Die Wiedergeburt der Komödie aus dem Geiste des Chat Noir


Ausarbeitung, 2005

13 Seiten


Leseprobe


Überbrettl-Topoi im Musiktheater von Richard Strauss

Vor einhundert Jahren, entstand das erste deutsche Kabarett. Ernst von Wolzogen wollte es ursprünglich in München gründen; auch Wiesbaden und Darmstadt waren im Gespräch, aber dann wurde es doch in Berlin zum Ereignis: am 18. Januar 1901, in der Alexanderstraße 40, das „Überbrettl“.

Und mit dem „Überbrettl“ hatten zahlreiche Tonsetzer des frühen 20. Jahrhunderts direkt oder indirekt zu tun, und im Geflecht dieses Spinnennetzes finden sich Alexander Zemlinsky und Arnold Schönberg[1] ebenso wie Oscar Straus und Richard Strauss.

Beim Namen Wolzogen denkt der Musikfreund wohl zunächst an den Bayreuther Gralshüter Hans von Wolzogen, den Herausgeber der Bayreuther Blätter, die nach dem Tod Richard Wagners bald zu einem völkisch-rassistischen Kulturorgan verkamen. Und auch im Lexikon „Musik in Geschichte und Gegenwart“[2], sowie im Riemann[3], ist unter „Wolzogen, von“ nur der Hinweis auf Hans zu finden, während in The Grove Dictionary[4] auch der andere Wolzogen genannt wird. Von außen sieht man eben manches klarer:

Hans und Ernst und von Wolzogen sind Brüder, Söhne des Schweriner Hoftheaterintendanten Alfred von Wolzogen, Schwiegergroßneffen Friedrich Schillers, der erstere außerdem noch Enkel Karl Friedrich Schinkels, beide wirkten als Dramatiker, Essayisten und Librettisten. Ernst Ludwig Freiherr von Wolzogen ist der um sieben Jahre jüngere Bruder von Hans, genau genommen dessen Halbbruder und politisch und künstlerisch so weit von dem Erstgeborenen entfernt, dass Hans von Wolzogen sich später sogar bemüßigt fühlte, die Halbbruderschaft öffentlich im Sinne einer distanzierenden Barriere zu betonen. Natürlich stieß er damit bei den intimen Kennern der Zwistigkeiten von Gunther und seinem Halbbruder Hagen auf volles Verständnis.

Ernst von Wolzogen also, der - gemessen an Hans von Wolzogen - vergleichsweise liberale, in mancher Hinsicht sogar progressive Bruder, wurde am 23.April 1855 in Breslau geboren. Die Mutter, eine in Florenz aufgewachsene Halbengländerin hugenottischer Abstammung, lehrte ihn das Spiel mehrerer Instrumente, Singen und Balletttanz. Bereits im Alter von sechs Jahren schrieb Ernst sein erstes Drama und brachte zur Freude und zum Erstaunen seiner Umwelt eine Reihe von Puppenspielen zur Aufführung.

Nach Wanderjahren mit seinem Hauslehrer, nach dem Abitur im Jahre 1876, studierte er in Straßburg und Leipzig Literatur, Geschichte und Naturwissenschaften und verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch Novellen, Romane und Erzählungen und Lustspiele. 1881 übersiedelte er nach Berlin, wo ihm die Pastoralhumoreske „Die Gloriahose“ im Jahr 1884 besonderen Ruhm eintrug. Im Kreise der Friedrichshagener um Wilhelm Bölsche und die Brüder Hart bemühte er sich um die Gründung einer „Freien literarischen Gesellschaft“, was ihm dann im Jahre 1893 in München gelang; den Vorsitz dieser „Freien literarischen Gesellschaft“ hatte Ludwig Ganghofer. Von Wolzogen übernahm die Spielleitung des „Akademisch-dramatischen Vereins“ und inszenierte am Gärtnerplatztheater als erstes Tolstois „Macht der Finsternis“. Nach Meinungsverschiedenheiten um eine Aufführung von Shakespeares „Troilus und Cressida“ brach Wolzogen jedoch mit der Münchner „Freien literarischen Gesellschaft“ und ging im Frühjahr 1899 enttäuscht nach Berlin zurück.

Hier gründete er, frei nach dem Muster des Pariser „Chat noir“, das erste deutsche Kabarett. Wolzogen, der im Weimarer Kreis um Liszt zum Wagner-Anhänger und begeisterten Nietzsche-Verehrer geworden war, widmete seinen humoristischen Musikanten-Roman „Der Kraft-Mayr“: „dem Andenken Franz Liszts“ und nannte sein Kabarett in Anlehnung an Nietzsches „Übermensch“: „Überbrettl“. Die Unterschiede zum französischen Vorbild, dem Cabaret, definierte er so:

„Aus meiner Pariser Erfahrung und meinem eigenen Empfinden heraus gestaltete sich nunmehr mein Überbrettl folgendermaßen: kein Bier- und Weinausschank und Tabaksqualm, sondern regelrechtes Theater. Eine Rampe und ein gehöriger Orchesterraum zwischen mir und dem Publikum; eine Kleinbühne für anmutige Kleinkunst aller Art; keine Zimperlichkeit im Erotischen...“[5]

Ernst von Wolzogens Kabarett propagierte in Anlehnung an die zwanzig Jahre zuvor in Paris gegründeten Vorbilder weitgehende Freizügigkeit und stellte sich in Gegensatz zu den Moralnormen der Zeit. Erotische Leitbilder dieses Kabaretts waren die Liebelei und der Flirt. Wolzogens Verhältnis zur Gesellschaft wurde wesentlich durch seine Verehrung für Nietzsche geprägt: dieser Theaterleiter hegte die Absicht, mithilfe seiner literarisch-musikalischen Neugründung das „frische, fröhliche Niederreißen morscher alter Zäune“ und die „Umwertung alter verbrauchter Werte“ zu erreichen und der Verachtung des „Banausentums, der Philisterei, der absurd gewordenen Autorität“ überdeutlich Ausdruck zu verleihen.
Von Wolzogen erinnert sich:

„Die zu jener Zeit hervorragendsten deutschen Komponisten erwiesen sich sämtlich als viel zu schwerfällig für die Aufgabe, eine künstlerisch vornehme und dabei doch einschmeichelnde, melodisch leicht fassliche Musik zu schreiben. Sie waren alle mit dem schweren Wagnerischen Gepäck beladen und keuchten unter der Last ihrer Polyphonie und Enharmonik. Von denen war nichts zu hoffen. Ich war völlig ratlos, an wen ich mich in meiner Musiknot wenden sollte;“[6].

[...]


[1] Hatte Zemlinsky im Januar 1901 den Posten des Kapellmeisters am „Überbrettl“ nicht erhalten, so vermittelte er diese Position ein Dreivierteljahr später seinem drei Jahre jüngeren Freund, Schüler und Schwager Arnold Schönberg. Das Berliner „Überbrettl“ gastierte gerade am Carlstheater in Wien, und der Zufall kam Schönberg zu Hilfe, wie Ernst von Wolzogen in seinen Memoiren berichtet: „Als wir in Wien am Karl-Theater gastierten, wurde das jüdische Versöhnungsfest gefeiert, und Oscar Straus durfte am Abend dieses Tages auf Befehl seines reichen Erbonkels nicht auftreten. Er führte mir als seinen Stellvertreter für diesen Abend einen jungen Musiker zu, von kleiner Gestalt, harten Gesichtszügen und dunkler Hautfarbe, dessen Name, Arnold Schönberg, damals noch gänzlich unbekannt war. Als Probe seines Könnens spielte er mir einige kleine Lieder vor, darunter eine reizende Vertonung des Falkeschen Gedichtes 'Rechts Luischen, links Marie und voran die Musici', die ich sofort für mein Überbrettl erwarb.“ (Wolzogen. „Ich bin der größte Idiot des Jahrhunderts“. In: Die zehnte Muse. Kabarettisten erzählen. Hg: Frauke Deißner-Jenssen. Berlin 1986, S. 35.) Von Wolzogen fährt in seinen Erinnerungen fort: „Am Abend aber blamierte er (Schönberg) sich als Begleiter derart, dass ich ihn durch meinen zweiten Kapellmeister Woldemar Wendland ablösen lassen musste. Das Lampenfieber hatte ihn so stark gepackt, dass er die einfachsten Griffe verfehlte. Er schämte sich seines Versagens so sehr, dass er sich nie mehr bei mir blicken ließ.“ (a. a. O., S. 35 f.) Eine wirkungsvolle Anekdote, aber nicht mehr als dies; Wolzogens Erinnerung trügt gewaltig. Denn nach seiner Talentprobe fand Schönberg tatsächlich Anstellung als musikalischer Leiter des „Überbrettl“. Offenbar ließ jedoch das monatliche Salär, das Schönberg für seine Tätigkeit von Wolzogen erhielt, sehr zu wünschen übrig, denn Zemlinsky schickte seinem Schwager musikalische Arbeiten, um dessen materielle Lage aufzubessern: Kopistenarbeiten für Zemlinskys neueste Komposition, das Ballett „Das gläserne Herz“ nach einer Textvorlage Hugo von Hofmannsthals, sowie Operetten anderer Wiener Komponisten, die Schönberg instrumentierte. Soweit bekannt, erklang Schönbergs Brettl-Lied „Nachtwandler“ mit seiner eigenartigen Besetzung für Sopran, Piccoloflöte, Trompete und Seitentrommel mit Schnarrsaiten nur ein einziges Mal in Wolzogens Kabarett, - vor allem der Trompetenpart war offenbar zu schwierig. Deshalb beschränkte sich Schönberg bei seinen übrigen Kabarett-Kompositionen auf Singstimme und Klavier.

[2] Friedrich Blume (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Kassel 1986, Bd. 17 (Register), S. 817.

[3] Carl Dahlhaus, Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.): Brockhaus Riemann Musiklexikon. Mainz 1989. Bd. 4, S. 357 f.

[4] Stanley Dadie (Hg.): The New Grove Dictionary of Music an Musicians. London 1980. Bd. 20, S. 515.

[5] Ernst von Wolzogen: Ich bin der größte Idiot des Jahrhunderts. In: Die zehnte Muse. Kabarettisten erzählen. Hg: Frauke Deißner-Jenssen. Berlin 1986, S. 21.

[6] Wolzogen a. a. O., S. 22.

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Details

Titel
Die Wiedergeburt der Komödie aus dem Geiste des Chat Noir
Veranstaltung
Vortrag beim Symposion
Autor
Jahr
2005
Seiten
13
Katalognummer
V57073
ISBN (eBook)
9783638516112
Dateigröße
437 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wiedergeburt, Komödie, Geiste, Chat, Noir, Vortrag, Symposion
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Peter P. Pachl (Autor:in), 2005, Die Wiedergeburt der Komödie aus dem Geiste des Chat Noir, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57073

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