'Judicialisation of Politics' - Ist die Entwicklung der Verfassungsgerichte in Osteuropa diesbezüglich positiv oder negativ zu sehen?


Essay, 2002

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


„Judicialisation of Politics“ – Ist die Entwicklung der Verfassungsgerichte in Osteuropa diesbezüglich positiv oder negativ zu sehen?

Der Zusammenbruch des Ostblocks in den Jahren 1989 bis 1991[1] hat den Rahmen geschaffen für eine neue demokratisch-freiheitlich ausgerichtete Ordnung in vielen Staaten jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Im Rahmen dieses Demokratisierungsprozesses wurden bei dem Neuaufbau des Staatswesens von Experten in diesen Ländern oft mit Hilfe aus dem Westen stammender Verfassungsexperten verschiedene Modelle von bereits existierenden Verfassungen untersucht und für die spezifischen Eigenheiten der Länder weiterentwickelt beziehungsweise ergänzt. Für die meisten Länder bedeutete dies nach über 50 Jahren kommunistischer Diktatur erstmalig eine Verfassung zu haben. Diese Verfassungen sind an die westlichen Verfassungsmodelle angelehnt, die sich vor allem den Menschenrechten, der Absicherung des politischen Systems der Demokratie und der unabhängigen Rechtssprechung verpflichtet fühlen[2]. Verbunden mit der Erstellung von Verfassungen war in den meisten Fällen auch die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofes, welcher juristisch Gesetze und Handlungen der Regierung zu überprüfen hat, ob sie mit der Verfassung des Landes übereinstimmen.

Es liegt in der Logik von verfassungsrichterlichen Entscheidungen, dass die unabhängigen[3] Richterinnen und Richter ihre Entscheidungen auf der Grundlage der Verfassung treffen. Dies hat zur Folge, dass Gesetze, und damit Regierungsvorhaben, nicht umgesetzt werden können, falls sie nicht mit der Verfassung in Einklang gebracht wurden. Damit greift das Verfassungsgericht auf indirekte Weise in die Politik ein. Manche beklagen die Überschreitung von Kompetenzen hinein in die Politik durch Verfassungsgerichtshöfe. Im angelsächsischen Sprachgebrauch versteht man darunter die Frage nach der „Judicialization of Politics“. Dieser möchte ich mich im folgenden widmen und untersuchen, ob dies eine positive oder negative Entwicklung darstellt.

Einleitend sei dazu bemerkt, dass bei der Übernahme von Verfassungsmodellen – vor allem des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland - aus der demokratischen Welt, Vor- und Nachteile diskutiert wurden. Probleme sollten möglichst schon am Anfang aufgedeckt und behoben werden, da die Erfahrungen zeigten, dass es unheimlich schwierig ist Verfassungen nach einigen Jahren zu verändern, da sich die politische Elite schon daran gewöhnt hat und oft nicht den Bedarf sieht etwas zu ändern. In Westeuropa und Nordamerika wird die „Judicialisation of Politics“ schon einige Zeit erforscht und diskutiert. Interessant ist es jedoch besonders zu sehen, wie sich dies angesichts der völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen in Osteuropa auswirkt. Die aus der angelsächsischen und westeuropäischen Welt stammende Debatte wird hier in einem anderen – dem osteuropäischen – Kontext gesehen.

Als Bezugspunkte dienen dabei herausragende Sätze sowie die Argumentationslinien von Herman Schwartz in seinem Buch „The Struggle for Constitutional Justice in Post-Communist Europe.“

Alexis de Tocqueville sagt[4] über seine Reise in die Vereinigten Staaten: „Scarcely any political question arises …that is not resolved, sooner or later, into a judicial question.“[Schwartz, 2000 #1: S.4] Die genauen Umstände, die zu dieser Schlussfolgerung führten, sind mir leider nicht bekannt. Doch kann man wohl annehmen, dass er beobachtete, dass viele politischen Entscheidungen im Endeffekt von der unterlegenen Partei, der Minderheit im Parlament, dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten vorgelegt, um die Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Dies führte ihn zur Erkenntnis, dass jede politische Frage und Entscheidung auch einen rechtlichen Aspekt hat, denn es zu beachten gilt.

Für Osteuropa lässt sich dieser Prozess im Zusammenhang mit der Fragestellung nur anreißen, denn nach wenigen Jahren oder knapp einem Jahrzehnt kann noch keine Schlussfolgerung gezogen werden, während sich in Westeuropa liberale Verfassungsgerichte durchgesetzt haben. Der von Schwartz zitierte Ralf Dahrendorf spekulierte einmal, dass es wohl sechzig Jahre dauern könnte, bis sich die Entwicklung zu einer Zivilgesellschaft vollzogen hat. Diese Einschätzung macht deutlich, dass die Entwicklung nicht einfach abzusehen ist, weil die Um- und Neugestaltung einer Gesellschaft einer solch langen Transformationszeit bedarf, die in Dekaden und Vierteljahrhunderten berechnet wird, und nicht in einigen Jahren[5].

Freiheitlich-demokratisch ausgerichtete Verfassungen und auch andere Ordnungsformen sind immer davon abhängig, inwieweit sie von den Menschen angenommen werden, ob die Verfassung als notwendiges Übel, zu beseitigendes Übel, als positiv und relevant für das Individuum oder als Chance für eine bessere, am Rechtsstaat orientierte Ordnung aufgenommen wird. In Osteuropa können sich die Menschen nur langsam an die neue Ordnung, den ‚Rechtsstaat’, gewöhnen. Jahrzehntelang galt das Recht, auch wenn es geschrieben war, nichts. Doch mangels Erfahrung, Schulung oder Verständnis entscheiden oder handeln Beamte oder andere Staatsbedienstete in vielen Fällen heute nicht anders, als zu Zeiten vor 1989. Folglich sehen die Menschen oft noch nicht, dass sich etwas verändert hat.

Für den Aufbau einer Marktwirtschaft und der Zivilgesellschaft sind regierungs-unabhängige Institutionen von höchster Bedeutung. Solche Institutionen entwickeln sich nicht von heute auf morgen. Auch wenn diese Organisationen und Institutionen Partikularinteressen vertreten, hängen ihr Einfluss und ihre Mitwirkungsmöglichkeiten größtenteils davon ab, ob die gesellschaftliche Ordnung stabil ist. Menschen, Organisationen, Institutionen usw. haben ein Interesse daran und müssen sich darauf verlassen können, dass dieses System freiheitlich-demokratische Grundordnung mit gewissem Rahmen und Regeln funktioniert und Stabilität mit Raum für Entwicklung schafft.

Den Glauben in das System erschweren jedoch die weitverbreitete Korruption und die Beobachtung der einfachen Bürgerinnen und Bürger, dass die alten Herrscher und Funktionäre der kommunistischen Parteien auch im neuen System zu den Siegern gehören. Dies geschieht entweder durch Wiedererlangung der Macht durch die vormals kommunistischen Parteien, die sich heute einen sozialistischen oder sozialdemokratischen Anstrich verpassen, oder durch die Führung von Unternehmen unter Nutzung alter Kontakte in den entsprechenden Staatsbetrieben oder Geheimdiensten. Diese Gruppen untermauern ihren Machtanspruch in der Wirtschaft teilweise mit mafiaähnlichen Methoden, die den Aufbau einer geregelten Marktwirtschaft nicht nur zeitlich hemmen, sondern massiv behindern, und auch den Glauben der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat untergraben. Ob da die Wahl eines mächtigen ehemaligen KGB-Funktionärs in Russland zum Präsidenten helfen wird Vertrauen in Marktwirtschaft und Rechtsstaat aufzubauen, darf bezweifelt werden. Sein Vorgänger hat sich schon früh mit dem Verfassungsgericht angelegt und versucht, es durch Repressionen zu beeinflussen. Damals wurde dem Obersten Richter seine Datscha genommen und ein minderwertiger Dienstwagen statt der Limousine zugeteilt.

[...]


[1] Auflösung der Sowjetunion zum 31.Dezember 1991

[2] Preuß beschreibt die klassischen Traditionen von Verfassungen recht einfach: Ziel sei die Begrenzung der Staatsmacht, der Schutz der Individuen und ihrer der Politik abgewandten Lebenssphären gegen die Willkür der Herrschenden.

[3] Auf die Wahl der Richter und die damit verbundenen Auswirkungen und Abhängigkeiten wird in diesem Rahmen nicht eingegangen, sondern davon ausgegangen, dass die Richterinnen und Richter wie in der Bundesrepublik Deutschland üblich kraft ihrer langen Amtszeit unabhängig sind. Ihre Unabhängigkeit kommt auch vor allem davon, dass sie nicht wiedergewählt werden können und sich daher während ihrer Amtszeit nicht irgendwo anbiedern müssen!

[4] Schwartz zitiert hier aus dessen Buch ‚Democracy in America’

[5] In Serbien hat zum Beispiel der – mit von Milosevic ernannten Richtern besetzte - Oberste Gerichtshof in alter kommunistischer Manier im Jahr 2000 trotz dessen Niederlage den Sieg zugesprochen. Bekanntlich führte dies nicht zu dem erwarteten Ergebnis von Seiten der Führung, sondern zum Sturz des Diktators und folglich seiner Überstellung nach Den Haag. Das mag zwar nach serbischem Recht nicht zulässig sein, für die Zivilgesellschaft jedoch schon, denn damit wird gezeigt, dass in einem solchen Fall niemand – nicht einmal der ehemalige Diktator und Staatschef – vor der internationalen Gemeinschaft zur Verteidigung der Menschenrechte und – würde sicher ist.

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Details

Titel
'Judicialisation of Politics' - Ist die Entwicklung der Verfassungsgerichte in Osteuropa diesbezüglich positiv oder negativ zu sehen?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut)
Veranstaltung
"Global Rise of Judicial Review" - West- und osteuropäische Erfahrungen bei dem Aufbau der Verfassungsgerichtsbarkeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
14
Katalognummer
V57122
ISBN (eBook)
9783638516495
ISBN (Buch)
9783656570332
Dateigröße
456 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Judicialisation, Politics, Entwicklung, Verfassungsgerichte, Osteuropa, Global, Rise, Judicial, Review, West-, Erfahrungen, Aufbau, Verfassungsgerichtsbarkeit
Arbeit zitieren
Dipl. Pol. Tobias Raschke (Autor:in), 2002, 'Judicialisation of Politics' - Ist die Entwicklung der Verfassungsgerichte in Osteuropa diesbezüglich positiv oder negativ zu sehen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57122

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