Die Überwindung der Vernunft im Gesamtkunstwerk "Hair"


Zwischenprüfungsarbeit, 2000

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Entstehungsgeschichte

3. Die Gattungseinordnung
3.1 Musical
3.2 Sprechtheater
3.21 Das klassische Drama
3.22 Die Geburt der Tragödie
3.23 Das epische Theater
3.3 Das Gesamtkunstwerk

4. Grenzüberschreitungen
4.1 Realität und Fiktion
4.2 Die Grenzen des Individuums
4.3 Kultureller Crossover
4.4 Die Grenzen des Sagbaren

5. Die Glorifikation des Irrationalen
5.1 Aquarius
5.2 Hair
5.3 My Conviction
5.4 Where Do I Go
5.5 Good Morning, Starshine
5.6 Let The Sunshine

6. Schluß

Einleitung

Die Geschichte von „Hair“, dem Bühnenwerk, das wie kein zweites das Lebensgefühl der Hippiebewegung der sechziger Jahre transportiert, ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Ähnlich wie die Subkultur der Hippies von San Francisco aus auf große Teile der Jugendlichen überall auf der Welt übergriff, startete auch „Hair“ von New York aus zu einem Triumphzug um die Welt. Bereits in den ersten zwei Jahren, hatte es annähernd 4 Millionen Besucher.

Dabei rief es von Anfang an bei der Kritik sehr verschiedene Reaktionen hervor. Einerseits feierten Theaterkritiker der New York Times und der Saturday Review es als multisensual theater, das die authentische Stimme der Gegenwart wiedergebe, und auch Stanley Richards schreibt in seiner Textbuchsammlung „Great Rock Musicals“, New York 1979, auch die konservativsten Kritiker zögen vor dieser „rock ´n´ rebellion“ den Hut (S. 381). Andererseits aber gab und gibt es seit der Uraufführung 1967 immer wieder Stimmen, die es für „vulgär, billig und geschmacklos“ halten und von einer „banalen Handlung“ sprechen, deren „Botschaften [teilweise] fatal in die falsche Richtung gegangen sind“, wie z.B. Glenn Loney in dem Beitrag „Galt MacDermott“ [in: Carl Dahlhaus (Hrsg), Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, Band 3, München 1989, S. 617f].

Möglicherweise deshalb, wahrscheinlicher aber, weil die Gattung Musical insgesamt immer noch dem reinen Unterhaltungstheater zugerechnet wird, gibt es in der Flut der Kritiken und Rezensionen, die zu Hair geschrieben wurden, kaum Sekundärliteratur, die sich analytisch mit diesem Werk beschäftigt. Eine höchst interessante Ausnahme bildet der Artikel „G.Ragni / J. Rado / G. MacDermott – Hair“ von Armin Geraths, erschienen in Grabes, Das amerikanische Drama der Gegenwart, Kronberg 1976, S. 65-85. Dabei besteht schon allein wegen des ungebrochenen Publikumzustroms, der sich in immer wiederkehrenden Tourneen äußert, in verschiedenen Punkten Klärungsbedarf, wie zum Beispiel in der Frage, ob es sich bei „Hair“ überhaupt um ein Musical handelt. Dieser Problematik wird die vorliegende Arbeit im zweiten Kapitel nachgehen.

Zunächst muß jedoch geklärt werden, über welches „Hair“ wir überhaupt reden; denn seit seiner Uraufführung am Public Theater 1967 veränderte sich häufig sein Gesicht, paßte sich sowohl der Zeit als auch regionalen Gegebenheiten an. Die Bearbeitung dieser Frage wird den Anfang der Arbeit bilden.

Wenn diese formalen Ansätze besprochen sind, wird endlich der Inhalt zu behandeln sein. Da sich dieser äußerst vielschichtig darstellt, ist es im begrenzten Rahmen dieser Arbeit unumgänglich, sich auf einen Aspekt zu beschränken. Neben den Themen Freiheit, Liebe, Antirassismus und Pazifismus, die explizit angesprochen das Bühnenstück prägen, zieht sich unterschwellig eine Tendenz wie ein roter Faden durch die ungefähr zweistündigen Aufführungen, die im Sturm und Drang, also im Europa des ausgehenden 18. Jahrhunderts, ihren Ausgang nahm, mit Friedrich Nietzsche Einzug in die Philosophie hielt und im Dada als Reaktion auf die Kriegsgreuel 1914-18, sowie im sich anschließenden Surrealismus ihren Höhepunkt erlebte, nämlich die Abkehr von der Vernunft. Der Nachweis dieses Ansatzes soll den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden. Er wird auf zweierlei Arten verwirklicht. Einerseits werden in „Hair“ Grenzen negiert und damit einer Kategorisierung der Welt, die der Vernunft zu Grunde liegt, entgegengewirkt, andererseits wird der polare Dualismus, die Vorbedingung für jedes vernünftige Urteil über die Welt, aufgehoben. Dies zu zeigen und zu interpretieren ist der Sinn der letzten beiden Kapitel.

Die Entstehungsgeschichte

Man kann den Kreis der Menschen, die „Hair“ zu dem gemacht haben, was es ist, eigentlich nicht eingrenzen. Da wären als erste natürlich die Autoren Gerome Ragni und James Rado zu nennen, die das Libretto aus ihrer Gelegenheitsdichtung auf Schmierpapier, Briefumschlägen und Servietten[1] in einer Art organischer Collage zusammentrugen. Sie fanden ihr musikalisches Pendant in dem genialen Komponisten Galt MacDermot, der bereits 1961 mit „African Waltz“ einen internationalen Erfolg gehabt hatte und außer Musicals vor allem Ballet- und Kirchenmusik schuf. In Zusammenarbeit mit Regisseur Gerald Freeman produzierten sie die Urfassung am Public Theatre, wo „Hair“ am 29.10.1967 Premiere feierte. Nach einem Wechsel ins Cheeta, einen Club in Greenwich Village, der keine personellen und dramaturgischen Veränderungen mit sich brachte, entschied sich 1968 Michael Butler, das Stück an den Broadway zu bringen. Die Broadwaypremiere fand am 29.4.1968 statt. Hierfür wurden neue Szenen, z.B. die berühmte Nacktszene, und neue Lieder eingefügt, andere Lieder wie „Exanaplanetooch“ wurden gestrichen und die Handlung auf ein Minimum verkürzt. Wie sehr sich das Stück schon zu diesem Zeitpunkt von seinen Verfassern losgelöst hatte, mag die Tatsache belegen, daß die Autoren Rado und Ragni, die die Rollen des Claude und des Berger spielten, wegen Differenzen mit dem Produzenten vorübergehend des Theaters verwiesen, ihre Rollen kurzerhand umbesetzt wurden.[2] Aber auch die Brodwayversion ist keineswegs eine endgültige Fassung dieser losen Szenenfolge, die sich auf eine organische Weise zu einem Gesamtkunstwerk[3] verbindet. Vielmehr wurden immer wieder Einzelheiten geändert, der sich rasant verändernden Zeit angepaßt, so wurde z.B. der auf die Nacktszene folgende Aufmarsch als Polizisten verkleideter Schauspieler später wieder fallengelassen, da das Schockmoment der Nacktheit sich abgenutzt hatte und „das Einschreiten der Ordungshüter [...] nur noch als altmodischer Klamaukeffekt verstanden [worden wäre]“[4].

Hinzu kam, daß, anstatt mit dem Broadwayensemble und dem einmal einstudierten Stück auf Tournee zu gehen, Butler lieber in mehreren Städten der USA lokale Produktionen des Stückes laufen ließ, um regionale Themen in das Skript einflechten zu lassen.[5] Tatsächlich war ja die Collageform des Werkes, die bereits eine große Bandbreite von Themen beinhaltete, geradezu prädestiniert dazu, es auf diese Weise kontinuierlich zu aktualisieren. Ebenso verfuhren auch die ausländischen Produktionen von „Hair“: sie paßten die Sprache und die Gestaltung einzelner Szenen den jeweiligen nationalen Eigenheiten an. In Deutschland geschah dies zuerst unter dem Produzenten Werner Schmid und der Regie von Bertrand Castelli. Choreograph war Paul Godkin. Die Übersetzung für die Uraufführung, die am 24.10.1968 im Münchener Theater an der Brienner Straße stattfand, besorgten Ulf von Mechow, Karl-Heinz Freynick, die Lieder übertrug Walter Brandin.

Es würde zu weit führen, alle, die dem Stück jemals ihre eigene Note gaben, zu erwähnen, all die Schauspieler, Regisseure, Produzenten und Choreographen in all den Ländern, in denen „Hair“ je aufgeführt wurde. Als letzter sei noch Milos Forman genannt, der das Bühnenwerk 1979 bei United Artists gemeinsam mit dem Choreographen Twyla Tharp verfilmte. Dabei ließ er die meisten der Lieder in eine völlig neue, bis dahin in keiner Inszenierung angedachten Handlung ein, deren Aussage aber weitgehend mit dem der Bühnenfassungen identisch blieb. Allein die Gruppenstruktur betreffend entschied er sich, an die Stelle der unterschiedslosen Gleichberechtigung eine natürliche Hierarchie zu setzen, und verhalf so dem Plot zu einem größeren Realismus.

Über ein Werk zu sprechen oder schreiben, das so oft sein Gesicht verändert hat, ist recht schwierig. Fast unmöglich ist es, nach der Autorenintention zu suchen in einem Stück, an dem so viele Menschen mitgewirkt haben. Daher muß der Interpretationsansatz ein textimmanenter sein. Dies wird im Verlauf der vorliegenden Arbeit teilweise so weit gehen, daß das Werk personal gestaltet wird, als habe es sich selbst geschaffen. Es mag dem Verfasser als romantisierende Verkürzung nachgesehen werden, zumal außertextale Bezüge sich allenfalls zur sozialen Realität der sechziger Jahre ziehen ließen, was allerdings im Rahmen dieser Arbeit allenfalls angedeutet werden kann, nicht zur Biographie oder dem 2uvre eines Einzelnen, denn letztendlich war es die Zeit, die „Hair“ zu dem geformt hat, was es ist, und die verschiedenen Einflüsse aller, die daran gearbeitet haben, im einzelnen nachzuweisen, würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen.

Dabei müssen, insbesondere nach dem Verständnis von Michael Butler, alle existierenden Fassungen als momentaner Ausdruck der jeweiligen nationalen, geographischen, temporalen und sozialen Gegebenheiten, als gleichberechtigt angesehen werden. Diese Arbeit wird gewissermaßen exemplarisch das Libretto der deutschen Uraufführung[6] behandeln, sie greift zurück auf das Script der Off-Broadway Fassung,[7] wo dieses die Aussage besser zu transportieren scheint. Die Titel werden zum allgemeineren Verständnis mit ihrer englischen Bezeichnung genannt.

Die Gattungseinordnung

Bei der Einordnung von „Hair“ in eine dramatische Gattung gibt es seit der Uraufführung wegen der experimentellen Neuigkeit der Form diverse Probleme. Mehr oder weniger stillschweigend hat man sich darauf geeinigt, es als Musical zu bezeichnen, obgleich schon 1967 einige Theaterkritiker es wie selbstverständlich vom Standpunkt des Sprechtheaters aus analysierten.[8] Dies ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Musical

Die Gattung Musical zeichnet sich ja nicht nur dadurch aus, daß hier Musik, Gesang, Tanz und Show eine Einheit bilden, sondern „Songs, Tanznummern und die durchkomponierte Musik sind integrale Bestandteile der Handlung“.[9] Dies aber setzt eine fortlaufende Handlung voraus, die in „Hair“ nur rudimentär vorhanden ist. Der „enge dramaturgische Zusammenhang“[10], der das Genre gegen andere Mischformen von Sprache, Gesang und Tanz abgrenzt, scheint vordergründig zu fehlen. Vielmehr erinnert das Stück in seiner träumerischen Verspieltheit, seiner unrealistischen, beinahe märchenhaften Präsentation einzelner Gegenstände (z.B. der organischen Demokratie innerhalb der Gruppe) und seiner nicht ausformulierten Skizzenhaftigkeit der Figuren, aus der sich keine psychologische Motivation der Geschehnisse ergeben kann, eher an eine Operette oder Revue. Eine diesbezügliche Einordnung verbietet sich aber nicht nur wegen der aktuellen Musik (Rock, elektronischer Blues, Psychodelic), sondern auch wegen des unübersehbaren Zeitbezugs des dargestellten Lebensgefühls. Der Inhalt spiegelt die Jugendbewegung der Hippies, die vom Amerika der sechziger Jahre aus auf die gesamte westlich Welt übergriff, und gibt somit Einblick in die sozialen und weltanschaulichen Verhältnisse der damaligen Gegenwart. Ihre Motivation erfahren die dargestellten Begebenheiten zwar nicht aus dem Verlauf des Stückes heraus, aber aus dem übergeordneten Bezugsrahmen der Realität. So brauchen die Autoren, weil sie ihr Stück als einen Ausschnitt der Wirklichkeit präsentieren, die einzelnen Problematiken nicht erst herzuleiten und aufzubauen, sondern können sie einfach aneinanderreihen, da sie dem täglichen Erleben des Auditoriums entnommen zu sein scheinen. Die eigentliche Handlung des Stücks spielt sich demnach nicht auf der Bühne ab, sondern vielmehr im Zuschauer selbst, der durch seine Position des Betrachters von außen ein Teil der Gesellschaft (die als außerhalb der Gruppe charakterisiert wird) ist, und sich mit dem Lebensgefühl einer alternativen Daseinsform konfrontiert sieht, die durch die Musik und die bunte Leichtigkeit des Treibens dazu angetan ist, ihn mitzureißen. Und das ist die eigentliche Thematik, die Problematik, die das Stück behandelt: Der Zuschauer steht zwischen der Gesellschaft und der Gruppe und wird sich für eine der Seiten zu entscheiden haben, spätestens, wenn er das Theater verläßt. Als Identifikationsfigur wird ihm innerhalb des Bühnengeschehens Claude angeboten, der dieselbe Entscheidung zu treffen hat. Bezeichnend ist, daß diese Entscheidung Claudes der einzige erkennbare Handlungsstreifen ist, der von Zeit zu Zeit wieder aufgegriffen wird.

Sprechtheater

So wäre also die Bezeichnung „Musical“ für das zu interpretierende Werk hinreichend begründet. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, noch der Fragestellung nachzugehen, inwieweit „Hair“ der Bezeichnung als erweitertes Sprechtheater gerecht wird.

Das klassische Drama

Tatsächlich spielt „Hair“ mit einigen ästhetischen Ansätzen der Dramatik, die die Geschichte des klassischen europäischen Dramas bestimmt haben. So wird z.B. die Forderung nach der Einheit von Raum, Zeit und Handlung, hinter dem chaotischen Gewimmel auf der Bühne erstaunlich stringent eingehalten, wenn man als Handlung das bunte Leben innerhalb dieser idealischen Gesellschaft[11], die sich gegen alle übergeordneten Konventionen nur auf das Leben bezieht, veranschlagt.

Auch zur strikten aristotelischen Trennung zwischen Komödie und Tragödie im klassischen Theater wird hier dem ersten Anschein zum Trotz, es handle sich bei diesem Stück um eine undifferenzierte Nivellierung, durchaus Stellung bezogen: Es fällt auf, daß in die komödiantische Verspieltheit, die sorglose Leichtigkeit des dargestellten Lebensgefühls, der tragische Ansatz einer zum Tode führenden Entscheidung eingeflochten ist, nämlich der Entscheidung Claudes. Diese in dem sonstigen bunten Treiben quantitativ annähernd untergehende einzige Handlung verursacht eine seltsame Ambivalenz des Schlusses, wo sich Tragödie und Komödie, Katastrophe und Dénouement als Begräbnisritus und Auferstehungsfeier mischen. Dabei deutet sich die Tragik bereits im früheren Verlauf dieser Handlung dadurch an, daß Claude mehrfach als durch seine Geburt im Zeichen des Wassermanns Auserwählter gekennzeichnet wird. Hierdurch wird eine gewisse „Fallhöhe“ erzeugt, denn „nur eine Person von Rang hat ein Schiksal, nur wer hoch steht, kann tief fallen“.[12] Es ist interessant, zu sehen, daß sich die „Adelung“ Claudes, ähnlich wie die Dramaturgie des Stückes, zum Teil auf klassische europäische Konventionen stützt, wie die (vorgebliche) englische Abstammung und der zweite Vorname in „Manchester England“, dem mehrfach wiederkehrenden Thema der Figur Claude, nahelegen.

Formsprengend ist dabei die Tatsache, daß die Entscheidung und damit der Höhepunkt der Dramatik sich vom Zentrum des Stückes (tragisches Moment im 4. Akt) an sein Ende verlagert und dadurch, zumal auch eine Exposition fehlt, die Klimax, die klassisch dem 3. Akt vorbehalten ist, über das annähernd ganze Stück gebreitet wird. Einer Entwicklung der Handlung wie der Figuren wird eine Absage erteilt.

Die Geburt der Tragödie

Betrachtet man die Form aber näher, so scheint es, als bezöge sich „Hair“ nur vordergründig auf die klassische Dramenform und gründe sich vielmehr auf eine ältere Ästhetik. So erinnert der Stellenwert, den der Chor auf der Bühne einnimmt, an die von Nietzsche in der „Geburt der Tragödie“ beschriebene Bedeutung des Chors in den Anfängen des Dramas.[13] Dieses entstand, ihm zufolge, aus dem Chor[14] und alle Personen, die später hinzutreten, sind die Vision des Chores, aus ihm erwachsen: „Dieser Prozeß des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen anderen Leib, in einen anderen Charakter eingegangen wäre.“[15] Der Chor in Gestalt des Tribe[16], jener Gruppe von Hippies, die das Bühnengeschehen darstellt, ist auch in „Hair“ das alles bestimmende Element, der eigentliche Akteur des Stückes. Die einzelnen Figuren erlangen kaum Bedeutung, sie tauchen aus der Flut der Bilder auf und gehen wieder unter, sie wechseln ihre Rollen, ihre Problematiken. Der chorale Tribe stellt nicht nur die Gruppe von Hippies, die im Mittelpunkt des Geschehens steht, sondern auch die Gesellschaft in Form der zwei Damen, der drei Moms und Dads und der drei Rektoren ebenso vor, wie während Claudes Trip die Indianer, Soldaten und buddhistischen Mönche, die Nonnen, Astronauten, Vietkong und Leathernecks. Und selbst Claude ist eine Phantasie des Chors, auch er nur ein namenloser Teil dieser Masse, wie er selbst sagt wenn er sich zum ersten Mal vorstellt:

„Guten Tag, ich bin ein Mensch, Nr. 1005963297, Kennziffer 12/B, Vorwahl 0811“[17]

Auch er ist austauschbar und wechselt zumindest einmal die Rolle, als er im Affenkostüm auf die Bühne kommt.[18] Auch Claude ist nur eine Rolle, die auch von einem anderen gefüllt werden kann, wie sich zeigt, als Jonathan plötzlich den Claude spielt, während Claude zusieht.[19] Wenn also der Tribe dem Satyrchor der antiken Tragödie entspricht, so ist er selbst „eine Vision der dionysischen Masse“[20], also der Masse der Zuschauer, der ja durch das Vorspiel, die Verteilung von Blumen und Räucherstäbchen, ein eine Art trancehafter Stimmung, dem Stücke angemessen, versetzt wurde. Er versteht sich nicht nur als Vermittler zwischen Publikum und Bühne, sondern er ist beides selbst.

Betrachten wir noch ein wenig die „Geburt der Tragödie“, so stellen wir fest, daß „Hair“ tatsächlich genau das wiederzuspiegeln scheint, was Nietzsche als das „Dionysische“ bezeichnet. Dieses Dionysische setzt er mit dem Rausch gleich,[21] der aus den Tiefen des Leids und des Ekels erwächst und dazu dient, daß „der Bann der Individuation zersprengt wird“[22]. Dieser dionysische Rausch trachtet danach, „das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen“[23]. Dies ist es, was auch auf der Hairbühne geschieht: Aus Verzweiflung über die lebensfeindliche, kriegstreiberische Gesellschaft haben sich die Hippies in einen Rausch aus Drogen und Musik geflüchtet, in dem, wie beschrieben, sich ihre persönlichen Konturen auflösen und zur Einheit des Tribe werden.[24] So ist also die Drogenerfahrung, die einen großen Teil des zweiten Aktes ausmacht, nicht nur unter dem Aspekt der Selbstfindung vermittels fernöstlicher Meditationsreligionen zu interpretieren, sondern vielmehr als ästhetischer Ansatz zu verstehen. Dieses „Dionysische“ findet sich bei Nietzsche als Kontrast zur rationalen Logik, wie sie sich zuerst bei Sokrates manifestierte. Daß auch „Hair“ inhaltlich versucht, dieser logischen Rationalität entgegenzuwirken, wurde ja eingangs schon behauptet und wird an gegebener Stelle nachzuweisen sein.

[...]


[1] vgl. Georg Frey, Das lauteste Musical, das es je gab..., in: Kurt Seeberger (Hrsg), Haare, München 1969, S 109

[2] Abe Laufe, Broadways Greatest Musicals, New York 1973, S 359

[3] wie noch zu zeigen sein wird

[4] Armin Geraths, G. Rado / J. Ragni / G. MacDermott – Hair, in: H. Grabes (Hrsg), Das amerikanische Drama der Gegenwart, Kronberg 1976, S 67

[5] vgl. Laufe, S 361

[6] Kurt Seeberger (Hrsg), Haare – das vollständige Textbuch mit einer Gebrauchsanleitung für das Musical „Hair“, Rosenheim 1969 (im weiteren bezeichnet als: Haare)

[7] J. Rado/ G. Ragni/ G. MacDermott, Hair, in: S. Richards (Hrsg), Great Rock Musicals, New York 1979 (im weiteren bezeichnet als: Hair)

[8] vgl Armin Geraths, Hair, S. 65

[9] C. Fischer, Musical (Film), in: Microsoft Encarta 98 Enzyklopädie

[10] den z.B. C.B. Sucher (Hrsg), Theaterlexikon, Band 2, München 1996, S 293 fordert

[11] idealisch, weil hier nicht der Anspruch erhoben wird, Realität wirklich abzubilden, sondern eher auf dem Hintergrund realer Äußerlichkeiten die Vision eines idealen Zusammenlebens antizipiert werden soll. Dies wird sehr deutlich, wenn man bedenkt, daß in der realen Hippiebewegung der Individualismus von höchster Bedeutung war (vgl Mike Brake, Soziologie der jugendlichen Subkultur, Frankfurt/Main 1981). Von Individualismus aber ist in Hair kaum etwas zu spüren, an seine Stelle ist das Kollektiv als soziale Vision getreten. Eine eigentlich geplante ausführliche Untersuchung der Soziologie der Hippiebewegung mußte leider aus Platzgründen fallen gelassen werden. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden daher zumindest fragmentarische Kenntnisse der Jugendbewegung der sechziger Jahre stillschweigend vorausgesetzt und nur, wo unumgehbar, die sozialen Gegebenheiten kurz angerissen.

[12] Im Bezug auf die klassische Tragödie so trefflich auf den Punkt gebracht von Armin Geraths, Das Problemmusical als Unterhaltungstheater, in: Wolfgang Jansen (Hrsg), Unterhaltungstheater in Deutschland, Berlin 1995, S.105-113

[13] Die Anregung zu diesem Vergleich danke ich Armin Geraths, Hair, S. 70

[14] Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Stuttgart 1993, S. 46

[15] ebd. S. 55

[16] Da wir das Wort „Horde“, dessen sich das Textbuch zur deutschen Fassung befleißigt, für zu negativ konnotiert erachten, bevorzugen wir den dem Libretto der Off-Broadway-Version entnommenen englischen Begriff mit seiner Assoziation an das Stammeswesen der amerikanischen Ureinwohner

[17] Haare, S.15

[18] ebd, S. 51

[19] ebd

[20] Nietzsche, S. 54

[21] ebd, S. 19

[22] ebd, S. 98

[23] ebd, S. 24

[24] in wie weit die Auflösung der einzelnen Person über die Negation der dem rationalen Denken unterliegenden Dualismen getrieben wird, wird später noch im einzelnen zu erläutern sein

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Die Überwindung der Vernunft im Gesamtkunstwerk "Hair"
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Germanistisches Seminar II)
Veranstaltung
Von George Geshwin bis Andrew Lloyd-Webber. Eine Einführung in die Entwicklung des Musicaltheaters. PS
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
31
Katalognummer
V56497
ISBN (eBook)
9783638511551
ISBN (Buch)
9783638664585
Dateigröße
592 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auf der Matrix klassischer und epischer Theaterkonzeptionen wird die Innovation und Traditionalität von "Hair" erörtert. Dabei zeigt sich, daß es sich bei dem Werk weniger um ein "Musical" handelt als vielmehr um ein "Gesamtkunstwerk", wie Wagner es etabliert hatte. In einem zweiten Schritt wird das Werk in die Tradition des Dada und der Irrationalität eingereiht.
Schlagworte
Vernunft, Gesamtkunstwerk, Hair, George, Geshwin, Andrew, Lloyd-Webber, Eine, Einführung, Entwicklung, Musicaltheaters
Arbeit zitieren
Magister Artium Norbert Krüßmann (Autor:in), 2000, Die Überwindung der Vernunft im Gesamtkunstwerk "Hair", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56497

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