Spuren der Vergangenheit? Schlüsselwörter der LTI im heutigen Sprachgebrauch. Zur Rolle der Lexeme Fanatismus/fanatisch in den Medien


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

33 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung – Gegenstand, Zielsetzung, Methoden

2. Herkunft und Entwicklung des Lexems Fanatismus – ein Überblick

3. Klemperers Auseinandersetzung mit den Lexemen Fanatismus/ fanatisch
3.1 Theoretische Grundlagen: Zur Rolle von Schlüsselwörtern in der Sprache
3.1.1 Zum Begriff des Schlüsselworts
3.1.2 Schlüsselwörter vs. Schlagwörter – eine Abgrenzung
3.1.3 Exkurs: Schlüssel- und Schlagwörter im Bundestagswahlkampf 2005
3.2 Schlüsselwörter der LTI
3.3 Fanatismus / fanatisch als Schlüsselwort und -wert der LTI

4. Die Lexeme Fanatismus / fanatisch im heutigen Sprachgebrauch
4.1 Einführende Betrachtungen – Klemperers Ahnung einer LQI
4.2 Fanatismus im religiösen Kontext
4.3 Fanatismus im politischen und gesellschaftlichen Kontext
4.4 Fanatische Fans ? – ein Sonderfall

5. Fazit/ Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung – Gegenstand, Zielsetzung, Methoden

Deutschland im Jahr 2005. Die Berliner Republik ist angekommen im dritten Jahrtausend. Begriffe wie Hartz IV, Eigenverantwortung, private Altersvorsorge und Ähnliche mehr dominieren den politischen Diskurs sowie den Alltag des Einzelnen und zeichnen ein Bild ihrer Zeit – nicht zuletzt womöglich auch über die Gegenwart hinaus. So werden diese im Sprachgebrauch hoch frequentierten sprachlichen Ausdrücke mit einiger Wahrscheinlichkeit auch künftigen Generationen wertvolle Hinweise auf Wesenszüge und Eigenheiten ihrer Entstehungszeit liefern. Gerade diese – wenngleich häufig implizit wirkende – Aussagekraft ist es, die diese Begriffe zu einem höchst informativen und spannenden Bereich der linguistischen Forschung machen. Erreichen sie einen bestimmten Status hinsichtlich ihrer Häufigkeit und relativen Bedeutung für das gesamtsprachliche Lexikon, spricht die Linguistik von Schlüsselwörtern.

Doch nicht nur (potenzielle) Schlüsselwörter des gegenwärtigen Sprachgebrauchs erweisen sich als äußerst aufschlussreich. Auch der Umgang einer Sprachgemeinschaft mit Schlüsselwörtern vergangener Generationen und Epochen bietet Stoff für umfangreiche linguistische Auseinandersetzungen. Für den Bereich der germanistischen Linguistik erscheint, wie so oft, – neben sprachlichen Entwicklungen in der DDR – die Zeit des Nationalsozialismus von besonderer Eignung und Relevanz für derartige Betrachtungen zu sein.

Sechzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges – der Eindruck der offiziellen Gedenkfeiern scheint noch allgegenwärtig – bietet sich dem aufmerksamen Betrachter mitunter ein zwiespältiges Bild; die Medaille der noch jungen Demokratie scheint zwei Seiten zu haben. Bezieht die Vorderseite ihren Glanz aus der radikal vollzogenen Abkehr von nationalsozialistischem Sprach- und Gedankengut – nicht wenige Politikerkarrieren scheiterten jüngst allein an Vergleichen mit dem Nationalsozialismus –, so offenbart die zweite, eher im Verborgenen liegende Seite einen weit weniger strengen und konsequenten Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Da begegnete dem Zuschauer des öffentlich-rechtlichen „Tatorts“ etwa ein „fanatischer Verteidiger menschlichen Lebens“[1], die Grünen-Politikerin Claudia Roth frohlockte im anlaufenden Wahlkampf mit einem „fanatisch bunten Schal“[2] und der SPD-Mann Peer Steinbrück nutzte seine neu gewonnene Freiheit und Freizeit als Ministerpräsident a. D., um Modellbauschiffe zu basteln „wie ein fanatisches Kind“[3].

Fast sechzig Jahre nach Veröffentlichung der Erstausgabe von Victor Klemperers „LTI – Notizbuch eines Philologen“ scheinen dessen Untersuchungen der Lingua Terttii Imperii, der Sprache des Dritten Reiches, weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Zwar wurde Klemperer in den vergangenen Jahren durch die medienwirksame Publikation der Tagebücher, eine TV-Serie zum Leben Klemperers sowie zahlreiche weitere Dokumentationen und Publikationen eine enorme Aufmerksamkeit und Popularität zu Teil. Jedoch richteten sich diese vorwiegend auf Klemperers Biografie, speziell auf seine Rolle als Verfolgter des NS-Regimes. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Klemperers sprachkritischem Werk indes blieb – außerhalb der linguistischen Forschung – weitgehend aus.

Andernfalls nämlich hätten Klemperers Studien zu den Schlüsselwörtern des Dritten Reiches in weit stärkerem Maße dazu beitragen können, den Umgang der heutigen Sprachgemeinschaft mit den vom Nationalsozialismus missbräuchlich verwendeten Lexemen kritisch zu reflektieren. Besonders auffällig – und für die vorliegende Untersuchung daher von besonderem Interesse – erscheint in diesem Zusammenhang die aktuelle Verwendung der Lexeme fanatisch / Fanatismus, die Klemperer im Rahmen seiner „LTI“ als zentrale Schlüsselwörter und -werte der Sprache des Dritten Reiches identifiziert hatte. Bevor diese Lexeme im Nationalsozialismus ihren Siegeszug als Inbegriffe elementarer Tugenden antreten konnten, hatten sie zuvor einem kaum merklichen, jedoch umso wirksameren Bedeutungswandel unterzogen werden müssen.

Wenngleich dieser semantische Wandel mit Ende des Zweiten Weltkrieges wie von Geisterhand augenblicklich aufgehoben schien und statt dessen nunmehr eifrig die negative Konnotation wiederbelebt wurde, soll die vorliegende Untersuchung dennoch der Frage nachgehen, wie aktuell zu beobachtende sprachliche Charakterisierungen wie der „fanatische Verteidiger menschlichen Lebens“ und Ähnliche mehr zustande kommen und in ihrer Verwendung zu erklären sind. Liegt solchen Beobachtungen schlimmstenfalls eine Rückbesinnung auf das weitgehend besiegt geglaubte nationalsozialistische Denken zu Grunde, oder sind diese „lediglich“ Ausdruck einer neuen Unbeschwertheit im Umgang mit dem sprachlichen Erbe der Vergangenheit?

Ausgehend vom Klemperers Untersuchungen zur semantischen Entwicklung der Lexeme fanatisch/Fanatismus soll die vorliegende Arbeit den Versuch unternehmen, die allgemeine Bedeutung von Schlüsselwörtern einerseits sowie den Umgang der gegenwärtigen Sprachgemeinschaft mit speziellen Schlüsselwörtern aus der jüngeren deutschen Geschichte andererseits näher zu beleuchten. Als Grundlage der empirischen Untersuchung soll ein ausgewählter Textkorpus aus den deutschen Printmedien dienen. Verzichtet wird in diesem Zusammenhang ganz bewusst auf die Analyse rechtsgerichteter Publikationen, da gerade der Umgang der so genannten politisch neutralen Presseerzeugnisse mit historisch brisanten Schlüsselwörtern den Untersuchungsschwerpunkt bilden soll.

2. Herkunft und Entwicklung des Lexems Fanatismus – ein Überblick

Das „Große Fremdwörterbuch“ des Duden definiert Fanatismus als ein „rigoroses, unduldsames Eintreten für eine Sache oder ein Ziel, das kompromisslos durchzusetzen versucht wird“[4]. Neben der denotativen Bedeutung des ’entschiedenen Verteidigens und Durchsetzens persönlicher Wünsche und Ansichten’ ist für die lexikalische Untersuchung die konnotative Bedeutung von erheblicher Relevanz. So wird eine konnotative Tendenz des Lexems bereits durch die Häufung der Attribute rigoros, unduldsam und kompromisslos deutlich. Was – jedes für sich genommen – noch als Indiz für Entschlossenheit und Zielstrebigkeit interpretiert werden könnte, vermittelt in dieser komprimierten Verwendung eine klar negative Konnotation.

In einer Gesellschaft wie der heutigen, die auf Toleranz, Konsens und Kompromissen gleichermaßen basiert und diese als Stützen einer demokratischen Ordnung propagiert, legt die Analyse des Lexems Fanatismus somit – von Ausnahmen abgesehen – eine primär pejorative Mitbedeutung nahe. Eine sprachbewusste Verwendung des Lexems müsste somit stets mit einer abwertenden, distanzierenden Haltung gegenüber dieser menschlichen Eigenschaft einhergehen.

Gestützt wird diese These noch durch die Einbeziehung von Synonymbeziehungen des Lexems. Das Wortschatzprogramm der Universität Leipzig etwa vermerkt für Fanatismus Synonyme wie Glaubenseifer, Verbissenheit, Verbohrtheit und Verranntheit. Fanatismus selbst wiederum findet als Synonym von Lexemen wie Aufhetzung, Aufputschung, Fanatisierung, Glaubenseifer, Verbohrtheit, Verranntheit und Volksverhetzung Verwendung (http://www.wortschatz.uni-leipzig.de). Wenngleich der pejorative Wertungsgehalt dieser synonymen Lexeme stark variiert, wird doch das semantische Umfeld des Lexems Fanatismus innerhalb des heutigen deutschsprachigen Lexikons ganz deutlich.

Doch bevor sich Fanatismus in dieser negativ geprägten Bedeutung zu einem festen Bestandteil des aktuellen Wortschatzes entwickeln konnte, war es über die Jahrhunderte seines Bestehens hinweg erheblichen semantischen Veränderungen ausgesetzt. Ebenso wie das zu Grunde liegende Adjektiv fanatisch, das seit dem 16. Jahrhundert bezeugt ist, geht das Lexem auf das gleichbedeutende lateinische Wort fanaticus zurück. Trotz einer bereits im lateinischen Ursprungswort angelegten, tendenziell pejorativen Bedeutungskomponente – fanaticus bedeutete ursprünglich ’von der Gottheit ergriffen und in rasende Begeisterung versetzt’[5] – zeichnete es sich zu allen Zeiten durch eine in Ansätzen ambivalente Verwendung aus.

So konstatierte etwa Klemperer in seiner LTI bereits mit Blick auf die französischen Aufklärer eine partielle „Umwertung des Fanatismus zur Tugend“ (LTI, 79)[6]. Zwar lehnten die Aufklärer den Fanatismus grundsätzlich als stärkste Ausprägung von emotionalem und religiösem Eifer und somit auch als natürlichen Feind der Vernunft entschieden ab. Johann Heinrich Zedlers „Grosses Vollständiges Universal-Lexikon“ von 1734 etwa lehnt den Fanatismus als „Schwäche des menschlichen Verstandes“ ab, die „in Irrthümern liegen“ müsse[7]. Dennoch schien bereits zum damaligen Zeitpunkt ein Bewusstsein für die Kraft und Energie dieser menschlichen Leidenschaft vorhanden zu sein. So glaubte Zedler eben, im Fanatismus lediglich eine übersteigerte Ausprägung der „Enthusiasterey“ zu erkennen, mit dem Unterschied, das letztere „nur mit göttlichen Eingebungen zu thun hat“, der Fanatismus „aber in allerhand nicht zusammen hängenden Einbildungen bestehe“[8]. Latent mag hinter dieser Ansicht letztlich die Überlegung gestanden haben, ob es nicht möglich sei, diese menschlichen Regungen gezielt zu kanalisieren und so im Sinne der eigenen Sache nutzbringend einzusetzen – wie im Dritten Reich schließlich geschehen.

Dennoch – so schlussfolgerte Klemperer – „blieb das Fanatische trotz jenes heimlichen Lobes eine verpönte Eigenschaft, etwas, das zwischen Krankheit und Verbrechen mitteninne stand“ (LTI, 79). Und niemals „vor dem Dritten Reich wäre es jemandem eingefallen, fanatisch als ein positives Wertwort zu gebrauchen“ (ebd., 80).

[...]


[1] „Tatort: Licht und Schatten“, Deutschland, Österreich, Schweiz 1999

[2] DER SPIEGEL, 25/05

[3] DIE ZEIT, 20/2005 (Quelle: http://zeus.zeit.de/text/2005/20/PeerSteinbr_9fck)

[4] Duden (2000): Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Mannheim [u.a. ], S. 442.

[5] Duden (2001): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3., neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim [u.a.], S. 204.

[6] Klemperer zitiert hierfür eine Textpassage Rousseaus: „In all seiner Blutgier und Grausamkeit ist nämlich der Fanatismus eine große und starke Leidenschaft, die das Herz des Menschen erhebt, die ihn den Tod verachten läßt, die ihm mächtigen Schwung verleiht und die man nur besser lenken muß, um ihr die erhabensten Tugenden abzugewinnen...“ (LTI, 78).

[7] Zedler, Johann Heinrich (1734): Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Band 9. Photomechan. Nachdruck (1982). Graz, S. 212.

[8] ebd.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Spuren der Vergangenheit? Schlüsselwörter der LTI im heutigen Sprachgebrauch. Zur Rolle der Lexeme Fanatismus/fanatisch in den Medien
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Hauptseminar Grenzen von Sprachlichkeit
Note
1,5
Autor
Jahr
2005
Seiten
33
Katalognummer
V56089
ISBN (eBook)
9783638508773
ISBN (Buch)
9783656807469
Dateigröße
595 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Spuren, Vergangenheit, Schlüsselwörter, Sprachgebrauch, Rolle, Lexeme, Fanatismus/fanatisch, Medien, Hauptseminar, Grenzen, Sprachlichkeit
Arbeit zitieren
Sylvia Ullrich (Autor:in), 2005, Spuren der Vergangenheit? Schlüsselwörter der LTI im heutigen Sprachgebrauch. Zur Rolle der Lexeme Fanatismus/fanatisch in den Medien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56089

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