Die Notstandsverfassung


Term Paper (Advanced seminar), 2005

30 Pages, Grade: 2,0


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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Ausnahmerecht in der Weimarer Reichsverfassung

2. Die Notstandsgesetze (1948-1968)
2.1. Verfassungskonvent in Herrenchiemsee und Parlamentarischer Rat
2.2. Die auf Notstandssituationen bezogenen Vorschriften des GG
2.3. Die Übergangslösung der Alliierten
2.4. Die „einfachen“ Notstandsgesetze
2.4.1. Sicherstellungsgesetze
2.4.2. Schutzgesetze

3. Die Notstandsverfassung
3.1. Verschiedene Entwürfe einer Notstandsverfassung
3.1.1. Schröder-Entwurf ( 1960)
3.1.2. Höcherl-Entwurf (1962-1963) und Benda-Entwurf (1965)
3.1.3. Lücke-Entwurf (1967)
3.2. Arten und Regelung des Notstandes
3.2.1. Innerer Notstand
3.2.2. Katastrophenfall
3.2.3. Äußerer Notstand
3.2.3.1. Verteidigungsfall
3.2.3.2. Spannungsfall und Bündnisfall
3.3. Kritik und Opposition: Außerparlamentarische Opposition

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die meisten Verfassungen westlicher Demokratien enthalten eine Regelung des Ausnahmezustandes, d.h. ein vereinfachtes Funktionieren des Staates und Rechtsvorschriften zum Ergreifen außerordentlicher Maßnahmen für Krisensituationen. Der Notstand wurde sogar schon verkündet wie z.B. in Frankreich: Während sich das Bundesinnenministerium damit beschäftigte, Notstandsgesetze für das Grundgesetz auszuarbeiten und diese in der damaligen Legislaturperiode verabschieden zu lassen, wurde der Notstand am 23. April 1961 durch den Elyséepalast in Paris festgestellt. Ziemlich kurz nach dem Inkrafttreten der Verfassung der V. Republik[1] benutzte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle den Artikel 16[2], um nach dem Staatsstreich der Generäle Salan, Challe, Jouhaud und Zeller die Ordnung in Algerien wiederzuherstellen. Damals galt das Ausrufen des Notstandes als begründet. Jedoch waren die Dauer[3] und die Einschränkungen der Befugnisse des Parlaments strittig: die (zu?) große Macht des Staatspräsidenten wurde in Frage gestellt. Der Artikel 16 wurde aber nie geändert.

Im Gegensatz dazu gab es bis 1968 in Deutschland keine Notstandsverfassung. Erst am 30. Mai 1968 wurden die Notstandsgesetze in dritter Lesung mit der nach Art. 79 II GG[4] zur Grundgesetzänderung erforderlichen Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat beschlossen. Sie traten am 28. Juni 1968 in Kraft. Damit endete eine lange Epoche von Verhandlungen oder genauer gesagt Auseinandersetzungen zwischen allen politischen Fraktionen der Bundesrepublik sowie von parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition: Die Diskussion hielt etwa zehn Jahre an.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Notstandsregelung in Deutschland strittig, da der deutsche Staat zur Zeit der NS-Diktatur schlechte Erfahrungen mit dem Ausnahmezustand gemacht hatte: Die Nationalsozialisten hatten das juristische Vakuum des Artikels 48 der WRV[5] ausgenutzt und konnten so die Grundlagen des deutschen demokratischen Systems unter scheinbarer Legalität abschaffen[6].

Laut der Gegner der Notstandsverfassung konnte diese Grundgesetzänderung die Grundrechte der deutschen Bürger und die demokratische Ordnung der BRD nochmals in Gefahr bringen. Laut der Befürworter war sie die einzige Möglichkeit, im „Ernstfall“ die Aufrechterhaltung der Staatsgewalt und die Stabilität im Inneren zuzusichern. Sie ermöglichte auch die Ablösung des Artikels 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrags.

Die Stelle der SPD war heikler: Sie erkannte zwar bald die Notwendigkeit, im Fall eines Notstandes die verfassungsrechtlichen Regeln zu vereinfachen. Sie verweigerte sich aber bis Mai 1968, die Notstandsverfassung zu verabschieden. Man kann schon behaupten, dass der Eintritt der SPD in die Große Koalition, unter der Kanzlerschaft von Kurt Georg Kiesinger, einen großen Einfluss auf die Verhandlungen mit der anderen Volkspartei, der CDU/CSU, ausgeübt hat.

In der vorliegenden Arbeit sollen also die folgenden Fragen behandelt werden: Wie funktioniert die Notstandsverfassung? Welche Rolle haben die SPD und die außerparlamentarische Opposition in den Verhandlungen gespielt? Stellt die Notstandsverfassung eine wirkliche Gefahr für die deutsche Demokratie und den Respekt vor den individuellen Grundrechten dar?

Nach einem kurzen Einblick in die Regelung des Ausnahmerechts in der WRV geht die Arbeit auf die Entwicklung der Notstandsgesetze von 1948 bis 1968 ein. Anschließend folgt eine genauere Darstellung der Notstandsverfassung.

Bewusst werde ich mich mit der Problematik einer Verfassungsänderung und mit einer politisch-philosophischen Überlegung über den Ausnahmezustand nicht befassen. Darüber zu reden, würde das Thema komplizierter machen und einige geschichtliche Aspekte vernachlässigen.

1. Ausnahmerecht in der Weimarer Reichsverfassung

In den Diskussionen um die Notwendigkeit und die Gefahren einer Notstandsregelung im Grundgesetz wurde immer wieder der Ausnahmeartikel der Weimarer Zeit erwähnt. Wie war eigentlich der Ausnahmezustand in der Weimarer Reichsverfassung vorgesehen?

Obwohl das Deutsche Reich eine parlamentarische Republik war (Art.1 WRV), genoss der Reichspräsident eine starke Machtstellung. Die Position des „Ersatzkaisers“ konnte sogar notfalls verstärkt werden. Dies wurde zum Teil durch die im Artikel 48 verankerten Bestimmungen für das Ausnahmerecht ermöglicht. Problematisch war die mangelhafte inhaltliche Beschreibung und die nicht vorhandene zeitliche Begrenzung des Ausnahmezustands. Außerdem konnte der Artikel 48 angewandt werden, wenn das Parlament zwar nicht mehr politisch wohl aber noch technisch funktionsfähig war.

Die Sondervollmachten des Reichspräsidenten reichten von der Einschränkung bzw. Außerkraftsetzung der Grundrechte bis zum militärischen Einsatz. Die Grundrechte, die in Absatz 2 der Verfassung betroffen waren, sind die Freiheit der Person (Art. 114 WRV), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 115 WRV), das Briefgeheimnis (Art. 117 WRV), die Versammlungsfreiheit (Art. 123 WRV), die Vereinsfreiheit (Art. 124 WRV) und den Schutz des Eigentums (Art. 153 WRV). Der Staat konnte nicht nur repressiv handeln, sondern auch präventiv, falls die Befürchtungen sich zu einer konkreten Gefahr entwickelt hatten. Nach Absatz 3 konnte der Reichstag die Notverordnung des Reichspräsidenten aufheben. Diese Maßnahme war jedoch unwirksam, da der Reichspräsident ermächtigt war, das Parlament aufzulösen (Art. 25 WRV). Das Ausführungsgesetz, das sich im letzten Absatz des Artikels 48 befindet, bot eine kaum beschränkte Handlungsvollmacht. Der Absatz wurde aber nie erlassen. So konnte der Artikel 48 weit ausgelegt und angewandt werden.

Obwohl die WRV kein Notverordnungsrecht vorsah, kam es laut Twenhöven zu einer „Promiskuität von Ausnahmezustand und Notverordnung[7]. Seit dem Rücktritt der Großen Koalition und der Ernennung von Brüning zum Reichskanzler lebten die sogenannten Präsidialkabinette allein von diesem Artikel[8]. So verzichteten die Reichskanzler und der Reichstag auf ein normales Gesetzgebungsverfahren. Diese extensive Anwendung des Artikels 48 WRV ermöglichte eine vereinfachte und abgekürzte Gesetzesarbeit.

Diese Verfassungspraxis trug dazu bei, die Notstandshoheit allein beim Reichspräsidenten zu setzen, den Reichstag einzuschläfern und somit letztenendes den Parlamentarismus der Weimarer Republik zu zerstören.

Nach der Machtergreifung Hitlers und besonders nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 wurde der Artikel immer mehr missbraucht: Unter Berufung des Artikels 48 II wurden Grundrechte „bis auf weiteres außer Kraft gesetzt[9]. Die national-sozialistische Regierung vertrat die Meinung des Verfassungsrechtlers Carl Schmitt: Allein der Führer könne die Fortdauer des Staates in Krise gewährleisten[10].[11]

Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die SPD-Fraktion anlässlich der ersten Lesung des Verfassungsentwurfes[12] und Hugo Preuß 1923[13] vor einem möglichen Missbrauch des Notstandsartikels gewarnt hatten.

2. Die Notstandsgesetze (1948-1968)

2.1. Verfassungskonvent in Herrenchiemsee und Parlamentarischer Rat

Der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee hatte ein Notverordnungsrecht der Regierung in Anlehnung an den Artikel 48 WRV (Art. 111 des Entwurfs) vorgesehen. Danach sollten die Notverordnungen außer Kraft treten, wenn sie nicht innerhalb von vier Wochen vom Bundestag oder von einem anderen ständigen Ausschuss bestätigt würden. Der Absatz 3 beinhaltete immer noch eine Außerkraftsetzung einiger Grundrechte wie z.B. der Freiheit der Meinungsäußerung, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Vereinigungsfreiheit und des Grundrechtes des Postgeheimnisses.

Für den Parlamentarischen Rat war aber die Erfahrung von Weimar das Motiv, auf eine Generalklausel zur Regelung des Notstandsfalles in Form des Artikels 48 WRV zu verzichten. Außer den Vertretern der KPD und insbesondere Heinz Renner, dem damaligen Verkehrminister in Nordrhein-Westfalen[14], sprachen sich alle Mitglieder des Parlamentarischen Rates gegen einen erneuerten Artikel 48 aus. So Rudolf Katz (SPD) am 11. Januar 1949 im Hauptausschuss:

Wir haben bewusst den Artikel 48 der Weimarer Verfassung verschwinden lassen oder abgetötet. Das, was wir jetzt in Artikel 111 haben, die Notgesetzgebung, beschränkt sich auf rein technische Notstände, Naturkatastrophen, Aufruhr, Generalstreik oder ähnliche Dinge [...] Wir wollen ja eine Wiederholung des Artikel 48 ausdrücklich nicht haben.[15]

Der gleiche Ton wurde von den CDU angeschlagen, wie dieses Zitat von Robert Lehr beweist:

Wir wollten nicht eine Wiederholung des Artikel 48, sondern wir wollten das Notstandsrecht auf zwei ganz bestimmte Fälle beschränken, auf den technischen Notstand und auf den Gesetzgebungsnotstand.[16]

Im Laufe des Parlamentarischen Rates wurden acht Fassungen einer Notstandsregelung beraten. Auf Antrag des Allgemeinen Rechtsausschusses wurde jedoch am 5. Mai 1949 die Streichung des Notstandsartikels beschlossen. Manche Wissenschaftler behaupten, dass dies das Ergebnis einer Intervention der westlichen Alliierten sei. Was man feststellen kann, ist, dass weder der Wille, eine Generalklausel im Grundgesetz zu verankern, noch der Widerstand dagegen sonderlich ausgeprägt war. Stattdessen wurden einzelne Notstandsregelungen vorgesehen.

2.2. Die auf Notstandssituationen bezogenen Vorschriften des GG

Im Grundgesetz finden wir drei Vorschriften, die sich unmittelbar auf Notstandssituationen beziehen. Artikel 37 erläutert den Bundeszwang gegenüber einem Bundesland bei Nichterfüllung von Bundespflichten. Das ist nur mit der Zustimmung des Bundesrates möglich. Eng damit verbunden, ist der Artikel 91, der den Bund ermächtigt, Polizeikräfte einzusetzen, wenn das bedrohte Bundesland nicht in der Lage ist, die Gefahr zu bekämpfen. Praktisch wird die Polizei des betreffenden Landes und der anderen Länder unter Kontrolle des Bundes gestellt. In Artikel 81 geht es um den Gesetzgebungsnotstand. Im Fall einer innenpolitischen Krise hat die Bundesregierung die Möglichkeit, Gesetze gegen den Willen des Bundestages unter Mitwirkung vom Bundesrat durchzusetzen. So wird das Gesetzgebungsverfahren verkürzt. Der Bundestag hat jedoch die Möglichkeit, einen neuen Bundeskanzler zu wählen.

Daneben gibt es andere Schutzvorschriften. Laut Artikel 18 kann das BVerfG[17] die Verwirkung von Grundrechten für diejenigen aussprechen, die die Grundrechte gegen die demokratische Grundordnung missbrauchen. Der Artikel 9 II betrifft das Verbot von verfassungsfeindlichen Vereinigungen durch die Exekutive. Aufgrund vom Artikel 21 II kann das BVerfG eine verfassungswidrige Partei auf Antrag des Bundestages, des Bundesrates oder der Bundesregierung verbieten.

[...]


[1] Am 4. Oktober 1958

[2]Wenn die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres Staatsgebietes oder die Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen schwer und unmittelbar bedroht sind und wenn die ordnungsgemäße Tätigkeit der verfassungsmäßigen öffentlichen Gewalten unterbrochen ist, trifft der Präsident der Republik, nach förmlicher Beratung mit dem Premierminister, den Präsidenten der Kammern und dem Verfassungsrat, die durch diese Umstände erforderlichen Maßnahmen.“ Art. 16-1. CHRISTADLER, Marieluise; UTTERWEDDE, Henrik (Hrsg.): Länderbericht Frankreich; Opladen: Leske + Budrich, Leverkusen, 1999, S. 321-322.

[3] Bis zum 29. September 1961.

[4] Paragraphen ohne nähere Angaben sind solche des GG.

[5] Weimarer Reichsverfassung

[6] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Nationalsozialismus I – Von den Anfängen bis zur Festigung der Macht; Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 2003, S. 37-38.

[7] TWENHOEVEN, Jörg: Die Stellung der Legislative im Staatsnotstand- Eine Untersuchung über das Staatsnotrecht in der Demokratie unter besonderer Berücksichtigung des Rechtes der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland (Dissertation); Universität Freiburg (Schweiz), Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Freiburg, 1972, S. 225.

[8] N.B.: In den ersten Jahren der Weimarer Republik (1919-1923) wurde auch der Notstandsartikel intensiv angewandt.

C.f.: MOMMSEN, Wolfgang J.: 1933 Flucht in den Führerstaat. STERN, Carola; WINKLER, Heinrich A.: Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990; Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2001, S. 129.

[9] Verordnung des Reichspräsidenten „Zum Schutz von Volk und Staat“, am 28. Februar 1933. IN: MICHALKA, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche Geschichte 1933-1945 – Dokumente zur Innen- und Außenpolitik; Fischer Taschenbuch Verlag, 1996, S. 20-22.

[10] MICHALKA 1996: 26, 41.

[11] Zur Aushöhlung des parlamentarischen Systems: MOMMSEN, Wolfgang J.: 1933 Flucht in den Führerstaat. IN: STERN; WINKLER 2001: 132-158

[12] JASPER, Gotthard: Improvisierte Demokratie? Entstehung der Weimarer Verfassung. IN: WACKENBAUER, Heinrich (Hrsg.): Die Weimarer Republik, Band I Das schwere Erbe (1918-19 – 1923); Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, S. 133.

[13] TWENHOEVEN 1972: 225.

[14]Man braucht einen derartigen Artikel – den alten Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der jetzt die Nummer 111 trägt –, um die Gefahr für den Bestand des Bundes abzuwehren“ 50. Sitzung, 10. Februar 1949, Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates. Der Parlamentarischer Rat 1948-1949. Akten und Protokolle des Hauptausschusses, S. 657.

[15]PR: 419.

[16] Am 10. Februar 1949 im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates. PR: 658.

[17] Bundesverfassungsgericht

Excerpt out of 30 pages

Details

Title
Die Notstandsverfassung
College
University of Regensburg  (Institut für Geschichte - Neuere und Neueste Geschichte)
Course
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Grade
2,0
Author
Year
2005
Pages
30
Catalog Number
V56999
ISBN (eBook)
9783638515481
ISBN (Book)
9783656793342
File size
620 KB
Language
German
Notes
Enstehung der Notstandsverfassung, Regelung des Notstands, Kritik und Opposition gegen die Notstandsgesetze
Keywords
Notstandsverfassung, Grundgesetz, Bundesrepublik, Deutschland
Quote paper
Gaëlle Schweiger (Author), 2005, Die Notstandsverfassung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56999

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Title: Die Notstandsverfassung



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