Neurodidaktik. Eine neue Didaktik?

Eine Untersuchung zu einer neurowissenschaftlich geleiteten Didaktik sowie ein vergleichender Exkurs zum Behaviorismus


Diplomarbeit, 2006

84 Seiten, Note: Sehr gut (1)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Intention

2. Neuroboom

3. Begriffsbestimmungen
3. 1. Neurodidaktik
3. 2. Der Forschungszweig Neurobiologie
3. 3. Behaviorismus und Black Box
3. 4. Der Lernbegriff
3. 5. Didaktik

4. Neurobiologie
4. 1.Wissensschub durch moderne Diagnostiken
4. 2. Das Objekt des Interesses

5. Neue Erkenntnisse der Neurowissenschaft
5. 1. Stress
5. 2. Neuroplastizität
5. 3. Gedächtnis
5. 3. 1. Gedächtnismodelle
5. 3. 2. Langzeitpotenzierung
5. 3. 3. Gedächtnisinhalte
5. 3. 4. Emotionen und Gedächtnis

6. Die Lehrkunst der Neurobiologen
6. 1. Pauken
6. 2. Emotionen und Aufmerksamkeit
6. 3. Entwicklungsfenster
6. 4. Lernen und Medien
6. 5. Roth, Singer und Co

7. Die neurowissenschaftliche Lehrkunst der Pädagogen
7. 1. Gerhard Friedrich
7. 2. Michaela Meier
7. 3. Margret Arnold
7. 4. Internet und Neurodidaktik

8. Vergleich und erste Kritik
8. 1. Lernumwelt
8. 2. Wiederholungen und Pauken
8. 3. Entwicklungsfenster
8. 4. Anknüpfung an Vorwissen
8. 5. Gefühle
8. 6. Tradiertes Wissen in neurowissenschaftlichem Licht
8. 7. Divergenzen bei Neurodidaktikern

9. Zur Theorie der Didaktik in der Neurodidaktik
9. 1. Didaktik bei Friedrich
9. 2. Didaktik bei Meier

10. Eine Zusammenfassung

11. Konklusion

12. Neurowissenschaftliches Licht in der Black Box ?

13. Fazit

14. Persönliches Resümee

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Elemente eines gehirn-fundierten Lernprozesses

Abb. 2: Formen behavioristischen Lernens

Abb. 3: Neuron mit Verzweigungen

Abb. 4: Entwicklung der neuronalen Verknüpfung

Abb. 5: Übersicht Hirnstrukturen I

Abb. 6: Übersicht Hirnstrukturen II

Abb. 7: Vergrößerung der synaptischen Kontaktflächen

Abb. 8: Inhaltsgebundene Gedächtnissysteme

Abb. 9: Lernregeln

1. Intention

In den letzten Jahren hat die Pädagogik zusehends einen naturwissenschaftlichen Bereich rezipiert, der traditionsgemäß eher eine geringe Bedeutung hatte für erziehungswissenschaftliche Aspekte: die Neurobiologie.[1]

Das Interesse war und ist wechselseitig.

Die Neuroforschung versucht mit Wissenschaftlern wie Manfred Spitzer, Gerhard Roth, Wolfgang Singer und vielen anderen neuere Erkenntnisse dieser Disziplin in die Pädagogik zu transferieren, während die Pädagogik ihrerseits versucht eben aus jenen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen Gewinn für die Erziehungspraxis zu ziehen.

Schnell war ein neuer Begriff für diese Verquickung von Neurowissenschaften und Pädagogik generiert: Neurodidaktik.

Der Begriff der Neurodidaktik wurde 1988 von Prof. Gerhard Preiß, Professor für Didaktik der Mathematik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br., geprägt, und als neue wissenschaftliche Disziplin eingeführt.[2]

Infolge dieser neuen Begrifflichkeit und des großen Interesses an diesem Thema, insbesondere von pädagogischer Seite, folgte eine Flut von Publikationen in Buchform oder in Zeitungen und Magazinen, die denken lassen, dass eine neue Lerntheorie - oder besser: Lehr- und Lernkunst - geschaffen wurde, und nun Erkenntnisnovitäten für die pädagogische Praxis zur Verfügung stünden.

Auffallend ist bei Sichtung der vielfältigen Publikationen zum Thema, dass der Terminus Neurodidaktik, manchmal gar Neuropädagogik, nicht explizit bei Neurowissenschaftlern Verwendung findet, sondern vor allem bei Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen.

Der eifrige, anhaltende Diskurs um Pro und Kontra der Neurodidaktik und deren Rezeption mag zum Teil in den schlechten Ergebnissen der PISA-Studien zu suchen sein, in der Hoffnung der Pädagogen, hier aus einem naturwissenschaftlichen Ressort „Amtshilfe“, wenn nicht gar Rezepte für ein besseres Lehren und Lernen zu bekommen.

Generell erfährt die Neurowissenschaft als innovative, vermeintlich zukunftsträchtige Naturwissenschaft zur Zeit große Aufmerksamkeit.

So hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung 34 Millionen Euro für die Hirnforschung zur Verfügung gestellt.

Infolge dieses "Bernstein-Zentren für Computational Neuroscience" genannten Programms des BMBF (benannt nach dem deutschen Physiologen Julius Bernstein (1839-1917)) ist laut Ministerium „ein besonderer Erkenntnisfortschritt ... von der sehr dynamischen Forschungsrichtung der "Computational Neuroscience" zu erwarten. Diese verbindet Experiment, Datenanalyse und Computersimulation auf der Grundlage wohl definierter theoretischer Konzepte. Zentrales Anliegen der Computational Neuroscience ist die Aufklärung der neuronalen Grundlagen von Hirnleistungen von der Verarbeitung komplexer Sinnesreize über Lernvorgänge und den Abruf gespeicherter Information bis zur Planung und präzisen Koordination verhaltens-relevanter Bewegungsmuster.“[3]

Hier werden offensichtlich außerordentlich hohe Erwartungen in die Neurowissenschaften gesetzt, eben auch in Bezug auf den Lernzusammenhang.

Diese Arbeit untersucht, inwieweit tatsächlich durch aktuelle neurowissenschaftliche Ergebnisse neue Instrumente für pädagogisches Handeln zur Verfügung stehen, wie es der Begriff Neurodidaktik andeutet, und inwieweit der Transferversuch neurophysiologischer Erkenntnisse in die Pädagogik gelungen ist.

Zur Untersuchung dieser Fragen wird unter anderem die klassische behavioristische Lerntheorie in Kontrast zur Neurodidaktik gesetzt, da sowohl Behaviorismus als auch die Neurowissenschaften den Anspruch von Exaktheit und Überprüfbarkeit im Sinne von „Hard Science“ für sich beanspruchen, gleichzeitig aber gänzlich unterschiedliche, ja konträre Auffassungen vom Lernen haben.

Die Neurodidaktik selbst sieht sich über den Behaviorismus in der Kritik.

So schreibt der Erziehungswissenschaftler und Schüler des Neurodidaktikers Preiß, Gerhard Friedrich: „Aus persönlichen Erfahrungen weiß ich, dass hier vor allem die Angst dahintersteht, dass sich hinter dieser „neuen“ Didaktik in Wirklichkeit lediglich eine in neuer Sprache verpackte behavioristische (...) Didaktik verbirgt.“[4]

Andere Lerntheorien, wiewohl gleichermaßen wichtig, werden hier nicht ausführlicher thematisiert, um eine kontrastreiche Eingrenzung und Fokussierung zu erlauben; auch würde der Vergleich mit anderen Lerntheorien den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Zudem soll untersucht werden, inwieweit jetzt Licht in die Black Box der Behavioristen fällt, ob also die neueren neurowissenschaftlichen Erkenntnisse tatsächlich einen Blick in das innerpsychische (Lern-) Geschehen zulassen und die bisher verborgenen Prozesse zwischen Stimulus und Reaktion erkennbar werden.

2. Neuroboom

Die Neurowissenschaften erleben in den letzten Jahren einen wahren Boom.

Die Vorgänge und Überlegungen innerhalb dieser Wissenschaften gelangen über Magazine, populärwissenschaftliche Werke, das Internet und Fernsehsendungen in den Blickwinkel einer großen Öffentlichkeit.

Finanzstarke Förderprogramme werden ihnen zuteil, und wo immer der Begriff „Neuro“ vorgesetzt wird, ist eine ungeteilte Aufmerksamkeit gesichert. Die zum jetzigen Zeitpunkt teilweise hitzige Debatte um Schlussfolgerungen aus den Forschungen der Neurowissenschaft, etwa um die Willensfreiheit[5] und die Dualität von Körper und Geist, mag verwundern, denn schon in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts schrieb der Wissenschaftsjournalist Nigel Calder in seinem Buch über die damals aktuelle Hirnforschung: „Da geistige Tätigkeiten die Textur des Geistes zu verändern scheinen, wäre es vielleicht zutreffender zu sagen, dass der Geist das Gehirn ist.“[6]

Und weiter: „Das Gehirn verlangt nach Informationen, wie der Körper nach Speisen verlangt“[7], ein Satz, der stark an Manfred Spitzers Aussage erinnert, dass das Gehirn gar nicht anders kann, als zu lernen.[8]

Ebenfalls in den Siebzigern fiel der Stressforscher und Kybernetiker Frederic Vester durch Arbeiten zum Lernen und zu zentralnervösen Strukturen auf, in denen er sich mit Themen befasste, die heute von der Neurodidaktik neu entdeckt werden.[9]

Die Experimente Libets, auf die der hitzige Diskurs zur Willensfreiheit rekurriert, wurden Anfang der achtziger Jahre gemacht, und die vielgezeigte starke Vernetzung der Nervenzellen nach der Geburt als Beleg für Neuroplastizität (siehe Abbildung 4), findet sich schon in Peter Russells „The Brain Book“ von 1979 (deutsch 1982), mit Verweis auf die Autoren von 1972.[10]

Warum also gelangen diese Forschungsergebnisse und Gedanken erst zwanzig bis dreißig Jahre später in eine breite Diskussion?

Ein Aspekt mag wissenschaftshistorischer Natur sein: Es braucht immer einige Jahre bis Jahrzehnte, bis neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse ausgewertet, in Fachkreisen

publiziert und diskutiert werden, und schließlich ein Transfer - auch über eine Transkription in einen nicht-wissenschaftlichen Terminus - in die breite Öffentlichkeit erfolgt.

Ein weiterer Aspekt ist vielleicht die suggestive Kraft der bunten Bilder des Gehirns im Scanner, der denken lässt, man sehe Denken.

Die farbkodierten Hirnscannerbilder dominieren häufig die Publikationen über die aktuelle Hirnforschung, und schaffen so den Eindruck einer Visualisierung von Vorgängen, die vorher nicht sichtbar und nicht vorstellbar waren.

Sie faszinieren durch ein visualisiertes Versprechen, dass der nichtwissenschaftliche Betrachter in sie hineininterpretiert, und das sie letztlich nicht halten können.

Zu den modernen Hirnuntersuchungsverfahren erfolgen in späteren Kapiteln noch Konkretisierungen.

3. Begriffsbestimmungen

3. 1. Neurodidaktik

Wie schon erwähnt, wurde der Terminus Neurodidaktik durch den Didaktikprofessor Preiß kreiert und späterhin hauptsächlich von Pädagogenseite weiter eingeführt, daher soll hier die Definition von Preiß und die des Erziehungswissenschaftlers Friedrich, dessen Mentor Preiß ist, vorgestellt werden:

„Der Begriff Neurodidaktik umschreibt die Aufgabe, dem Zusammenhang zwischen den neurologischen Bedingungen des Menschen und seiner Lernfähigkeit nachzugehen, um daraus Erkenntnisse für die Didaktik zu gewinnen. Die Umsetzung der Erkenntnisse in pädagogisches Planen und Handeln soll dabei vom Ziel geleitet werden, die Würde des Menschen zu bewahren und zu mehren.“[11]

Preiß und Friedrich bereichern in dieser Beschreibung die Lehr- und Lernkunst mit neurowissenschaftlichen Intentionen durch moralisch-ethische Werte, wahrscheinlich auch um Kritik zu umgehen, die davon ausgeht, „dass eine Didaktik, die sich auch mit den materiellen Grundlagen menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns beschäftigt, zwangsläufig auch eine reduzierte Didaktik sei.“[12]

Unabhängig vom auffällig großen Interesse der Erziehungswissenschaftler und praktizierender Pädagogen an neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, sieht Friedrich die Neigung der Naturwissenschaftler zu pädagogischen Aussagen kritisch, da jene es für „unnötig halten, sich mit „pädagogischem Wissen“ auseinander zusetzen und so bleibt dann auch nicht selten die Qualität solcher Aussagen weit hinter dem zurück, was für professionelle Pädagogen akzeptabel ist.“[13]

Die Pädagogin Michaela Meier entwickelt einen Entwurf einer Theorie der „Neuropädagogik“, so der gleichnamige Titel ihres Buches, in dem sie eine auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Didaktik bindend an einer „Aisthetischen Erziehung“ zu einer Pädagogik verknüpft, deren Kernaussagen um Wahrnehmungsschulung und einem erweiterten Bewusstsein kreisen.[14]

Die Neurodidaktik Meiers ist also in ein größeres Theoriegebilde eingebunden, worauf in Kapitel 7 noch ausführlicher eingegangen wird.

In Folge des großen Interesses an der Neurodidaktik insbesondere von pädagogischer Seite, wurden und werden viele Vorstellungen, Tipps und Rezepte zum „hirngerechten Lernen“ mit unterschiedlichsten Qualitätsansprüchen –wiederum hauptsächlich von Pädagogenseite- publiziert, von denen hier in Abbildung 1 ein Beispiel aus „Unterricht Pflege“ von Christian Kania gezeigt wird (siehe S. 10):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Elemente eines gehirn-fundierten Lernprozesses (Quelle: Kania, „Neurodidaktik im Pflegeunterricht“ in Unterricht Pflege 4/2004, S. 9)

Neurodidaktik soll in dieser Untersuchung zunächst einmal als das angesehen werden, was es offensichtlich impliziert: eine durch neuere neurowissenschaftliche Erkenntnisse geleitete Lehr- und Lernkunst.

3. 2. Der Forschungszweig Neurobiologie

Die Neurobiologie, auch häufig als Neurophysiologie oder im weiteren Sinne als Neurowissenschaft bezeichnet, ist eine Spezialisierung der anatomisch-physiologischen Forschung, und korrespondiert mit der Neurologie der Humanmedizin.

„In einem interdisziplinären Ansatz werden traditionell getrennte Disziplinen wie Evolutionsbiologie, Entwicklungsbiologie, Biochemie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Physiologie, Anatomie und Verhaltensbiologie mit dem Ziel zusammengeführt, das Nervensystem auf allen Komplexitätsebenen zu verstehen.“[15]

Die Neurowissenschaft beschäftigt sich mit der Funktionsweise der kleinsten Einheiten des Nervensystems, den Neuronen oder Nervenzellen, sowie mit dem Nervensystem als funktioneller Einheit insgesamt.

Untersucht werden sowohl elektrische wie chemische Reizleitung, als auch bestimmte Funktionsbereiche des peripheren und zentralen Nervensystems; zudem fließen in diese Untersuchungen Ergebnisse aus den genannten anderen Wissenschaftsdisziplinen bereichernd ein.

Durch moderne Diagnoseverfahren hat man in der Neurobiologie und insbesondere zur Hirnphysiologie erstaunliche Fortschritte gemacht.

Welcher Art die Diagnoseverfahren sind und wie die Wissensfortschritte der Neurowissenschaften aussehen, wird in Kapitel 5 ausführlicher dargestellt.

Hauptprotagonisten in der öffentlichen Diskussion im Bereich der Neurowissenschaften sind zur Zeit insbesondere Professor Manfred Spitzer, Mediziner, Psychiater und Psychologe, Professor Wolf Singer, Direktor am Max- Planck- Institut für Hirnforschung, sowie der Verhaltensphysiologe Professor Gerhard Roth, die durch viele Publikationen zum Thema auffallen und in den Medien als Verfechter einer biologistischen Haltung zu Geist und Bewusstsein in Erscheinung treten.

Besonderes Augenmerk liegt im Rahmen dieser Arbeit auf den Untersuchungen zum zentralen Nervensystem, speziell den kognitiven, emotionalen und Gedächtnisleistungen des Gehirns, die mit Lernvorgängen verknüpft sind.

Als Leitsatz mag hier die Aussage Manfred Spitzers dienen, der durch besonders viele Publikationen zu Lernen und Gehirnfunktionen auffällt: „Wer lehrt, sollte etwas vom Lernen und dem Organ des Lernens, dem Gehirn, verstehen.“[16]

3. 3. Behaviorismus und Black Box

Eng mit dem Lernen verknüpft und jedem mit Psychologie und Pädagogik Vertrautem sind die Pawlowschen Hunde ein selbstverständlicher Begriff; zudem haben sie in die Alltagssprache Eingang gefunden.

Der russische Physiologe Iwan Pawlow (1894 – 1936) war eigentlich mit der Verdauungsphysiologie von Hunden befasst, als er eher zufällig beobachtete, dass regelmäßig der Hundefütterung vorangehende akustische Reize bei den Tieren schon die Sekretion von Verdauungssäften auslösten.

Das war die Geburtsstunde der klassischen Konditionierung, die in ihren Erweiterungen und Differenzierungen von Skinner und Watson sowie anderen als Behaviorismus zusehends Bekanntheit und Anwendung fand. Reaktionen konnten also nicht nur direkt über einen spezifischen Stimulus erzeugt werden, sondern ein assoziierter neutraler Reiz konnte die gleiche Reaktion hervorrufen.

Der amerikanische Psychologe John B. Watson formulierte in Anlehnung an die Experimente Pawlows in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Reiz-Reaktions-Theorie, der zufolge auch höhere Verhaltensweisen wie etwa emotionale Reaktionen und Handlungen aus einfachen, beobachtbaren Reaktionen erklärbar wären. Er vertrat die Auffassung, dass auch emotionale Reaktionen durch ein Stimulus-Response-Geschehen erlernt sind, ähnlich wie andere Fertigkeiten.

Die behavioristische Lerntheorie wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten insbesondere durch Burrhus Frederic Skinner konkretisiert und erweitert.

Skinner entwickelte das klassische konditionierende Lernen weiter zum operanten Konditionieren bzw. programmierten Lernen, das mit positiven und negativen Verstärkern als Reizdifferenzierung arbeitet.

Nach Auffassung der frühen Behavioristen kann man also mit ausreichend differenzierten Stimuli in Kombination mit adäquaten Verhaltensverstärkern Lernsituationen schaffen, in denen der Lernende bei angemessener Wiederholung als reaktives Verhalten Erlerntes als Wissen reproduzieren kann.

Die spezielle, weil individuelle Lerndisposition des Schülers in Bezug auf Motivation und Emotion werden hier, da nicht eruierbar (Black Box), nicht berücksichtigt; der Schüler erscheint wie eine Input – Output – Maschine mit unbekannter Mechanik.

Die Versuche des Psychologen und Verhaltensforschers Skinner befassten sich zunächst mit Tierexperimenten in sogenannten Problemkäfigen, die späterhin als Skinner Boxen bezeichnet wurden, und mündeten schließlich in Leselernmaschinen, die bei Kindern das operante Lernen unterstützen sollten.[17] Jedoch war die Zeit für solche Maschinen wohl noch nicht reif: Computer hatten immerhin noch die Größe von Wohnräumen.

Ein weiterer prominenter Vertreter des Behaviorismus ist der Psychologe Albert Bandura, der die Theorie des Modell- bzw. Imitationslernens formulierte.

Auch hier bietet die Umwelt einen Stimulus, der in Form von Personen, etwa Filmidolen, zum Nachahmen einlädt und somit ein Imitationsverhalten hervorruft.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Formen behavioristischen Lernens (Quelle: Dudel/Menzel/Schmidt: „Neurowissenschaft“, Springer Vlg. 2001, S. 492)

Es fällt auf, dass auch dieser Zweig der Verhaltenspsychologie, der durch deutliche Assoziation zu Lernvorgängen auch von Pädagogen rezipiert und genutzt wurde, seine Ursprünge in der naturwissenschaftlichen Disziplin der Physiologie gründet, ähnlich wie die Neurodidaktik, die hier zu untersuchen ist.

Ein weiterer Grund, den Behaviorismus in Vergleich zur Neurodidaktik zu setzen.

Zudem legt der Behaviorismus, wie schon erwähnt, großen Wert auf seine überprüfbare Empirie, denn, so Watson: „Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht, ist ein vollkommen objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft.“[18]

Die Objektivität dieser naturwissenschaftlich geprägten Psychologie besteht in der Beobachtung des Verhaltens, speziell eines Reiz-Reaktions-Schemas, nicht in der Erkundung innerpsychischer Vorgänge, wie sie die Freudsche Psychoanalyse versuchte, von der sie sich deutlich abgrenzen wollte.

Dieser Abgrenzungsversuch zur Psychoanalyse äußert sich in Aussagen wie: „Psychologie, wie man sie sich im allgemeinen vorstellt, ist in ihren Methoden etwas esoterisch.“[19]

Die Behavioristen versuchten die Unbeobachtbarkeit und auf Vermutungen beruhenden Vorgänge des Bewusststeins auszugrenzen, da „... der eigentliche Vorgang des Denkens verborgen“[20] bleibt, somit wird „nicht das Denken selbst, sondern die Ergebnisse des Denkens ... erfasst.“

„Die Behavioristen ... untersuchten nur extern beobachtbares Verhalten und verbaten sich jede Aussage über interne mentale Vorgänge,“[21] so der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Chalmers.

Das Organ des Denkens wurde damit zur Black Box erklärt: die Vorgänge des Gehirns waren unbeobachtbar und somit im strengen naturwissenschaftlichen Sinne nicht deutbar.

Bestenfalls das Individuum selbst wisse, was es denke, doch die unbewussten Vorgänge seien auch ihm verborgen.[22]

Man könnte meinen, fast hundert Jahre nach Entstehung der behavioristischen Lerntheorie wird diese durch das vorgenannte Zitat Spitzers (S. 12) vom Organ des Denkens konterkariert.

3. 4. Der Lernbegriff

Lernen ist in dieser Untersuchung ein zentraler Begriff, denn sowohl der klassische Behaviorismus als auch die moderne Neurodidaktik, beide mit dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität, beschäftigen sich intensiv mit den Auswirkungen bzw. dem Vorgang des Lernens und den daraus zu ziehenden Resultaten für das Lehren; der Behaviorismus mit empirisch-ethologischen Instrumenten, die Neurodidaktik mit den Erkenntnissen der Neurophysiologie.

Auch jeder Nicht-Pädagoge hat Erfahrungen mit Lernen, sei es weil er selber zur Schule ging, sei es, weil er selber Kinder lehrt und erzieht, doch fragt man ihn nach einer Definition für Lernen, so tut er sich schwer.

Von Seiten der Psychologie und Pädagogik gibt es Definitionen für den Lernvorgang, die aber durchaus verschiedene Deutungsmöglichkeiten zulassen:

„Wir können Lernen als einen Prozess definieren, der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrung aufbaut. Lernen ist nicht direkt zu beobachten. Es muß aus den Veränderungen des beobachtbaren Verhaltens erschlossen werden.“[23]

Diese Beschreibung für Lernen lässt deutlich ihre behavioristischen Ursprünge mit dem Black Box Paradigma erkennen, indem sie nichts über die Vorgänge im Lernenden sagt.

„Lernen, die Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten wie auch von Gefühlen und Verhaltensweisen“[24] ist ein sehr allgemein gehaltener Umriss der Microsoft Enzyklopädie für Lernprozesse, der um das Element Gefühl angereichert ist, ein Element, welches noch eine größere Bedeutung in Zusammenhang mit der Neurodidaktik spielen wird.

Gemeinsam ist den beiden Definitionen jedoch der Begriff des Verhaltens, den wir auch in der vergleichenden Verhaltensforschung bei Eibl-Eibesfeldt finden: „Im täglichen Gebrauch versteht man unter Lernen den Erwerb neuer Fertigkeiten und Kenntnisse. Man kann den Begriff wohl immer dann anwenden, wenn sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Verhaltensweisen in bestimmten Reizsituationen änderte ...“[25]

Der Kybernetiker Frederic Vester bringt Lernprozesse in einen zwingenden Zusammenhang mit dem Nervensystem, und formuliert 1975 Lernen in einem Versuch mit Affen wie folgt: „ Die Reaktionen ändern sich von Mal zu Mal und beziehen die jeweils vorangegangenen Erfahrungen mit ein. Wie vielfach in der Biologie führt das Wirken des Nervensystems ... über das Zusammenspiel vieler einzelner Reaktionen also zu weit mehr als zu bloßer Summierung. Hier ist Lernen im Spiel – und das hochkomplexe Zusammenspiel dabei nennen wir Verhalten.“[26]

In der Soziologie findet man zum Lernen wiederum Verweise auf behavioristische Modelle,[27] wie dem instrumentellen Lernen oder dem Lernen am Modell. Andere, primär soziologische Lernvorgänge werden unter dem Begriff Sozialisationsprozesse und Erziehung subsumiert, und nicht explizit unter Lernen abgehandelt.

Bei den Neurophysiologen findet man die selbstsichere Aussage, dass den Lernprozess zu verstehen „heißt, das Gehirn zu verstehen“,[28] da „durch Lernen Verbindungen durch Neuronen geschaffen werden, die ein gemeinsames Reagieren dieser Neuronen bewirken. Wann immer gelernt wird, ändern sich nachweisbar Verbindungen zwischen Nervenzellen“.[29]

Diese Vernetzung von Neuronen beim Lernvorgang wird von Neurowissenschaftlern als „Neuroplastizität“ bezeichnet, also als Formbarkeit der hirnorganischen Struktur bei Lernprozessen.

Eine biologistische Auffassung vertritt auch die Pädagogin Annette Scheunpflug, die allerdings etwas allgemeiner und umfassender formuliert: „Lernen ermöglicht die Entstehung von Individualität. Lernen ermöglicht individuelle Akzentsetzungen in der Ausprägung der Persönlichkeit ... Über Lernen werden damit auch individuelle Überlebenschancen verbessert und die innerartliche Konkurrenz angeheizt.“[30]

Definitionen und Umschreibungen für Lernen, dies sollte hier andeutungsweise gezeigt werden, sind vielfältig und interpretationsfähig, daher ist nur folgerichtig, was der Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart über das Lernen sagt: „Es gibt nicht nur ein Lernen, sondern verschiedene Formen, Dimensionen und Qualitäten des Lernens, die von einer Reihe von Lerntheorien sehr unterschiedlich be- und ausgeleuchtet werden.“[31]

Einer der größten europäischen Didaktiker, Johann Amos Comenius (1592-1670), sagte zum Lernen: „... Lernen heißt suchen, etwas zu wissen, oder das Wissen (die Kenntnis) der Dinge suchen ... Wissen heißt etwas mit dem Geiste erfassen ...“[32]

In unserer Wissensgesellschaft hat Lernen eine immer größere Bedeutung, zumal zusehends ein lebenslanges Lernen eingefordert wird.

Allenthalben werden Qualifizierungen, Weiter- und Fortbildungen feilgeboten, mitbedingt durch wechselhafte arbeitsmarktpolitische Situationen, und mancher Schüler stöhnt unter der Last des selbstorganisierten Lernens und des Erlernens diverser Qualifikationen und Kompetenzen in den allgemein bildenden oder beruflichen Schulen.

Im Kontext dieser Arbeit soll Lernen insbesondere von neurowissenschaftlicher Seite betrachtet werden, und wird zunächst ganz allgemein als gesteuerter oder ungesteuerter Wissens- und Fähigkeitserwerb mit psychischen, kognitiven und sozialen Dimensionen verstanden.

Auffallend ist, dies sei hier noch angemerkt, dass sowohl Pädagogik als auch Soziologie sich – unter anderen - der ethologischen Lernpsychologie des Behaviorismus sowie anderer Lerntheorien bedienen, und keine originär pädagogische bzw. soziologische Beschreibung von Lernen entwickelt haben.[33]

Auf die für das Lernen unabdingbaren Gedächtnisprozesse wird im Kapitel „Gedächtnis“ eingegangen.

3. 5. Didaktik

Wenn von einer Neurodidaktik die Rede ist, muss der Begriff der Didaktik, einer Subdisziplin der Pädagogik, der in seiner Kurzform sowohl Lehr- und Lernkunst als auch Methodik des Unterrichts bedeuten kann, kurz erläutert werden.

Historisch wurde dem Begriff Didaktik durch die „Didactica magna“ des Comenius große Verbreitung zuteil.

Heute wird Didaktik folgendermaßen definiert: „Didaktik ist im umfassenden Sinn der allgemeinen Didaktik die Wissenschaft des Lehrens und Lernens in allen pädagogischen Handlungsfeldern ... und im schulpädagogischen Sinn die Theorie des Unterrichts.“[34]

Nach Gudjons (der sich auf D. Lenzen bezieht) sind Lehr- und Lernprozesse immer als organisiert zu betrachten, daher sei „Didaktik zu bestimmen als wissenschaftliche Reflexion von organisierten Lehr- und Lernprozessen.“[35]

Der Vertreter konstruktivistischen Lernens, Horst Siebert, beschreibt Didaktik als „Vermittlung zwischen der Sachlogik des Inhalts und der Psychologik des/der Lernenden. Zur Sachlogik gehört eine Kenntnis der Strukturen und Zusammenhänge der Thematik, zur Psychologik die Berücksichtigung der Lern- und Motivationsstrukturen der Adressat/innen.“[36]

[...]


[1] Im Folgenden werden Neurobiologie, Neurophysiologie und der umfassendere Begriff Neurowissenschaft synonym gebraucht.

[2] Vgl. http://www.neurodidaktik.de; 30.11.2005

[3] http://www.bernstein-zentren.de; 30.11.2005

[4] Friedrich 1995, S. 11

[5] Vgl. Geyer (Hg.) 2004, „Hirnforschung und Willensfreiheit“ (suhrkamp)

[6] Calder 1972, S. 23

[7] ebd., S. 33

[8] Vgl. Spitzer 2003, S. 192

[9] Vgl. Vester 1978, „Denken, Lernen, Vergessen“ (dtv)

[10] Vgl. Russell 1982, S. 40

[11] Friedrich, 1995, S. 11

[12] Friedrich 1995, S. 12

[13] ebd., S.13/14

[14] Vgl.: Meier 2004, S.279

[15] Dudel/Menzel/Schmidt 2001, S. VII

[16] Spitzer 2002, S. 19

[17] Vgl. Skinner/Correll 1967, S. 133 - 163

[18] Watson 1997, S. 13

[19] Watson 1997, S. 17

[20] Skinner 1967, S. 17

[21] Chalmers, Spektrum der Wissenschaft Digest, 4/2004, S. 12

[22] Vgl. Skinner 1967, S. 17

[23] Zimbardo 1995, S. 263

[24] Microsoft Encarta Enzyklopädie 2004, CD-ROM

[25] Eibl-Eibesfeldt 1999, S. 417

[26] Vester 2004, S. 17

[27] Vgl. Tillmann 2001, S.83 ff

[28] Spitzer 2004, S. 31

[29] Spitzer 2000, S 160

[30] Scheunpflug 2001, S. 52

[31] Lenzen (Hg.) 2000, S. 146

[32] zitiert nach Golz/Korthaase/Schäfer (Hg.) 1996, S. 130

[33] Vgl. Gudjons 2001, S. 213 - 219, sowie Tillmann 2001, S.78 - 83

[34] Schaub/Zenke, „Wörterbuch Pädagogik“, 2000, S. 152/153, dtv, Digitale Bibliothek (CD-ROM)

[35] Gudjons 2001, S. 233

[36] Siebert 2000, S. 2

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Neurodidaktik. Eine neue Didaktik?
Untertitel
Eine Untersuchung zu einer neurowissenschaftlich geleiteten Didaktik sowie ein vergleichender Exkurs zum Behaviorismus
Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)  (Allgemeine Pädagogik)
Note
Sehr gut (1)
Autor
Jahr
2006
Seiten
84
Katalognummer
V56667
ISBN (eBook)
9783638512992
ISBN (Buch)
9783638708715
Dateigröße
3534 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Neurodidaktik, Didaktik, Eine, Untersuchung, Didaktik, Exkurs, Behaviorismus
Arbeit zitieren
Frank Christian Petersen (Autor:in), 2006, Neurodidaktik. Eine neue Didaktik?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56667

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