Streitfall 'Hermannsschlacht'. Die politischen Ambitionen des Preußen Kleist und ihre Wahrnehmung(en) im 20. Jahrhundert


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

46 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

0 Einleitende Überlegungen

1 Die politische Situation zur Entstehungszeit des Dramas

2 Das Kriegskonzept der preußischen Reformer
2.1 Vorbilder
2.1.1 Frankreich
2.1.2 Spanien
2.2 Niederschlag in der ‚Hermannsschlacht’
2.2.1 Ergebenheit an das große Ziel
2.2.2 Propaganda
2.2.3 Guerilla-Krieg

3 Die nationalsozialistische Rezeption der ‚Hermannsschlacht’
3.1 Der Revanchegedanke
3.2 Kleist und die Nationalsozialisten
3.3 Das Arminiusdrama als propagandistisches Vorzeigestück
3.3.1 Hermann als Führer
3.3.2 Die gefühlsgeleitete Tat
3.3.3 Imperialistische Drohung

4 Die humanistisch orientierte Rezeption der ‚Hermannsschlacht’
4.1 Kleist als Utopist
4.2 Bestandsaufnahme
4.2.1 Deutschland
4.2.2 Napoleon
4.3 Defensiver Krieg und größeres Ziel

5 Abschließender Vergleich und neue Probleme

6 Literaturverzeichnis

0 Einleitende Überlegungen

Verfolgt man die nun gut zweihundert Jahre währende Rezeptionsgeschichte des literarischen Werks Heinrich von Kleists, so lässt sich kaum ein deutscher Autor nennen, dessen Schriften so kontrovers und gänzlich gegensätzlich gedeutet wurden wie die des preußischen Dichters. Vor dem Hintergrund verschiedener Epochen und im Kontext aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Richtungen stammender Interpretationsansätze blickt die Kleist-Rezeption auf eine Geschichte voller radikaler Deutungen und sich gegenseitig widersprechender ideologischer Vereinnahmungen zurück.[1] Als beispielhaft für die in diesem Fall politisch-ideologisch vollständig entgegengesetzten Deutungsansätze eines einzigen Kleistschen Werkes dient das Arminius-Drama ‚Die Hermannsschlacht’. Allein ein Blick auf den Rezeptionsverlauf des Stücks im 20. Jahrhundert offenbart zwei radikale Interpretationslinien, die für ihren jeweiligen zeitgenössischen Kontext zwar normbildenden Status genossen, sich zueinander allerdings, im Bezug auf Motivation und Ergebnis, völlig gegensätzlich verhalten: der rassistischen und imperialistischen Deutung des Dramas durch den nationalsozialistischen Kulturapparat steht eine marxistisch-humanistische Rezeption der Literaturwissenschaft im Umfeld der sogenannten 68’er-Revolte in Westdeutschland unversöhnlich gegenüber.[2] Diese im krassesten Gegensatz zueinander stehenden Ansätze sind Gegenstand der vorliegenden Hausarbeit. Sie sollen, voneinander unabhängig, in ihren Argumentationen und im Bezug auf potentielle ideologische Einflüsse nebeneinander dargestellt werden, um einen Überblick und einen Einblick in die jeweilige Rezeptionslinien zu gewährleisten. Diese zwei konträren politisch-gesellschaftlichen Interpretationsansätze, als Ergebnis des primären, rein deskriptiv orientierten Erkenntnisziels trennscharf herausgearbeitet, sollen weiter jeweils auf ihre hermeneutische Qualität untersucht werden, indem sie mit Kleists Briefen, theoretischen Schriften und den Implikationen im Drama selbst abgeglichen werden. Es bleibt etwa zu prüfen, ob sich eine linksorientierte Rezeption des Stücks mit den von Kleist selbst gestreuten Bedeutungsimplikationen deckt oder ob die skrupellose Ideologie des ‚Dritten Reichs’ nicht doch offensichtlichen Widerhall in der martialischen ‚Hermannsschlacht’ findet. Darüber hinaus können andersgeartete und eventuell fruchtbare neue Deutungen des Dramas den Diskussionshorizont erweitern.

Doch zuerst soll der Dichter, der während und durch die Abfassung der ‚Hermannsschlacht’ selbst als „politischer Schriftsteller“[3] Gestalt annahm, befragt werden: es ist zu prüfen, unter welchen zeitgeschichtlichen Bedingungen das Werk entstand, welche Ambitionen und Ziele der Dichter mit dem Drama verfolgte und unter Zuhilfenahme welcher Mittel er diese Pläne zu erwirken versuchte. Nur wenn die von Kleist in der ‚Hermannsschlacht’ verhandelten Absichten und Strategien klar werden, also gewissermaßen die Frage des ‚was’ innerhalb des Dramas beantwortet ist, kann dieser Bestand auf die Gesinnungs- und Ideologieentwürfe der im Hauptteil zu behandelnden Rezeptionsansätze überprüft werden. Nach dem ‚was’ behandelt diese Arbeit somit dann zwei gegensätzliche Ansätze, die jeweils Kleist ein politisch-gesellschaftliches Weltbild unterstellen und dadurch die Frage eines gesinnungsorientierten ‚warum’ der ‚Hermannsschlacht’ beantworten. Dieses ‚warum’ im Kontext einer ideologischen Positionierung des Dichters gilt es, wie beschrieben, dann in einem weiteren Arbeitsschritt mit den Zeugnissen aus Kleists Zeit abzugleichen.

1 Die politische Situation zur Entstehungszeit des Dramas

Im Brief an seinen Freund Collin vom 22. Februar 1809 beschreibt Heinrich von Kleist die ‚Hermannsschlacht’ als ein Stück, welches „mehr, als irgend ein anderes, für den Augenblick berechnet war“[4]. Will man die vom Dichter in oder mit diesem Drama verfolgten Ambitionen ermitteln, ist eine nähere Untersuchung dieses ‚Augenblicks’ nötig. Es ist zu fragen, unter welchen politischen und gesellschaftlichen Umständen die ‚Hermannsschlacht’ entstand und welche Motive und Analogien Kleist benutzt, um auf die gegebene Situation zu reagieren.

Zunächst ist davon auszugehen, dass das Drama gegen Ende des Jahres 1808 fertiggestellt wurde[5] und somit als Kronzeuge für turbulente Geschehnisse innerhalb Deutschlands dient: nachdem die preußische Armee im Jahr 1806 trotz zahlenmäßiger Überlegenheit den angreifenden französischen Truppen gegenüber militärisch kollabiert war, fand sich der Dichter Kleist in einem von Napoleon besetzten und harten Friedensbedingungen unterworfenen Preußen wieder. In dieser Situation verfasste Kleist die ‚Hermannsschlacht’, um durch die eingewobenen Analogien „die großen politischen Linien der Zeit aufzudecken und die Gesamtlage Preußens den Zeitgenossen zum Bewußtsein zu bringen.“[6] Doch damit nicht genug: während im Jahr 1808 ein Krieg Österreichs gegen Napoleon erwartet wurde, versuchten vor allem in Preußen politische Kräfte, eine norddeutsche Erhebung gegen die französischen Truppen zu organisieren, somit Österreich behilflich zu sein und Napoleons Imperium in Europa zu zerschlagen.[7] ‚Die Hermannsschlacht’ dient ganz offensichtlich als Illustration dieser Insurrektionspläne, zum einen als Darstellung des gegenwärtigen Status Quo, zum anderen allerdings auch, mit literarischen Mitteln, als deutliche Anweisung zum Handeln. Wie viele seiner Landsleute empfand Kleist die Suppression und Erniedrigung, die die deutschen Völker unter Napoleon zu erleiden hatten, als Schande und als Imperativ zum Widerstand und zur Befreiung der unterdrückten Staaten. Die wichtigsten Analogien, durch die der Dichter dieses Anliegen in der ‚Hermannsschlacht’ vorstellt, sind evident: Die römischen Besetzer im Drama sind mit den napoleonischen Truppen gleichzusetzen, Hermann, der Cheruskerfürst, stellt das Idealbild des preußischen Widerständlers dar.[8]

Doch alle Anstrengungen Heinrich von Kleists, literarischen Mitteln (die ‚Hermannsschlacht’ sowie Kleists Kriegslyrik erscheinen Anfang 1809) die politische „Funktion einer Waffe“[9] zuzuordnen und so Preußen zu einer Erhebung und einem Sieg gegen Napoleon zu bewegen, scheitern: die Niederlage Österreichs bei Wagram im Juli 1809 sowie der preußisch-französische Vertrag vom September gleichen Jahres vernichten jede Hoffnung auf eine deutsche Mobilmachung gegen Napoleon.

Jedoch ist es nicht der eintretende oder ausbleibende Erfolg seiner vermeintlichen Aufgabe, der das Drama ‚Hermannsschlacht’ zum Gegenstand dieser Hausarbeit macht. Aus den bisher eher tatsachen- und datenorientierten Darstellungen ergeben sich auf komplexeren Ebenen weitere Fragen, etwa nach dem in dem Stück entworfenen Konzept einer Volkserhebung. Es bleibt weiterhin zu untersuchen, woher die radikale Auflehnung Kleists gegen Napoleon rührt und ob ihre Darstellung, die ‚Hermannsschlacht’, möglicherweise mehr Interpretationspotential bietet als ein bloß auf einen historischen Moment berechnetes politisches Tendenzstück.

2 Das Kriegskonzept der preußischen Reformer

2.1 Vorbilder

Wie bereits angedeutet, war der Dichter Kleist nicht der einzige in Preußen, dem an einer Insurrektion gegen Napoleon gelegen war. Besonders das Triumvirat der Königsberger Staatsdiener August Graf Gneisenau, Gerhard von Scharnhorst und dem Freiherrn von Stein hegte Pläne einer Heeresreform, die eine allgemeine Volksbewaffnung vorsah und in einem siegreichen Partisanenkrieg gegen die französischen Truppen gipfeln sollte.

2.1.1 Frankreich

Die preußischen Reformer hatten beobachtet, dass es zuerst die französischen Revolutionsheere gewesen waren, die sich über das im 18. Jahrhundert geltende klassische Kriegsrecht hinweggesetzt hatten. Sie stellten den Entwurf eines von Staat zu Staat ausgetragenen Krieges zwischen regulären staatlichen Linientruppen als souveränen und sich gegenseitig respektierenden Trägern des Kriegsrechts in Frage und ersetzten diesen durch ein modernes Kriegskonzept. Neben einer flexibleren Logistik, etwa einem neuen Marschsystem, führte vor allem der Einsatz freiwilliger Bürger zum Erfolg.[10] Diese, getragen von den Eindrücken der französischen Revolution, ließen sich voller Hingabe an die große Idee und propagandistisch hoch entzündet zu Kriegshaufen zusammenführen, die, wie Scharnhorst bemerkt, im Glauben „das Glück der ganzen Menschheit“ zu erkämpfen, einen „Geist der Ausrichtung“ entwickelten, „der große Dinge zu thun imstande“ war.[11] Auf diese Weise musste sich Napoleon nicht bloß auf eine geringe Anzahl regulärer Truppen verlassen, sondern konnte prinzipiell auf das gesamte französische Volk zurückgreifen, welches voller Motivation für die freiheitlichen revolutionären Ideale zu kämpfen gewillt war. Von dieser Idee einer potentiell vollständigen Volksbewaffnung fasziniert, notiert Scharnhorst 1799, „daß eine Nation sich ganz zum Kriege hergiebt, sobald sie für ihr Privat-Interesse, für ihre vermeinte Freiheit ficht.“[12]

Napoleon verstand es, den Nationalstolz der Franzosen und ihren revolutionär motivierten Ruhmes- und Tatendrang für seine imperialistischen Pläne zu instrumentalisieren und so etwa im Jahr 1806 Preußen in die Knie zu zwingen. Bei aller Anziehungskraft der modernen französischen Kriegsführung war es allerdings der spanische Aufstand gegen Napoleon im Jahr 1808, der für die Insurrektionspläne des Königsberger Triumvirats eine große Inspiration darstellte und sich letztendlich auch in Kleists ‚Hermannsschlacht’ niederschlägt.

2.1.2 Spanien

Nachdem das reguläre spanische Heer im Jahr 1808 von Napoleon besiegt und das Land besetzt worden war, formierten sich aus der spanischen Bevölkerung zahlreiche Gruppen von Partisanenkriegern. Diese bezwangen die französischen Truppen trotz eigentlich aussichtsloser zahlenmäßiger Unterlegenheit und schlugen so – im Bezug auf die Kriegstaktik – Napoleon gewissermaßen mit seinen eigenen Waffen: waren seine Kämpfer bisher noch keiner regulären Armee unterlegen gewesen, so sahen sie sich nun in knapp 200 Kleinkriege verwickelt, die auf spanischer Seite von improvisierten irregulären Kampfgruppen aus der Bevölkerung geführt wurden. Die hier erstmals verwendete Methode des ‚Guerilla’, des ‚kleinen Krieges’ setzte sich aus der Bewaffnung des Volks und der Aufteilung der Kriegshandlung in zahlreiche kleinere Gefechte zusammen und vertraute auf die regionale Überlegenheit sowie einer von Nationalstolz motivierten Entschlossenheit der einheimischen Kämpfer. Ende Juli 1808 zwangen die Partisanen die französische Streitmacht nach der Schlacht von Baylen zur Kapitulation.[13]

Der Ereignisverlauf in Spanien zeigte den Königsberger Reformern, dass und besonders wie die französischen Armeen zu besiegen waren. Der Freiherr vom Stein fügt diese Einsichten in die Pläne einer eigenen, deutschen Volkserhebung ein – er notiert: „Was Volksbewaffnung in Verbindung mit stehenden Truppen vermag, wenn beyde, Nation und Soldat, von einem gemeinschaftlichen Geiste beseelt ist, sieht man in Spanien (...).“[14] Es steht fest, dass dem Dichter Heinrich von Kleist die Pläne des Königsberger Kreises, eine deutsche Insurrektion nach spanischem Vorbild zu entfachen, genauestens bekannt waren und dass die ‚Hermannsschlacht’ das Partisanenkriegs-Konzept der preußischen Reformer mit großer Präzision literarisch abbildet.[15] Die folgenden Überlegungen stellen Kleists Kriegskonzept im Drama vor und erläutern die Analogien zu seiner Vorlage, den Absichten der preußischen Reformer.

2.2 Niederschlag in der ‚Hermannsschlacht’

2.2.1 Ergebenheit an das große Ziel

Der Königsberger Kreis hatte erkannt, dass als erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Erhebung gegen Napoleon die rückhaltlose Unterordnung aller privaten, materiellen oder staatlichen Interessen unter das eine große Ziel (hier: die Befreiung aus dem französischen Joch) galt. In einem Kampf, in dem es um nichts anderes mehr gelten sollte als zu sterben oder zu siegen[16], hatte das Volk, und zwar alle Stände, sämtliche materiellen Verluste und Entbehrungen zu akzeptieren und in totaler Hingabe an den einen großen Plan auch den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Gneisenau formuliert: „Alles vorrätige Getreide wird beim Vordringen des Feindes fortgeschafft und die Gegend vor ihm verödet, die Mühlen der nötigsten Stücke beraubt und Frauen und Kinder flüchten sich nach Bezirken, deren der Norden so viele hat...“[17] Kleist übernimmt diesen Anspruch in seinem Drama. Um die germanischen Fürsten, denen es am Erhalt ihrer Besitztümer gelegen ist, zum Verzicht auf alle materiellen Güter im Dienste des Partisanenkriegs zu bewegen, fordert Hermann:

Wollt ihr (...) Zusammenraffen Weib und Kind,

Und auf der Weser rechtes Ufer bringen (...)

Verheeren eure Fluren, eure Herden

Erschlagen, eure Plätze niederbrennen[18]

Doch nicht nur auf persönlichen Besitz sollte verzichtet werden, auch sämtliche politisch-moralischen Tugenden der Kriegskunst waren für die Reformer überflüssig geworden. Im Glauben, dass der große Zweck alle Mittel heilige, ersetzte die Königsberger Gruppe eine wenig radikale, von gemäßigten Zielen begründete, aufklärerisch orientierte und legitime Kriegskunst durch den Einsatz aufopferungswilliger, gnadenloser Massenheere ohne jegliche moralische Verantwortung.[19] So waren Verträge im Sinne des geltenden Staatenrechts nicht mehr einzuhalten[20] und der absolut gesetzte Feind wurde enthumanisiert: unterschieden Kriege bisher „zwischen dem Tod auf dem Schlachtfeld und einer ehrenhaften Gefangenschaft (...), gibt es im Partisanenkrieg nur noch den gnadenlosen und unehrenhaften Tod.“[21] Diese für die preußischen Reformer für eine Volkserhebung notwendige Totalisierung des Kriegs durch Aufkündigung staatsrechtlicher Verantwortung und Degradierung des Feindes verhandelt Kleist in der ‚Hermannschlacht’: der verschlagene Hermann bricht den mit den Römern geschlossenen Vertrag[22], der römische Feldherr Varus sieht sich von den Germanen auf tierisches Niveau herabgesetzt: „Ward solche Schmach im Weltkreis schon erlebt?/ Als wär ich ein gefleckter Hirsch,/ Der, mit zwölf Enden durch die Forsten bricht!“[23]

2.2.2 Propaganda

Dem Königsberger Triumvirat war bewusst, dass ein solch totalisierter Krieg, der von allen Deutschen den Verzicht auf jegliche moralische oder materielle Einwände verlangte und auf einen gnadenlosen Kampf für den Sieg über Napoleon abzielte, nicht ohne eine stark emotionale und skrupellose Propaganda zu bewerkstelligen war. Dem Freiherrn vom Stein war jedes Mittel recht, um das Volk diesbezüglich auf Kurs zu bringen. Für ihn musste „in der Nation das Gefühl des Unwillens erhalten werden über den Druck und die Abhängigkeit von einem fremden, übermüthigen, täglich gehaltloser werdenden Volke“[24]. Ihm war bewusst, dass der zu führende Krieg zuallererst ein Krieg der Gesinnung und der Motivation war und dass ohne ein vom Franzosenhass entflammtes Volk ein möglicher Sieg in weite Ferne rückte. Der bei den Preußen zu entfachende „Krieg der Herzen“ erlangte in diesen Plänen ein mindestens ebenso großes Gewicht wie der reguläre „Krieg der Regenten“[25]. Kleist versuchte nicht nur, durch sein Drama einen Beitrag zur anti-napoleonischen Propaganda zu leisten, auch innerhalb des Werks entwirft er mit der Person des Hermann das Paradebeispiel eines rücksichtslosen Propagandisten. In präziser Analogie etwa zu den Äußerungen Steins spricht Hermann:

Kann ich den Römerhaß (...),

In der Cherusker Herzen nicht

Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen:

So scheitert meine ganze Unternehmung![26]

Um den Hass gegen die Besetzer propagandistisch zu schüren und in einem germanischen Gegenschlag zu bündeln, bedient sich der kalt berechnende Hermann radikalster Methoden der Täuschung und der Lüge.[27] Beispielhaft hierfür sind erfundene oder übertriebene Untaten, die Hermann den Römern andichtet sowie, als Römer verkleidet, das selbständige Plündern und Brennen der eigenen Gebiete.[28] Ihren Höhepunkt erreicht Hermanns Agitation in der Hally-Episode: der Cheruskerfürst lässt die vergewaltigte Jungfrau in Stücke zerteilen und an die 15 deutschen Stämme schicken, wohlwissend um den gewaltigen Effekt, den „Sturmwind“ der „Empörung“[29], den diese Aktion bei den Germanen innehaben wird.

[...]


[1] Einen Überblick über die Geschichte der Kleist-Rezeption findet sich bei Günter Blamberger: ‚nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss’. Zur Typogenese des Kleist-Bildes in der deutschen Literatur der Moderne. In: Kleist-Jahrbuch 1995, S. 25-43.

[2] Während sich die Kleist-Rezeption im gleichgeschalteten NS-Deutschland höchst eindeutig und klar propagandistisch umrissen darstellte, präsentiert sich die zweite zu bearbeitende Rezeptionsgemeinde ungleich heterogener. Dennoch lässt sich aus den verschiedenen etwa marxistisch, humanistisch oder anti-imperialistisch geprägten Deutungen eine Art ‚common sense’ herauslesen, welcher in dieser Arbeit dargestellt wird. Auf eine Behandlung des Dramas im Bezug auf die DDR-Literaturwissenschaft muss an dieser Stelle verzichtet werden. Einblicke in das Verhältnis der sozialistischen Literaturgesellschaft zu Heinrich von Kleist bieten Tadeusz Namowicz: Heinrich von Kleist in der DDR. In: Kleist-Jahrbuch 1995, S. 150-166 sowie Heinrich Küntzel: Der andere Kleist. Wirkungsgeschichte und Wiederkehr Kleists in der DDR. In: Literatur im geteilten Deutschland. Hrsg. von Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn: Bouvier 1980, S. 105-139.

[3] Kanzog: Paradigmenwechsel, S. 314.

[4] Kleist: II, S. 821. Hier und im folgenden indiziert die römische Ziffer I den ersten Band der im Literaturverzeichnis angegebenen Kleist-Ausgabe und die II den zweiten.

[5] Eine nähere Beschäftigung mit der Entstehungszeit des Stücks findet sich bei Samuel: „Hermannsschlacht“ und der Freiherr vom Stein, S. 90-93.

[6] Ebd., S. 64.

[7] Vgl. Ebd.

[8] Kleist selbst belegt die vorgestellte Identifizierung in seinem Brief an Ulrike vom 24. Oktober 1806: „Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen.“ (Kleist: II, S. 771). Ob, wie häufig geschehen, weitere Dramenfiguren auf Zeitgenossen Kleists übertragen werden können (etwa Marbod – Österreich), ist für die Argumentation dieser Arbeit irrelevant.

[9] Busch: Imperialistische und faschistische Kleist-Rezeption, S. 80.

[10] Vgl. Kittler: Geburt des Partisanen, S. 218f.

[11] Colmar Frhr. von der Goltz (Hg.): Militärische Schriften von Scharnhorst, Berlin: 1881 (=Militärische Klassiker des In- und Auslandes), S. 202. Zit. nach: Kunisch: Entfesselte Bellona, S. 49.

[12] Max Lehmann: Scharnhorst Bd.1, Leipzig: 1886/87, S. 331f. Zit. nach: Kunisch: Entfesselte Bellona, S. 49.

[13] Vgl. zum gesamten Absatz Kittler: Geburt des Partisanen, S. 219-221.

[14] Aus dem Brief an den Fürsten Wittgenstein vom 15. August 1808. Zit. nach: Samuel: „Hermannsschlacht“ und der Freiherr vom Stein, S. 75.

[15] Dazu Richard Samuel: „Es ist wohl ausgeschlossen, daß die vielen Übereinstimmungen mit den Denkschriften, Briefen und Äußerungen des Königsberger Kreises auf Zufall beruhen und Kleist nur einer allgemeinen Stimmung der Zeit, wie sie in anti-napoleonischen Kreisen vorherrschte, Ausdruck geben wollte.“ (Samuel: „Hermannsschlacht“ und der Freiherr vom Stein, S. 90.)

[16] Vgl. Kunisch: Entfesselte Bellona, S. 52.

[17] N. v. Gneisenau, Denkschriften zum Volksaufstand von 1808 und 1811. Berlin: Juncker und Dünhaupt 1936 (Kriegsgeschichtliche Bücherei, Heft 10), S. 18. Zit. nach: Samuel: „Hermannsschlacht“ und der Freiherr vom Stein, S. 73.

[18] Kleist: I, S. 546, Zeilen 374-381.

[19] Vgl. Kunisch: Entfesselte Bellona, S. 52.

[20] Richard Samuel zitiert aus einem Kommentar über den Freiherrn vom Stein: „Er befürwortete die Fortsetzung der Bündnisverhandlungen mit Frankreich (...), bis sich die Gelegenheit bot, über der Bundesgenossen herzufallen.“ (Samuel: „Hermannsschlacht“ und der Freiherr vom Stein, S. 67).

[21] Kittler: Geburt des Partisanen, S. 230f.

[22] Hermann dokumentiert dies etwa in Zeile 938: „Bedeut ihm, was die List sei, Eginhardt.“ (Kleist: I, S. 565).

[23] Ebd, S. 623, Zeilen 2509-2511.

[24] Freiherr vom Stein. Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, bearb. v. E. Botzenhart, Berlin: 1931-1937, Bd. II. Zit. nach: Samuel: „Hermannsschlacht“ und der Freiherr vom Stein, S. 72.

[25] Kittler: Geburt des Partisanen, S. 243.

[26] Kleist: I, S. 585, Zeilen 1486-1489)

[27] Auf eine genauere Auseinandersetzung mit dem Motiv der Täuschung in Kleists Drama muss an dieser Stelle verzichtet werden. Eine außerordentlich präzise Analyse der an Machiavelli und Gracián orientierten Simulations- und Dissimulationsstrategien in der ‚Hermannsschlacht’ findet sich im Kapitel „Römer und Germanen im Spiel der Masken. Kleists Hermannsschlacht“ bei Gesa von Essen: Hermannsschlachten: Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 1998, S. 145-194 oder, in Kurzform, im Kleist-Jahrbuch 1999, S. 41-52.

[28] Vgl. Ebd., Akt III/2.

[29] Vgl. Ebd., Akt IV/6. Wörtliches Zitat von S. 591, Zeile 1618f.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Streitfall 'Hermannsschlacht'. Die politischen Ambitionen des Preußen Kleist und ihre Wahrnehmung(en) im 20. Jahrhundert
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Hauptseminar Heinrich von Kleist
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
46
Katalognummer
V55827
ISBN (eBook)
9783638506830
ISBN (Buch)
9783656565062
Dateigröße
608 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Streitfall, Hermannsschlacht, Ambitionen, Preussen, Kleist, Wahrnehmung(en), Jhdt, Hauptseminar, Heinrich, Kleist
Arbeit zitieren
Thomas von der Heide (Autor:in), 2004, Streitfall 'Hermannsschlacht'. Die politischen Ambitionen des Preußen Kleist und ihre Wahrnehmung(en) im 20. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55827

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