Wahrheit wie ich sie sehe. Die Reportagetheorie von Egon Erwin Kisch. Eine Analyse


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

21 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kischs Terminologie
2.1 Reporter
2.1.1 Exkurs: Eigenschaften eines Reporters
2.1.1.1 Schlechte Reporter
2.1.1.2 Gute Reporter
2.2 Reportieren
2.3 Schriftsteller
2.4 Kunst und Künstler
2.5 Wahrheit und Wirklichkeit vs. Unwahrheit /Lüge und Fiktion

3. Aufgabe von Reportage und Kunst

4. Kischs Stil

5. Fazit

6. Ausblick

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Egon Erwin Kisch hat für viele eine Vorbildfunktion, wenn es um Reportagen geht. Als „Rasender Reporter“- ein Titel, der ihm irrtümlicherweise anhaften blieb, seit er eine Sammlung seiner Reportagen unter diesem Titel herausgegeben hatte - machte er sich einen Namen. Und das, obwohl er eben nicht wie ein rasender Reporter blitzschnell seine Texte verfasste um sie möglichst brandaktuell in die Presse zu geben, sondern oft sehr lange an ihnen herumfeilte.

Mit dem Beruf des Reporters ist – über die schnelle Berichterstattung hinaus - die Vorstellung verbunden, dass er sich nur auf Tatsachen beruft, sofern es sich um einen seriösen Reporter handelt. Gerade Kisch, der für seine Reportagen berühmt geworden ist und der oft beteuerte, es gehe ihm um die „Wahrheit“, wurde aber oft vorgeworfen, nicht immer bei der Wahrheit geblieben zu sein.

Da der Begriff der „Wahrheit“ häufig mit Objektivität verwechselt wird und ‚Wahrheit’ meiner Ansicht nach immer nur subjektiv sein kann, möchte ich mit der vorliegenden Arbeit herausfinden, was Kisch meinte, wenn er von ‚Wahrheit’ sprach. Vorrangig sollen dabei seine theoretischen Texte Beachtung finden.

2. Kischs Terminologie

Um sich Kischs Auffassung von Wahrheit anzunähern, muss man sich zuerst einmal eingehend mit der Terminologie seiner theoretischen Texten auseinander setzen. Hierbei werde ich schrittweise und chronologisch vorgehen. Eventuelle Wiederholungen sind hierbei möglicherweise nicht vermeidbar, da jeder der analysierten Begriffe in Wechselwirkung zu den anderen stehen kann. Die für die Analyse ausgewählten Begriffe stehen entweder aufgrund ihres Ursprungs oder aufgrund des durch Kisch hergestellten Zusammenhangs in Beziehung zur ‚Wahrheit’. Wichtige Begriffe hierbei sind:

Reporter

reportieren

Schriftsteller

Journalist

Kunst / Künstler

Wahrheit und Wirklichkeit vs. Unwahrheit und Lüge

Auf eine Untersuchung des Begriffs ‚Reportage’ habe ich um unnötige Längen zu vermeiden bei dieser Arbeit bewusst verzichtet, da seine Definition sich als Werk des Reporters aus dem entsprechenden Kapitel ergibt.

2.1 Reporter

Beginnt man die Lektüre von Kischs theoretischen Texten mit dem Wesen des Reporters aus dem Jahr 1918, so scheint zunächst völlig klar zu sein was er meint, wenn er schreibt:

Jeder gute Journalist ist Reporter: der Politiker wie der Volkswirt, […] der Leitartikler wie der Feuilletonist. […] Ohne zu reportieren, d. h. ohne das meritorische und (für die Behandlung des Stoffes) wichtige Material herbeizuschaffen, gibt es keine Behandlung des Themas. […] …, auch der Nichtrealist, bedarf der Milieustudie, und jede Milieustudie ist Reportage.[1]

Zum einen setzt er damit jeden Publizisten einem Journalisten gleich. Als Beweis für diese Behauptung kann man auch sein Buch Klassischer Journalismus ansehen, in das er Werke von Persönlichkeiten wie Martin Luther, Napoleon usw., von Philosophen, Ethikern, Künstlern, Revolutionären, Reformatoren, Politikern und Feldherren aufgenommen hat. Zum anderen gibt er in dem Zitat zu verstehen, dass jeder der Fakten recherchiert ein guter Reporter ist, unabhängig davon welchen Beruf er dem Namen nach ausübt. Wichtig dabei ist zu beachten, dass er von ‚guten Reportern’ spricht. (Vgl. Kapitel Gute Reporter.)

Gleich im nächsten Satz jedoch schreibt Kisch eingrenzend:

Ganz sinnlos aber ist der geringschätzige Unterton der Bezeichnung „Reporter“, dem eine kolossale Überschätzung des Leitartikelschreibers, des Kunstrezensenten, des Verfassers nationalökonomischer Artikel und besonders des feuilletonistischen Plauderers gegenübersteht.[2]

Es scheint Kisch demnach in dem vorher zitierten, ersten Absatz schlichtweg um seine allgemeine Auffassung des Begriffs ‚Reporter’ zu gehen, während er im Folgenden den Wert des ‚Reporters’ innerhalb der Hierarchie bei der Tagespresse meint. Er verteidigt diesen im Folgenden, indem er ihm mehr Wert beimisst als dem Leitartikelschreiber, der nicht einmal den „Sessel“ verlassen muss, um etwas zu schreiben oder den allzu leicht plaudernden Feuilletonisten. Man muss dazu wissen, dass der Reporter, der für die Tagespresse arbeitete, im Ansehen in der Hierarchie noch weit unter dem Leitartikelschreiber und dem Feuilletonisten stand. Kisch selber hatte bis dahin als Lokalreporter gearbeitet und somit auch hinter die Kulissen der Tagespresse geblickt.

In seinem Aufsatz Soziale Aufgabe der Reportage aus dem Jahr 1926 geht es mehr um die Funktion einer bestimmten Art von Reportage als um die Funktion des Reporters. Hier fasst er den Begriff weitläufiger auf. Es ist fraglich, ob er immer noch jeden, der ‚reportiert’ als ‚Reporter’ begreift. Zumindest gibt er es nicht zu erkennen. Indem er den Text mit den Worten „Jeder Reporter, will sagen der Schriftsteller und Journalist, welcher Umstände oder Begebenheiten um ihrer selbst willen aus eigenem Augenschein wahrheitsgemäß darzustellen sich bestrebt, wird bei dieser empirischen Beschäftigung..“[3] usw. einleitet, spricht er auf jeden Fall nicht mehr nur vom „Zeitungsschreiber“, sondern vom „Journalisten“ und „Schriftsteller“, womit er den Begriff ‚Reporter’ nunmehr auf diese beiden Berufsgruppen bezieht, sofern sie „reportieren“ (= „empirische Beschäftigung“).

Auch in Roman? Nein, Reportage (1929)[4] nennt er als Beispiele für ‚Reporter’ Schriftsteller und Journalisten. Beispiele hierfür sind Upton Sinclair, Arthur Holitscher, John Reed und Larissa Reisner, die für ihre Reiseberichte und Reportagen berühmt geworden waren.

Nicht ganz klar drückt sich Kisch in seiner Rede Reportage als Kunstform und Kampfform aus, die er 1935 auf dem 1. internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris hielt. Darin heißt es:

Der Reporter war als die niedrigste Spezies der Zeitungsschreiber verachtet, bevor die Werke eines John Reed und einer Larissa Reisner (zu ihnen gesellten sich die Russen Tretjakow und Kolzow, der Deutsche Holitscher, der Amerikaner Spivak, der Franzose Londres und viele andere) darüber belehrten, dass der Tatsachenbericht auch unabhängig und künstlerisch abgestattet werden könne. Und wer nicht durch sie darüber belehrt wird, hätte aus der feindseligen gehässigen Haltung der kritischen Tempelhüter darüber belehrt werden können.[5]

Hierbei wird der Blick bzw. das Gehör zunächst auf die Kategorisierung des ‚Reporters’ als „Zeitungsschreiber“ gelenkt und erst im zweiten Moment zeigt sich, dass Kisch auch Reed, Reisner, Holitscher usw. als Reporter bezeichnet, obwohl diese nicht ausschließlich die Funktion des „Zeitungsschreibers“ inne hatten.

Zusammenfassung: Mit seinem Text von 1918 legte Kisch noch ein starkes Plädoyer für den ‚Reporter’ im Sinne eines für die Zeitung arbeitenden Journalisten nieder, was meiner Ansicht nach zeigt, wie sehr er diesem Berufsstand verbunden war. In den Folgetexten – wie auch in der Einleitung seines ersten theoretischen Textes – verschiebt sich die Definition des ‚Reporters’ bei Kisch – abgesehen von einigen Rückgriffen auf den „Zeitungsschreiber“ –zum ‚Schriftsteller’.

2.1.1 Exkurs: Eigenschaften eines Reporters

Kisch unterscheidet in seinen theoretischen Texten häufig zwischen guten und schlechten ‚Reportern’. Fangen wir bei den ‚schlechten’ an.

2.1.1.1 Schlechte Reporter

Schlechte Reporter sind nach Kischs Auffassung diejenigen, die sich aus marktwirtschaftlichen Gründen und Gewissenlosigkeit dem Sensationsjournalismus hingeben. Ein Beispiel ist für ihn der damalige Times-Reporter Henry Stephan Oppert de Blowitz. Seine Arbeitsweise war für Kisch genau das Gegenteil von dem, wonach er selbst strebte. Er sah Oppert de Blowitz als Vertreter der „skrupellosen Sensationsmache und Korruption der gelben Jingo-Blätter Amerikas“.[6]

In seinem Buch Klassischer Journalismus leitet er Oppert de Blowitz’ Artikel aus dem Jahr 1900 mit folgenden Worten ein:

Sein Leben ist eine Jagd nach der Nachricht, nach der Erst-Veröffentlichung – ein häufiger Typ im modernen Zeitungswesen. Selbstgefällig, übertreibend und pathetisch schilderte er vor seinem Tode seine siegreichen Intrigen in Artikeln von »Harper’s Monthly Magazine«, als hätte er Großes für die Menschheit vollbracht, weil er bewirkte, dass seine Zeitung ihrer Konkurrenz um eine Stunde voraus war.[7]

An anderer Stelle behauptet Kisch, die einzige Leistung dieses Reporters bestünde darin, Informationen von anderen Zeitungen geschickt abzuschreiben.[8] Unter diesem Aspekt wäre Oppert de Blowitz Kisch zufolge überhaupt kein ‚Reporter’, (der sich vom Schreibtisch erhebt,)[9] sondern ein schlechter ‚Journalist’.

Im Vorwort zum Rasenden Reporter nennt Kisch als weitere Kriterien für einen schlechten Reporter Übertreibung und Unverlässlichkeit.

Zusammenfassung: Schlechte Reporter sind demnach bei Kisch diejenigen, die unverlässlich sind und zu Übertreibung neigen, vor allem aber diejenigen – wie Oppert de Blowitz – deren Antrieb ein rein marktwirtschaftliches Denken zugrunde liegt – ohne einen Nutzen für die Menschheit zu bringen.

2.1.1.2 Gute Reporter

In seinem ersten Aufsatz Wesen des Reporters führt Kisch keinen direkten Vergleich an, was einen guten und was einen schlechten ‚Reporter’ ausmacht. Er schreibt nur „vom Reporter als solchem“.[10] Dennoch nennt er ganz nebenbei die Eigenschaften eines weniger guten ‚Reporters’ („…er mag übertreiben, unverlässliche Nachrichten bringen…“) und zählt die Kriterien auf, die für ihn – zunächst allgemein - einen ‚Reporter’ ausmachen:

1. Er „reportiert“, das heißt er schafft das Material heran.[11]
2. Er benutzt seine „logische Phantasie“, um aus dem recherchierten Material ein möglichst lückenloses Bild herzustellen, denn … „niemals bietet sich aus der Autopsie des Tatortes oder Schauplatzes […] ein lückenloses Bild der Sachlage“.[12]

Je besser ihm dies gelingt, das heißt:

je mehr Material er gesammelt hat („… erreichbar und anzustreben ist ihr [= die Wahrscheinlichkeitskurve) Verlauf und die Bestimmung der größtmöglichen Zahl der Durchlaufspunkte“)[13] und

je näher die Wahrscheinlichkeitskurve mit Hilfe der „logischen Phantasie“

(= Kombinationsfähigkeit) mit der „wirklichen Verbindungslinie aller Phasen des Ereignisses zusammenfällt“,[14]

desto größer ist der „Grad seiner „Begabung“.[15]

Weiter schreibt Kisch:

Der Leser merkt diese selbständige Arbeit des Reporters um so weniger, je besser sie ist![16]

Er spricht damit implizit die Kriterien eines ‚guten Reporters’ aus, wenn er in den besagten Eigenschaften eine Begabung oder Kunstfertigkeit erkennt.

In seinem Vorwort zum Rasenden Reporter fügt Kisch noch hinzu, dass ein’ guter Reporter’ „Erlebnisfähigkeit“ benötige, um schreiben zu können, er aber nicht schreiben würde, ohne etwas erlebt zu haben.[17]

1928 stellt er in seinem Vortrag Aus der Praxis eines Lokalreporters mehrere Forderungen auf…

… die notwendig sind, wenn man ein guter Reporter, ein wirklicher Übermittler des Lebens sein will: Der Wille zur Sachlichkeit, ein starkes soziales Gefühl und der Wille, den Unterdrückten zu helfen. […] –so führt [..] die Beobachtung und Erforschung der kleinsten Dinge zu großen Entdeckungen. Ein Reporter muss mit allen Kreisen Fühlung haben, von den allerhöchsten bis zu den allerniedrigsten. Er muss überall sein, alles sehen, alles beobachten.[18]

Zusammenfassung: Die Anforderungen, die Kisch an einen ‚guten Reporter’ stellt, widersprechen sich nicht, sondern erweitern sich mit der Zeit. Zuerst sind diese für Kisch dadurch bestimmt, dass der Reporter eine größtmögliche Menge an Material recherchiert, um schließlich mit Hilfe einer „logischen Phantasie“ ein möglichst lückenloses Bild von der Sachlage zu zeichnen. Im Laufe der Zeit erweitert Kisch diese Anforderungen um eine Erlebnisfähigkeit (und ohne wirklich etwas zu erleben würde er nie schreiben) die den Reporter zu einem „wirklichen Übermittler des Lebens“ macht. Außerdem solle er neben dem „Willen zur Sachlichkeit“ ein starkes „soziales Gefühl“ besitzen sowie den Willen, den Unterdrückten zu helfen.

[...]


[1] Kisch. Ein Lesebuch für unsere Zeit. S. 346

[2] Kisch. Ein Lesebuch für unsere Zeit. S. 346

[3] Kisch. Ein Lesebuch für unsere Zeit. S. 360.

[4] Kisch. Ein Lesebuch für unsere Zeit. S. 365.

[5] Kisch. Lesebuch. S. 367

[6] Vgl. „gelbe Jingo-Blätter Amerikas“: Kisch. Klassischer Journalismus. S. 56.

[7] Kisch. Klassischer Journalismus. S. 357

Anmerkung: Ein gutes Beispiel in Kischs ‚Reportagen’ für solch menschenverachtenden Sensationsjournalismus ist Tote Matrosen vor Gericht. In: Reportagen von der Seefahrt.

[8] Patka. Stationen eines streitbaren Autors. S. 99.

[9] Vgl. Kisch. Wesen des Reporters. S. 346.

[10] Kisch. Ein Lesebuch für unsere Zeit. S. 346.

[11] Ebd. S. 346

[12] Ebd. S. 347.

[13] Ebd. S. 347.

[14] Ebd. S. 347.

[15] Ebd. S. 347.

[16] Ebd. S. 348.

[17] Patka. Stationen eines streitbaren Autors. S. 96.

[18] Balden, S. Aus der Praxis des Lokalreporters. In: RF, 13.6.1928

Zit n. Patka. Stationen eines streitbaren Autors. S. 103.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Wahrheit wie ich sie sehe. Die Reportagetheorie von Egon Erwin Kisch. Eine Analyse
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V56673
ISBN (eBook)
9783638513012
ISBN (Buch)
9783638792349
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahrheit, Reportagetheorie, Egon, Erwin, Kisch, Eine, Analyse
Arbeit zitieren
Natalie Gorris (Autor:in), 2004, Wahrheit wie ich sie sehe. Die Reportagetheorie von Egon Erwin Kisch. Eine Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56673

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