Die postmoderne Völkerrechtstheorie von Martti Koskenniemi


Seminararbeit, 2005

24 Seiten, Note: 17 P. (~1,1)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die emanzipatorische Funktion des Völkerrechts
2.1 Die Kernaussage Koskenniemis
2.2 Die Argumentation
2.2.1 Die geschichtliche Entwicklung des europäischen Völkerrechtsverständnisses
2.2.2 Einwände gegen die europäische Sichtweise
2.2.3 Das Verständnis des Völkerrechts aus Sicht der governance-Denkweise
2.2.4 Einwände gegen das instrumentelle Völkerrechtsverständnis
2.2.5 Ein alternatives Verständnis des Völkerrechts als Mittel zur Emanzipation
2.3 Kritik des Ansatzes Koskenniemis
2.3.1 Fehlender Entwurf geeigneter Institutionen
2.3.2 Indifferenz gegenüber dem materiellen Völkerrecht
2.3.3 Souveränitätstheoretische Implikationen der Ablehnung einer unabhängigen Geltung des Völkerrechts
2.3.4 Ungerechtfertigte Zurückweisung einer Kantianischen Auffassung des Völkerrechts

3. Fazit: Koskenniemi als Vertreter eines Nihilismus oder eines „Super-Liberalismus“?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Das Völkerrecht ist keineswegs die Bibel“[1] – dieses Urteil scheint für einen der wichtigsten Völkerrechtler weltweit zunächst überraschend – etwa, als würde ein deutscher Verfassungsjurist die normative Geltung des Grundgesetzes relativieren. Der Schein trügt nicht: Tatsächlich tritt Martti Koskenniemi für eine kritisch-funktionale Betrachtung der Rolle des Völkerrechts ein.

Bereits ein Blick in den Lebenslauf des heutigen Professors für Völker­recht an der Universität Helsinki und Global Professor of Law an der New York University zeigt, dass er stets bestrebt ist, Theorie und Praxis des Völkerrechts in einen fruchtbaren Einklang zu bringen. In seiner rechtswissenschaftlichen Tätigkeit brachte er es nicht nur zum Lehr­stuhlinhaber, sondern er wirkte als Mitglied der International Law Commission der Vereinten Nationen aktiv an der Entwicklung von Vor­schlägen zur Fortbildung des Völkerrechts mit. Gleichzeitig war er jedoch auch lange Jahre aktiv in der Praxis der internationalen Rechtsprechung und Politik, so arbeitete er von 1978 bis 1996 im finnischen auswärtigen Dienst, u. a. als Vertreter in den UN-Institutionen, sowie als Richter im Verwaltungstribunal der Asiatischen Entwicklungsbank[2].

Koskenniemi tritt in seinen Texten über die normative Natur des Völkerrechts für einen kritischen Blick auf die moderne Völkerrechts­ordnung ein: Sie muss dahingehend hinterfragt werden, ob sie ihrem normativen Anspruch tatsächlich gerecht wird und die universellen Inte­ressen der Menschen schützt, oder ob sie lediglich der Konservierung von Machtstrukturen dient. Eine internationale Rechtsordnung ist kein Selbstzweck, sondern dient vor allem der rechtlichen Emanzipation der Menschen von illegitimen Herrschaftsverhältnissen. Ich werde im Fol­genden nach einer kurzen Darstellung seiner Hauptaussagen die argu­mentative Begründung dieser Thesen rekonstruieren sowie abschließend mögliche Kritik an Koskenniemis Theorie formulieren.

2. Die emanzipatorische Funktion des Völkerrechts

2.1 Die Kernaussage Koskenniemis

Koskenniemis Ansatz speist sich aus einer Kritik an zwei führenden Deutungsrichtungen des Völkerrechts: Einerseits an dem – genuin euro­päischen – Verständnis des Völkerrechts als internationalem Äquivalent einer nationalen Rechtsordnung, das die rechtliche Grundlage für die Re­gierung der Weltgesellschaft liefert[3] ; andererseits an der teleologischen Ausrichtung der so genannten „governance-Denkweise“[4], das das Völker­recht als ein Mittel zur Verfolgung „guter“, „vernünftiger“ Zwecke an­sieht[5].

Da er erstere Betrachtungsweise aus empirischen, letztere aus norma­tiven Gründen ablehnt, schlägt er eine eigene Deutungsauffassung vor: Das Völkerrecht dient als öffentliche, eine Rechtsgemeinschaft konsti­tuierende Grundlage, die prinzipiell auslegungsbedürftige Grundnormen anbietet, anhand derer einzelne Individuen oder gesellschaftliche Grup­pen ihre Interessen als schutzwürdige rechtliche Ansprüche formulieren können, weil diese zugleich den universalistischen Werten der Gemein­schaft entsprechen. Auf Grund dessen erhält das Völkerrecht eine uni­versell wirkende Inklusionsfunktion, indem es für alle Akteure auf der eigentlich anarchisch und von Machtauseinandersetzungen geprägten internationalen Ebene den Rahmen einer öffentlichen Ordnung schafft, in dem unter dem Vorzeichen rechtlicher Gleichberechtigung in rechtli­chen Verfahren Ansprüche angemeldet und reguliert werden können[6].

2.2 Die Argumentation

Koskenniemi wendet sich grundsätzlich gegen jeden Versuch einer überzeitlichen Interpretation des Völkerrechts, sondern verpflichtet sich stattdessen dem Ruf der Postmoderne: „Historicize, always historicize!“[7]

Mit dieser Methode begründet – und kritisiert – er die „traditionelle“ Auffassung, die internationale Ebene sei ähnlich wie auf nationaler und europäischer Ebene hierarchisch geordnet; vielleicht nicht der Form, aber der Funktion nach gäbe es wie im Nationalstaat auch auf internationaler Ebene eine funktionsfähige Gewaltenteilung: Eine Gesetzgebung mithilfe multilateraler Verträge, eine unabhängige Gerichtsbarkeit in Form von zahlreichen internationalen Spezialgerichten – in jüngster Zeit gekrönt durch die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes 2002 – so­wie eine vielleicht schwache, aber dennoch vorhandene Regierung in Form der Vereinten Nationen. Für all diese Institutionen leistet das exis­tierende Völkerrecht das, was die Gesetze auf nationaler Ebene tun: Es liefert die materielle Grundlage für die Rechtsstaatlichkeit des Handelns der internationalen Organe und kreiert eine Rechtsordnung, die aus für je­dermann und jede Situation gleich und eindeutig geltenden Normen besteht[8]. Dass diese Sichtweise besonders von Europäern geteilt wird, be­gründet Koskenniemi mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Völker­rechtstheorie, die sich vor allem in Europa abgespielt hat, angefan­gen mit dem wohl am meisten rezipierten Modell Kants, der eine Födera­tion von freien Staaten skizziert, die nach rechtsstaatlichen Prinzipien strukturiert ist und die Grundrechte der Menschen schützt[9].

2.2.1 Die geschichtliche Entwicklung des europäischen Völkerrechtsverständnisses

Die ersten, in den Jahren nach der Französischen Revolution (1789) erschienenen theoretischen Abhandlungen beschrieben das Völkerrecht als ein reines Koordinationsrecht, das der formalen Regelung des Ver­kehrs zwischen den souveränen Staaten – respektive ihrer Monarchen – diente. Somit stand es noch völlig in der Tradition des Westfälischen Friedens von 1648, der als Grundnormen der internationalen Ebene die Staatensouveränität und das Prinzip der Nichteinmischung formulierte. Die Weiterentwicklung des internationalen Rechts erfolgte gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der innenpolitischen Liberalisierung vieler europäischer Staaten. „It would have a political agenda coinciding with the liberal agenda“[10]: Es sollte der Ausdehnung liberaler Prinzipien wie Demokratie, Grundrechtssicherung, Handelsfreiheit oder Rechts­staatlichkeit auf die zwischenstaatliche Ebene dienen. Die Entstehung erster internationaler Institutionen sollte zur Verwirklichung dieser Ziele beitragen. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs trugen dazu bei, im Bewusstsein der europäischen Rechtstheoretiker die Notwendigkeit einer „Weltinnenpolitik“ weiter zu erhöhen. Die Völkerbundssatzung wurde als „Verfassung“ einer neuen Weltordnung angesehen; der französische Rechtsprofessor Georges Scelle ging sogar so weit, den nationalen Regie­rungen die Rolle von regionalen Verwaltern eines universellen Rechts der natürlichen Solidarität zwischen den Menschen zuzuweisen. Die Frage, wie ein solches Völkerrechtsverständnis zu verwirklichen sei, wurde mit einem fast naiv anmutenden Vertrauen beantwortet, die Staaten würden die Einsicht entwickeln, ein gemeinsames harmonisches Interesse an ei­ner Überwindung des Status Quo hin zu einem internationalen Rechtszu­stand des Friedens und der Solidarität zu haben. Die Analogie zur Theo­rie John Lockes, der den liberalen Rechtsstaat aus dem gemeinsamen In­teresse der Individuen begründet, den Naturzustand zum Schutz ihrer natürlichen Rechte zu überwinden[11], ist nicht zu übersehen. Jedoch stellte sich heraus, dass der Völkerbund an der nach Hobbes auf natio­naler Ebene zentralen Aufgabe eines Staates scheiterte, nämlich der der Friedenssicherung. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer eigen­tümlichen Zweiteilung des Völkerrechts: Bedingt durch die Blockade des eigentlich für die Friedenssicherung zuständigen UN-Sicherheitsrates auf Grund der Auseinandersetzung zwischen den beiden Blöcken, verharrte das Völkerrecht auf diesem Gebiet auf einem reinen Koordinationsrecht, während es auf den Feldern der wirtschaftlichen, sozialen und technologi­schen Kooperation zu einer rasanten Fortentwicklung kam, verbunden mit der zunehmenden Bedeutung internationaler Organisationen. In die­sen Bereichen entstand somit das „neue Völkerrecht“, das gemäß einem funktionalen Verständnis als Instrument zur „international governance“ angesehen wurde. Nach Ende des Kalten Krieges schien die Zeit angebro­chen zu sein, in der sich die Aussichten der 1920-er Jahre endlich be­wahrheiten konnten: Die Lähmung des Sicherheitsrates war vorbei, er erklärte sich kompetent, sogar bei internationalen nicht-militärischen Krisen zu handeln, und schien nun auch in der Lage, mittels Sanktionen das internationale Recht auch durchzusetzen. Gleichzeitig sorgte eine Reihe von UN-Konferenzen dafür, die Zahl internationaler Vereinbarun­gen in die Höhe schnellen zu lassen, während die Nationalstaaten zu­nehmend bereit schienen, ihre Souveränitätsrechte zu Gunsten internati­onaler Institutionen einzuschränken – die Gründung der WTO mit ihrer Kompetenz, wirtschaftliche Streitigkeiten verbindlich zu regeln, ist nur das bedeutendste Beispiel. Die Voraussetzungen für eine rechtliche Re­gierbarkeit der Welt schienen gegeben.

[...]


[1] Mündliches Zitat von Martti Koskenniemi, aus: Assheuer, Thomas: Interview mit Martti Koskenniemi, in: Die Zeit 51/2004, S. 52

[2] Vgl. hierzu Curriculum Vitae von Martti Koskenniemi, einzusehen unter: http://www.helsinki.fi/oik/tdk/eci/martti_koskenniemi.html (Zugriff am 31. Mai 2005)

[3] Vgl. Koskenniemi, Martti: Global Governance And Public International Law, in: Kritische Justiz 37 (3), 2004, S. 242 – die emanzipationstheoretischen Überlegungen werden in diesem Artikel ausführlich entfaltet, sodass ich mich in den folgenden Ausführungen vor allem darauf stützen werde.

[4] Da meiner Ansicht nach die deutschsprachigen Übersetzungsmöglichkeiten wie „Lenkung“, „Regieren“ oder „Steuerung“ den Inhalt des Ausdrucks „governance“ nur unzureichend wiedergeben, schließe ich mich der in der Literatur weit verbreiteten Verwendung des englischen Begriffs an.

[5] Vgl. Koskenniemi 2004a, S. 249

[6] Vgl. ebenda, S. 253

[7] Ebenda, S. 244

[8] Vgl. ebenda, S. 241f.

[9] Zur folgenden Zusammenfassung vgl. ebenda, S. 245ff.; eine ausführliche Darstellung der verschiedenen grundlegenden Strömungen in der europäischen Völkerrechtstheorie liefert Koskenniemi in folgendem Werk: The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of International Law 1870-1960. Cambridge 2001

[10] Koskenniemi 2004a, S. 245

[11] Vgl. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt a. M. 1967

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die postmoderne Völkerrechtstheorie von Martti Koskenniemi
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Juristische Fakultät)
Veranstaltung
Normative Theorien der transnationalen Beziehungen
Note
17 P. (~1,1)
Autor
Jahr
2005
Seiten
24
Katalognummer
V55967
ISBN (eBook)
9783638507844
ISBN (Buch)
9783638855068
Dateigröße
557 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Völkerrechtstheorie, Martti, Koskenniemi, Normative, Theorien, Beziehungen
Arbeit zitieren
Eric Sangar (Autor:in), 2005, Die postmoderne Völkerrechtstheorie von Martti Koskenniemi, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55967

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