Zivilisatorischer Fortschritt ins Grenzenlose? Gen-ethische Grenzfragen von heute und Albert Schweitzers Konfliktethik


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2003

20 Seiten


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitende Bemerkungen

II. Was geschieht in der modernen „Gentechnik“?
1. Zur humanbiologischen Problematik: PND, PID, Stammzellen und mehr
1.1 PND und PID 6
1.2 Stammzellen und therapeutisches Klonen
2. „Grüne Gentechnik“ in der Landwirtschaft: Resistenzbildung, Patent auf Leben u.a.

III. Schweitzers Konfliktethik angesichts gentechnologischer Entwicklungen

I. Einleitende Bemerkungen

Vor genau 50 Jahren (1953) haben Watson und Crick die Struktur der sog. DNA-Doppelspirale entdeckt. Damit war erstmals bewiesen, dass die Erbanlagen für jedes Lebewesen und auch für den Menschen in einer bestimmten molekularen Struktur chemisch festgelegt sind. Das Faszinierende und Revolutionierende dieser Entdeckung ist die Erkenntnis, dass die DNA und damit die Gene als Träger der Erbinformation bei allen Lebewesen vom Bakterium bis zum Menschen aus lediglich 20 variablen chemischen Baueinheiten, den sog. Aminosäuren, bestehen, die nahezu unendliche Kombinationsmöglichkeiten für den Aufbau des Organismus bieten. Die beiden DNA-Stränge ergänzen sich wie Schlüssel und Schloss, d.h. bei der Zellteilung geht von jedem Chromosom je ein DNA-Strang in die Tochterzellen ein, der die komplette Information enthält für die Replikation der jeweils fehlenden Hälfte. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die Erbinformation von der befruchteten Eizelle im Laufe der nachfolgenden Abermillionen von Zellteilungen bis zum ausgewachsenen Individuum in alle Körperzellen lückenlos weitergegeben wird. Damit war also ein biologisches System entdeckt, das seit ca. 2 Milliarden Jahren in allen Lebewesen identisch funktioniert.[1]

Darüber hinaus ist es Anfang dieses Jahres erstmals gelungen, das menschliche Genom komplett zu entschlüsseln. Demnach sind auf 46 Chromosomen etwa 30.000 Gene lokalisiert, die ca. 1 Million verschiedene Proteine herstellen. Die Euphorie über dadurch sich eröffnende unbegrenzte Möglichkeiten, regulierend in die menschliche Keimbahn einzugreifen, ist groß. Allerdings ist damit nichts gesagt über die Funktionen und das Zusammenspiel der Gene im Entwicklungsprozess. Diese sind nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Man könnte die Situation vergleichen mit einem Computer, der zwar den Text des Neuen Testaments vollständig „einlesen“ kann, aber nicht weiß, ob er ihn unter dem Ordner „Badekuren“ oder dem Unterverzeichnis „Fischereiwirtschaft“ abspeichern soll.

Albert Schweitzer hat sich zur Entdeckung der DNA-Doppelhelix, soweit ich weiß, nicht geäußert. Er hätte sie zunächst als eine wunderbare naturwissenschaftliche Bestätigung seiner mystischen Grunderfahrung der universalen Zusammengehörigkeit und Allverbundenheit der Schöpfung rundum nur begrüßen können. Was danach noch zu seinen Lebzeiten am Zukunftshorizont biologisch-technischer Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, heraufzog – für die einen verheißungsvoll, für die anderen gefährlich drohend – dazu hätte sich Schweitzer als Arzt und Ethiker sicher maßgeblich zu Wort gemeldet.

Was ihn in seinem letzten Lebensjahrzehnt hauptsächlich beschäftigte, war ein ganz anderes seinerzeit sehr viel dringenderes Kern problem – nicht des Zellkerns mit seiner DNA, sondern des Atom kerns, des nuklearen Wettrüstens zwischen Ost und West und die daraus erwachsende Bedrohung der ganzen Menschheit. Darum setzte er sich zusammen mit anderen maßgeblichen Wissenschaftlern wie Albert Einstein, Otto Hahn und Linus Pauling mit Erfolg für die Beendigung der Atomwaffenversuche und für eine weltumspannende Friedenspolitik ein.[2]

Auch wenn er sich – wie gesagt – nicht zu der immer lauter tickenden biologischen Zeitbombe geäußert hat, so doch zu einer sehr viel grundsätzlicheren Frage, nämlich welchen Stellenwert das menschliche Streben nach wissenschaftlich-technischem Fortschritt als kulturgestaltende Kraft haben kann und haben darf. Diese Grundsatzfrage und sich daraus ergebende Antworten stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben und seiner Vision eines erneuerten „geistigen und ethischen Menschentums“[3].

Angesichts der Entwicklungen auf dem Gebiet der Gentechnologie werden für die einen große Zukunftshoffnungen wach, für die anderen massive Ängste. Für die einen ist es eine große Chance, das böse Zufallsspiel, das die blinde Natur mit den Genen treibt, durch Korrektur der Erbinformation zu kultivieren und in heilsame Bahnen zu lenken. Andere sehen die Gefahr, dass der Mensch der totalen Machbarkeit und Steuerbarkeit unterworfen wird und dadurch seine eigentliche Menschlichkeit einbüßt.

Was Schweitzer unternahm angesichts der Atomwaffenbedrohung kann auch in dieser Kernfrage für uns richtungsweisend sein: Zunächst einmal hat er sich eingehend über die Faktenlage informiert, ja regelrecht Atomphysik studiert, um die Diskussion auf eine sachliche, wissenschaftlich gesicherte Grundlage zu stellen. Sodann ging es ihm darum Öffentlichkeit zu schaffen. Möglichst viele Menschen sollen am kritisch geführten Diskurs teilhaben und ethisch abwägend Stellung beziehen.

Im Falle der Gentechnologie ist beides dringend vonnöten: Einerseits eine Versachlichung der Diskussion und andererseits die Suche nach einer gemeinsamen Basis für eine ethisch verantwortbare Bewertung der Entwicklungen, in die wir alle bereits eingebunden sind. Diese Basis ist – so behaupte ich – in Schweitzers Ehrfurchtsethik zukunftweisend gelegt. Zu beidem, zur sachlichen Information und zum ethischen Diskurs, soll der heutige Abend einen Beitrag leisten.

II. Was geschieht in der modernen „Gentechnik“?

Vorstehende Übersicht (Folie) vermittelt einen Eindruck des weiten und vielschichtigen Problemkreises, mit dem wir es hier zu tun haben. An welchem Problembereich wir auch ansetzen, stoßen wir unausweichlich auf ethische Grenzfragen.

Hatte sich Schweitzer in seiner Kernfrage über das Fehlen eines breiteren, öffentlichen Engagements beklagt, so ist im Falle der gentechnischen Problematik die öffentliche Diskussion bereits in vollem Gange. Einen ersten Höhepunkt stellt diese Veröffentlichung dar, die aus dem laufenden Internet-Forum „1000Fragen.de“ hervorgegangen ist.[4] Hieraus einige Beispiele gen-ethischer Grenzfragen:

„Wir haben das Wissen, wir haben die Mittel, wir haben den Willen. Haben wir auch die Moral?“ (Angela Mattheis, Bonn, S. 81)

„Wer kann entscheiden, welches Leben nicht lebenswert ist?“ (A.Y., Krefeld, S. 119)

„Kann man Leid aussortieren, ohne auch Lebensfreude auszusortieren, sortiert man im Endeffekt nicht immer Menschen aus?“ (Wim Beusch, Krefeld, S. 118)

„Wieso wird unsäglich ‚herumgezaudert’ bei der Ethikfrage? Es gibt so unendlich viele Menschen denen weitergeholfen werden könnte.“ (Gabriele Ratei, Altenstadt, S. 306)

Wie also steht es mit den Möglichkeiten, durch Anwendung der Gentechnik Krankheit und Leid zu lindern oder gar zu verhindern?

1. Zur humanbiologischen Problematik: PND, PID, Stammzellen und mehr

1.1. PND und PID

Eine bereits längst praktizierte gentechnische Methode findet sich in der Pränataldiagnostik (PND), der vorgeburtlichen Fruchtwasseruntersuchung bei Schwangeren[5]. Dem Fruchtwasser werden bei Verdacht auf schwere Erbkrankheiten fetale Zellen entnommen, die einer DNA-Analyse unterzogen werden. Die werdende Mutter soll dann entscheiden, ob sie ein beispielsweise nachweislich Down-Syndrom geschädigtes Kind (Trisomie 21) abtreiben oder austragen will. Immerhin kann in 97 % der Fälle die Besorgnis der Schwangeren entkräftet werden, hingegen bei 3 % werden genetische Defekte diagnostiziert. In diesen Fällen rät der Arzt meist zur Schwangerschaftsunterbrechung.

Inzwischen gibt es ein erheblich differenziertes Verfahren zur vorgeburtlichen Bestimmung von Erbkrankheiten, das im Falle einer nachgewiesenen genetischen Schädigung einen Schwangerschaftsabbruch erspart. Es ist die sog. Präimplantationsdiagnostik (PID) – eine Methode, die mit einer künstlichen Befruchtung „in vitro“, d.h. in der Petrischale, gekoppelt ist.

[...]


[1] Vgl. Gassen, Hans G.: Gentechnik in der Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung – Möglichkeiten und Risiken. In: Dunkelberg, Hartmut: Lebensmittel durch Gentechnik? Frankfurt/M. 1999, S. 47; Taylor, Gordon Rattray: Die biologische Zeitbombe. Revolution der modernen Biologie. Frankfurt/M. 1969, S. 208ff.

[2] Vgl. Schweitzer, Albert: Menschlichkeit und Friede. Kleine philosophisch-ethische Texte, hrsg. v. Gerhard Fischer, Berlin 1991, S. 160ff.

[3] Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III. Erster und zweiter Teil, hrsg. v. Claus Günzler u. Johann Zürcher. München 1999, S. 339.

[4] Zirden, Heike (Hrsg.): Was wollen wir, wenn alles möglich ist? Fragen zur Bioethik. Aktion Mensch. München, 2003.

[5] Vgl. Vgl. Grawunder, Ulf: Stammzellen – zwischen Machbarkeit und Illusion. Unveröff. Manuskript zu Ders.: Humanmedizinische Möglichkeiten der modernen Gentechnik, insbesondere der Stammzellforschung. In: Schüz, Gottfried (Hrsg.): Leben nach Maß – zwischen Machbarkeit und Unantastbarkeit. Gentechnologie im Lichte des Denkens von Albert Schweitzer. Beiträge zur Albert Schweitzer-Forschung Bd. 10, Frankfurt/M. u.a. 2005, S. 95-114.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Zivilisatorischer Fortschritt ins Grenzenlose? Gen-ethische Grenzfragen von heute und Albert Schweitzers Konfliktethik
Autor
Jahr
2003
Seiten
20
Katalognummer
V56941
ISBN (eBook)
9783638514972
ISBN (Buch)
9783656813620
Dateigröße
399 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Aufsatz gibt zunächst einen bündigen Überblick über aktuelle Entwicklungen der Gentechnik in der Biomedizin wie auch in der sog. "grüne Gentechnik". Sodann werden die daraus erwachsenden ethischen Problemstellungen im Spiegel der Ehrfurchtsethik Albert Schweitzers näher analysiert und diskutiert.
Schlagworte
Zivilisatorischer, Fortschritt, Grenzenlose, Gen-ethische, Grenzfragen, Albert, Schweitzers, Konfliktethik
Arbeit zitieren
Dr. phil. Gottfried Schüz (Autor:in), 2003, Zivilisatorischer Fortschritt ins Grenzenlose? Gen-ethische Grenzfragen von heute und Albert Schweitzers Konfliktethik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56941

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