmuster oder - verhaltensstile es gibt, unter welchen Bedingungen sie sich jeweils ausbilden und wie sie sich im Laufe des Lebens weiterentwickeln... “ (Brisch 2001, S.15)

Viele Fragen wurden bei diesen teilweise Jahrzehnte andauernden, empirischen Untersuchungen zur sozialen Bindung von Kleinkindern beantwortet und unzählige Erkenntnisse gewonnen.

Egal was die Beziehung zwischen Kind und Mutter oder einer anderen primären oder sekundären Bezugsperson betrifft, seien es die Voraussetzungen oder die Folgen dieser Beziehung unter allen erdenklichen Gesetzesmäßigkeiten, so wurde an alle möglichen Faktoren gedacht und fast jede Kausalität erforscht.

„ Da die Grundlagenforschung auf diesem Gebiet inzwischen enorm vielfältig ist und eine so gewaltige Fülle von Ergebnissen liefert... “

(Brisch 2001, S.25)

Eine vollständige Wiedergabe aller Erkenntnisse wäre demnach niemals möglich und würde das Ausmaß dieser Arbeit wohl bei Weitem sprengen, sowie an der zu beantwortenden Problematik vorbeiführen.

Demnach seien im Folgenden nur einige, wesentliche Charakteristika der Bindungstheorie genannt.

4.3 Der Bindungsbegriff

Was heißt Bindung?

Bindung beschreibt im Wesentlichen eine von Natur aus angelegte, sehr starke emotionale Dyade (griech.:dýas = Zweiheit).

Eine Zweiergruppe die insbesondere aus Mutter und Kind besteht und sich bereits während der Schwangerschaft aufbaut. Die Bindung meint nicht allein die emotionale Innigkeit, sondern ebenso das vitale Angewiesensein des Kindes auf die Versorgung der Mutter, die (um dies gewährleisten zu können) wiederum das Kind als einen Teil ihrer selbst begreift.

Die Mutter bietet im optimalen Fall, Schutz, Wärme, Versorgung und eine sichere Basis um das Leben zu erkunden.

„ Die menschliche Bindung hat auch die Funktion, dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln, wenn es unter emotionaler Belastung und bei erschöpften eigenen Ressourcen auf die Unterstützung einer „ stärkeren und weiseren Person “ angewiesen ist. “

(Grossmann, Grossmann 2003, S.33)

„ Der aus der Psychoanalyse stammende sozialpsychologische Begriff der Bindung (engl.: attachment) bezeichnet ein genetisch vorgeprägtes Verhalten von Primatenkindern (insbesondere Menschen), das auf die Hinwendung zuälteren Artgenossen (insbesondere die Mutter) gerichtet ist. Von den Artgenossen erhoffen sich die Kinder dabei Schutz und Versorgung. “ (Wikipedia)

Mary D.S.Ainsworth definierte Bindung 1964 wie folgt:

„ Nach dem Oxford Concise Dictionary ist Bindung „ der Akt, sich jemand anderem zuzuwenden, was in Freundschaft verbindet und ergeben macht “ Die Bedeutungen dieser Definition sind die folgenden:

1) Bindung heißt Zuneigung.
2) Bindungen sind spezifisch und bedeuten Unterscheidung.
3) Bindung ist eine Handlung; sie ist ein Verhalten und damit beobachtbar.
4) Bindung ist ein aktiver Prozess; Sie entsteht nicht einfach dadurch, dass man ein passiver Empfänger von Stimulation ist.
5) Der Akt der Bindung beeinflusst die Reaktion des Objekts. Bindung ist ein zweiseitiger Prozess. Sie bedeutet Interaktion. “

(vgl. Grossmann, Grossmann 2003, S.102)

Des Weiteren versteht Mary Ainsworth unter Bindung

„… ein imaginäres Band zwischen zwei Personen … ,das in den Gefühlen verankert ist und das sieüber Raum und Zeit hinweg miteinander verbindet …“ (Grossmann, Grossmann 2004, S.68)

Die deutschen Vertreter der Bindungstheorie, das Forscherpaar Karin und Klaus Grossmann beschreiben es folgendermaßen:

„ Eine „ Bindung “ ist ein gefühlsm äß iges Band, und daher sind

Bindungspersonen niemals beliebig austauschbar oder durch andere völlig zu ersetzen, auch nicht wenn noch jemand anders da ist, an den man ebenfalls gebunden ist. Andere Kriterien von Bindung gelten ebenfalls für gefühlsm äß ige Bande: der Wunsch, Nähe zum Partner aufrechtzuerhalten, sowie ein Bedürfnis in seiner Nähe zu sein. Obwohl beiälteren Kindern und Erwachsenen diese Nähe bei Trennung in gewissem Ausmaßauchüber Zeit und Raum aufrechterhalten werden kann, besteht dennoch zumindest gelegentlich der Wunsch, durch die Wiedervereinigung Nähe und Interaktion wiederherzustellen sowie Genuss, sogar Freude zu erleben. Es gibt ein drittes Kriterium für

Bindung, das deutlich für einige Bande kennzeichnend ist - ganz besonders für Bande von Kindern zu Eltern-, ein Kriterium das zum Teil als wesentlich erachtet und als Unterschied zwischen Bindung und anderen gefühlsm äß igen Banden angesehen wird (Weis 1982; Hinde 1982) Es ist das Erleben von Ermutigung und Sicherheit in der Beziehung zum anderen, wobei doch die Fähigkeit besteht, sich von dieser sicheren Basis mit Zuversicht zu entfernen, um sich anderen Aktivitäten zu widmen; da aber nicht alle Bindungen sicher sind, sollte dieses Kriterium in dem Sinne modifiziert werden, dass beim anderen nach Ermutigung und Sicherheit gesucht wird. “

(Grossmann, Grossmann 2003, S.350)

John Bowlby selbst weist in seinen Büchern vor allem auf eine strikte Unterscheidung von Bindung und Bindungsverhalten hin.

„ In der Bindungstheorie wird eine Bindung als ein hypothetisches Konstrukt angesehen, das nicht unmittelbar beobachtet werden kann. Es stellt die innere Organisation des Bindungsverhaltenssystems und der zugehörigen Gefühle dar “ (Grossmann, Grossmann 2003, S.33)

Zur Komplettierung der Grundcharakteristika von Bindung:

- Bindung entwickelt sich nicht in Bezug auf beliebige ältere Artgenossen, sondern richtet sich auf ein besonderes, nicht austauschbares Individuum. Hierbei handelt es sich normalerweise um die Mutter, da diese den ersten, und in aller Regel auch den intensivsten Kontakt zu ihrem Kind hat.
- Bindung ist ein auf Dauer angelegtes Verhalten. Es entwickelt sich in früher Kindheit, bleibt aber über viele Jahre hinweg für das Kind in wechselnder Weise wesens- und handlungsbestimmend, oft bis ins Erwachsenenalter hinein.
- Das Verhältnis eines Kindes zu seiner Bindungsperson ist von intensiven, starken Emotionen geprägt: Liebe, Trauer, Angst und Freude.
- Die Vertrautheit des Kindes mit seiner Bindungsperson ist die konstitutive Kraft des Bindungsverhältnisses. Sie überwiegt die Bedeutung sowohl von Belohnung, als auch von Strafe in Bezug auf die Frage, wie intensiv die Bindung ist. Das heißt, weder lässt sich Bindung wesentlich durch Belohnung verstärken, noch führen (bis zu einem gewissen Grad) Strafen dazu, die Hinwendung zur Bindungsperson nachhaltig zu stören.
- Entwicklungsgeschichtlich ist die Ausprägung eines Bindungsverhaltens als biologische Schutzfunktion zu verstehen: Das hilflose Kind entwickelt Verhaltensformen, die den Aufbau der Bindung zu einer Person fördern, die elementare Hilfe und Schutz gewährleisten kann. (vgl. Wikipedia)

4.4 Erweiterung des Bindungsbegriffes

Neben den bereits erwähnten Definitionen der Bindung von bekannten

Bindungsforschern, setzt sich auch Franz Ruppert in seinen Büchern seit vielen Jahren mit dem Bindungsphänomen auseinander. Er ergänzt die geläufigen Definitionen durch die Bezeichnung der „seelischen Bindung“ und durch eine „Verknüpfung zweier Konzepte. Der der Bindung bzw. der Bindungsstörung und der Traumatisierung. (vgl. Ruppert 2005, S.24 ff.)

Seines Erachtens sind Bowlbys Erkenntnisse zunächst als Grundlagentheorie zu verstehen.

„ Die Erkenntnisse Bowlbys lassen sich auf einen grundlegenden Nenner bringen:

Ohne bewusstes Zutun werden in uns von Geburt an Bindungsstrukturen zu

anderen Menschen, in erster Linie zu unserer Mutter, aufgebaut. Die emotionale Bindung an ihre Mutter ist für Kinderüberlebensnotwendig. “ (Ruppert 2005, S.33)

Neu an Rupperts Vorstellung der Bindungstheorie, ist die Erweiterung durch den Begriff der „Seele“.

„ Seelische Prozesse, wie ich sie verstehe, entstehen in erster Linie in der Begegnung mit und im Kontakt zwischen Menschen. Die Seele gibt es, weil Menschen in einem wechselseitigen Bezug seelische Prozesse fortlaufend erzeugen. Die Seele ist daher für jeden Menschen eine Erfahrungstatsache. Jeder Mensch erlebt seelische Vorgänge im Kontakt mit anderen. Er spürt sie am eigenen Leib, in der Qualität seiner Gefühle und in der Art seiner Gedanken. “ (Ruppert 2002, S.60)

Besondere Aufmerksamkeit erfährt hierbei vor allem die Mutter-Kind Bindung:

„ Die seelische Bindung an die Mutter ist sowohl für Söhne wie für Töchter die stärkste Bindung ihres Lebens. Keine andere Bindung im Leben kommt dieser Bindung in ihrer Qualität und Intensität gleich. Keine hat solche weitreichenden Konsequenzen für das gesamte Leben eines Menschen. Keine wirkt stärkerüber viele Generationen als Grundlage für ein glückliches oder unglückliches Leben. Die Mutter-Kind-Bindung ist daher auch die Quelle der meisten seelischen Verwirrungen. “ (Ruppert 2002, S.69)

Ein weiterer Unterschied zu den gängigen Bindungsdefinitionen wird hier bereits sichtbar. Ruppert sieht den Menschen als ein Wesen, welches die Erfahrungen mehrerer Generationen vereint.

[...]

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Kindheit ohne Perspektive oder alles eine Frage der 'richtigen' Betreuung? Sozialpädagogische Arbeit mit Waisenkindern vor einem bindungstheoretischen Hintergrund
Hochschule
Katholische Stiftungsfachhochschule München
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
105
Katalognummer
V57437
ISBN (eBook)
9783638518925
Dateigröße
1034 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bindungstheorie, den Auswirkungen des Verlustes der primären Bezugsperson und der daraus resultierenden Frage, in wie weit dieser Verlust für die weitere Lebensperspektive des hinterbliebenen Kindes ausschlaggebend ist. Hierbei geht es vor allem um die Klärung, ob der anschließende Lebensweg des Kindes durch den Verlust von Anfang an negativ beeinflusst ist, oder ob eine adäquate Betreuung die entstandenen Bindungsdefizite auffangen kann.
Schlagworte
Kindheit, Perspektive, Frage, Betreuung, Sozialpädagogische, Arbeit, Waisenkindern, Hintergrund
Arbeit zitieren
Johannes Britsch (Autor:in), 2006, Kindheit ohne Perspektive oder alles eine Frage der 'richtigen' Betreuung? Sozialpädagogische Arbeit mit Waisenkindern vor einem bindungstheoretischen Hintergrund, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57437

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Kindheit ohne Perspektive oder alles eine Frage der 'richtigen' Betreuung? Sozialpädagogische Arbeit mit Waisenkindern vor einem bindungstheoretischen Hintergrund



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden