Reconquista und Ostsiedlung - ein Vergleich


Hausarbeit, 2005

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

A. Einleitung
I. Allgemeine Einleitung
II. Historischer Überblick
1. Ostsiedlung
2. Reconquista und Repoblacion

B. Hauptteil
I. Die Ostsiedlung in der Mark Brandenburg
1. Ostsiedlung: Gründung von Dörfern und Städten
2. Ethnische Bevölkerungsstruktur in Brandenburg vor und nach der Ostsiedlung
3. „Gesetzbücher“ und Register in der Mark Brandenburg
II. Reconquista und Repoblacion
1. Die Rolle von Dörfern und Städten bei der Repoblacion
2. Bevölkerungsstruktur im Zuge der Repoblacion
3. Landbücher und Register auf der Iberischen Halbinsel

C. Schluss / Beurteilung

D. Anhang

Literaturliste
1. Quellenausgaben, -sammlungen & -kommentare
2. Sekundärliteratur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einleitung

I. Allgemeine Einleitung

Robert Bartlett zeigt in seinem Buch „The Making of Europe“[1] interessante Parallelen in der europäischen, mittelalterlichen Geschichte[2] auf. Bei der Lektüre des Buches wird deutlich, dass es sich bei der Gründung der Kreuzfahrerstaaten, der Anglo-Normannischen Expansion in Wales und Irland, der Eroberung Siziliens durch Normannen, der Reconquista und der deutschen Ostsiedlung und –expansion nicht um isolierte Ereignisse handelte, sondern sehr viele Gemeinsamkeiten bestanden. Auch andere Autoren sehen Ähnlichkeiten der Siedlungsprozesse bei der Ostsiedlung und der Repoblacion im Zuge der Reconquista.[3] Bartletts Hauptthese, dass die Zeit zwischen 950 und 1350 eine „Europäisierung Europas“ brachte und somit die Geburt Europas als Idee war, wurde vom Autor dieser Hausarbeit bereits in einem Referat im Rahmen des Proseminars „Die Reconquista“ dargestellt und soll hier nicht diskutiert werden. Der Autor fand es interessant, anhand zweier Großereignisse der mittelalterlichen Geschichte Europas – der Reconquista und der Ostsiedlung – zu untersuchen, inwieweit Bartletts These verifiziert werden kann und es tatsächlich Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede gibt.

Der Autor geht von der These aus, dass die Reconquista planmäßiger – im Sinne von geregelter und geordneter – ablief, als die deutsche Siedlung in Ostmittel- und Osteuropa. Hierzu soll untersucht werden, welche Rolle Dörfer und Städte hatten und wie die Bevölkerungsstruktur der eroberten Gebiete war. Außerdem wird die Rolle von Registern sowie die Existenz von Gesetzesbüchern oder -sammlungen kurz dargestellt.

Geografisch beschränkt sich diese Hausarbeit im Bereich Ostsiedlung auf die spätere Mark Brandenburg. Benachbarte Gebiete wie Mecklenburg, Pommern und die Lausitz werden teilweise beispielhaft erwähnt, ohne näher untersucht zu werden. Ebenso wird die Betrachtung der Reconquista geografisch auf das heutige Spanien – und dort wiederum im wesentlichen auf Kastilien-León – beschränkt. Die Entwicklung Portugals wird nicht zum Gegenstand der Untersuchung. Andere spanische Gebiete wie Navarra, Aragon – die ehemalige Spanische Mark des Frankenreiches, das heutige Katalonien – werden, wenn nur am Rande behandelt, um Unterschiede sowie Parallelen zu Kastilien-León aufzuzeigen.[4]

II. Historischer Überblick

1. Ostsiedlung

Beim Begriff der „deutschen Ostsiedlung“ handelt es sich um einen historiographischen Begriff für den Prozess der Besiedlung und Akkulturation ehemals slawischer, baltischer oder ungarischer Gebiete östlich der Reichsgrenze. Getragen wurde diese Besiedlung hauptsächlich durch Bauern, aber auch Handwerker und Kaufleute zogen in neu gegründete Städte östlich der Elbe. In der Hauptphase der Ostsiedlung – von der Mitte des 12. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts – wurde der deutsche Siedlungs- und Sprachraum um mehr als ein Drittel vergrößert.[5] Problematisch am Begriff „deutsche Ostsiedlung“ – weswegen als Kapitelüberschrift Ostsiedlung gewählt wurde – ist, dass an diesem Prozess neben deutschen Siedlern auch u.a. Flamen, Reichsromanen, Dänen und vor allem auch die einheimische Bevölkerung – im Gebiet zwischen Elbe und Oder waren es slawische Stämme – beteiligt waren. Sowohl in der neueren deutschen Geschichtsschreibung, als auch in der polnischen und tschechischen Historiographie setzen sich zunehmend die Begriffe „Kolonisation zu deutschem Recht“ bzw. „deutsche Kolonisation“ durch.

Einen über diese Begriffserklärung hinausgehenden Überblick der Ostsiedlung zu geben ist schwierig – und im Rahmen einer Einleitung zu einer Proseminararbeit beinahe unmöglich –, da dieser Prozess in verschiedenen geografischen Räumen, wie dem Elbe-Oder-Gebiet, Polen, Schlesien, Böhmen, Ungarn, Ostpreußen, Baltikum und Siebenbürgen sehr unterschiedlich abgelaufen ist. Im wesentlichen gab es drei – je nach Gegend verschiedene – Initiatoren dieses Siedlungsprozesses. Zum einen riefen innerhalb des Heiligen Römischen Reiches deutsche (Brandenburg, Sachsen) und slawische Landes- und Grundherren (Mecklenburg, Rügen) mit Genehmigung des Kaisers/Königs Siedler in ihre jeweiligen Herrschaftsbereiche. Zum zweiten gab es slawische und ungarische Herrscher – sowie geistliche und weltliche Grundherren – (Böhmen, Mähren, Polen, Ungarn), die zwecks Inwertsetzung, Herrschaftsfestigung und Modernisierung ihres Staatswesens deutsche Siedler anwarben. Und zum dritten – in gewisser Weise ein Sonderfall – gab es den Deutschen Orden, einen geistlichen Ritterorden, der die Eroberung großer Gebiete im Baltikum zwecks Heidenmission betrieb und zur Herrschaftsfestigung ebenfalls deutsche Siedler anwarb.[6]

2. Reconquista und Repoblacion

Die mittelalterliche Reconquista wurde ideologisch damit begründet, dass die Herrschaft der Muslime zu Unrecht durch die Vernichtung des westgotischen Königtums entstanden sei. Die Forschung streitet darüber, ob es sich hierbei um Goticismus oder Neogoticismus handelt, also ob die christlichen spanischen Reiche tatsächlich aus den Resten des westgotischen Königtums entstanden waren oder ob diese Verbindung nur konstruiert war. Diese Ideologie der Rückeroberung zu Unrecht besetzten Gebietes unterscheidet die Reconquista von der deutschen Expansion östlich der Elbe, da die slawischen Fürsten und Bewohner grundsätzlich von den Deutschen nicht als unrechtmäßige Besitzer gesehen wurden. Folglich ist ein Vergleich von Rückeroberungs-Ideologien nicht möglich. Daher wird im Rahmen dieser Arbeit nicht näher darauf eingegangen, ob es sich um Goticismus oder Neogoticismus handelte.

Als Beginn der Reconquista wird gewöhnlich der Sieg von Covadonga (vor 722) angesehen, obwohl die Historizität dieses Ereignisses nicht gesichert ist, da die Quellenlage hierzu sehr problematisch ist. Erste nennenswerte und belegbare Ereignisse sind die Eroberungen von Alfonso I. und Alfonso II. in Galicien und Kastilien. Zwischen der Mitte des 9. und dem Anfang des 10. Jahrhunderts gelingt dann die Grenze – wobei Grenze im Bereich der mittelalterlichen Geschichte ein schwieriger Begriff ist, wie Le Goff treffend darstellt[7] – bis zum Duero bzw. bis nach Porto vorzuschieben. Mauro schreibt, dass die militärische Front der Reconquista gleichzeitig eine Front der Kolonisation – „repoblacion” und „repartimiento” – war.[8] In der Gegend des heutigen Kataloniens formierte sich der Widerstand gegen die Muslime erst später. Als Spanische Mark gehörten diese Gebiete – Gerona seit 785 und Barcelona seit 801 – zum Frankenreich.

Das 11. und 12. Jahrhundert war die Zeit der großen Eroberungen. Während Kastilien bereits 1063 Coimbra und 1085 Toledo – das alte Zentrum des Westgotenreichs – eroberte, begann Katalonien erst 1063 mit „systematische[n] militärische[n] Expedition[en]“[9], in deren Verlauf 1118 Saragossa erobert wurde. Die Dynastien der Almoraviden und der Almohaden bedeuteten noch einmal Rückschläge für die Reconquista. Im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts werden aber mit der Ausnahme des Emirats von Granada alle muslimischen Reiche auf der Iberischen Halbinsel erobert. Nach einer kurzen Unterbrechung der Reconquista durch den kastilischen Bürgerkrieg (1350 – 1369) wird die Reconquista 1492 mit der Eroberung Granadas abgeschlossen.

B. Hauptteil

I. Die Ostsiedlung in der Mark Brandenburg

1. Ostsiedlung: Gründung von Dörfern und Städten

Die Ostpolitik der Ottonen bildete den Anfang der deutschen Expansion im Gebiet der späteren Mark Brandenburg. Bei mehreren Feldzügen gegen die Slawen zwischen Elbe und Oder, in den Jahren 928/29 und 931,[10] eroberte König Heinrich I. – wahrscheinlich im Winter 928/29[11] – u.a. die Brennaburg (Brandenburg) und das dazugehörige slawische Fürstentum.[12] Otto I. – genannt „der Große“ – setzte die Ostpolitik seines Vaters fort.[13] Er gründete im Jahr 948 die Diözesen Brandenburg[14] und Havelberg,[15] die dann im Jahr 968 zum neugegründeten Erzbistum Magdeburg kamen.[16] Als Reaktion auf die Intensivierung der Reichsherrschaft hatten die slawischen Stämme vergeblich um die „dominatio regionis“ – eine Art innerer Autonomie – gebeten.[17] In der Folge kam es 983 zu einem heidnisch, slawischen Aufstand der Heveller/Wilzen und Abodriten, in dessen Verlauf die Bistümer Brandenburg und Havelberg fast ausgelöscht wurden.[18] Die Bischöfe mussten nach Magdeburg fliehen.[19] Bis zu den Wendenkreuzzügen bestanden die beiden Bistümer nur noch nominell weiter.[20] Die heidnisch, slawische Herrschaft blieb zwischen Elbe und Oder – nördlich der Marken Meißen und Lausitz – bis in die Mitte des 12. Jhs. erhalten.[21]

Am sogenannten Wendenkreuzzug – der parallel zum zweiten Kreuzzug stattfand und diesem gleichgesetzt wurde[22] – beteiligten sich drei der großen Reichsfürsten: Heinrich der Löwe, Albrecht der Bär und Konrad von Wettin.[23] Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Feldzug Richtung Nordosten das brandenburgische Gebiet – das Albrecht der Bär offensichtlich als sein Erbe ansah – sorgsam umging.[24] Der auf der Brandenburg residierende König Pribislaw Heinrich setzte Albrecht als seinen Erben ein, woraufhin dieser nach dem Tod des Erblassers – mit Hilfe der Witwe – die Brandenburg im Jahr 1150 besetzte.[25] Zwischen 1150 und 1157 muss Albrecht der Bär die Brandenburg noch einmal an den slawischen Fürsten Jaxa von Köpenick verloren haben.[26] Die Quellen schweigen darüber, wann genau Albrecht die Brandenburg an Jaxa verloren hatte.[27] Es ist lediglich klar, dass er sie 1150 das erste Mal besetzte und 1157 dem Jaxa von Köpenick wieder abnahm.[28] Daraus kann man folgern, dass Albrecht sich in seinem neu erworbenen Territorium erst noch gegen lokale Adelige bzw. Fürsten durchsetzen musste.

Dieser Herrschaftsantritt der Askanier nach dem Wendenkreuzzug ist der eigentliche Beginn der Ostsiedlung in der Mark Brandenburg – die noch Nordmark hieß und außer dem Havelland rund um die Brandenburg die spätere Altmark umfasste.[29] Die Askanier betrieben mit Hilfe von Lokatoren – sowohl geistlicher als auch weltlicher – intensiv den Landesausbau der Mark Brandenburg.[30]

Im ländlichen Bereich wurde der Landesausbau durch Neugründungen im Altsiedelgebiet, nahe alter slawischer Siedlungen[31], die rechtliche Umsetzung deutsch-slawischer Gemeinschaftssiedlungen[32] und die einfache Umsetzung slawischer Dörfer nach deutschem Recht[33] vorangetrieben. Diese Umsetzungen rein slawischer Dörfer wurden meistens durchgeführt, wenn nicht genügend neue Siedler vorhanden waren.[34] Daneben existierten aber auch slawische Dörfer und Kietze weiter.[35] Die Neusiedler kamen teilweise aus den askanischen Ländereien im Harzvorland, aus den Niederlanden, Flandern, West- und Ostfalen.[36] Hier wird deutlich, warum der Autor – wie oben unter A.II.1. ausgeführt – nicht von „deutscher Ostsiedlung“ sprechen will. Flandern und Niederlande sind nicht deutsch, auch wenn sie damals zum Heiligen Römischen Reich gehört haben. Immer wieder stellen Autoren heraus, dass in Dörfern mit deutschem Recht nicht unbedingt Deutsche angesiedelt sein mussten, sondern genauso gut Slawen leben konnten.[37] Die ländliche Bevölkerung setzte sich – zumindest im wesentlichen neben anderen sozialen Gruppen – aus Hüfnern und Kossäten zusammen, wobei erstere die bäuerliche und letztere die unterbäuerliche Schicht bildeten.[38] Die Trennung war durch rechtliche und wirtschaftliche – aber nicht durch ethnische Unterschiede – gekennzeichnet.[39] Die Ansiedlung lief in der Mark Brandenburg – genauso wie in anderen Gebieten der Ostsiedlung – nach einem bestimmten Schema ab. Der örtliche Grundherr beauftragte, nach Genehmigung durch den Landesherrn, einen Lokator. Dies geschah mittels einer Lokationsurkunde, von denen aus dem Gebiet der Mark Brandenburg nur noch wenige erhalten sind.[40] Der Lokator warb Siedler an, verteilte das Land unter den angeworbenen Siedlern und überwachte den Aufbau der Dörfer.[41] Der Lokator - lateinischer Terminus technicus in den Urkunden ist „locare“ – war eine Art Unternehmer, der auch das Risiko eines Misserfolgs der Ansiedlung trug.[42]

Im Laufe des 13. Jh. wurden zahlreiche brandenburgische Städte gegründet oder mit deutschem – oft Magdeburger – Recht ausgestattet. So erhielt Spandau 1232 Magdeburger Recht, Berlin/Cölln erhielt etwas später – etwa um 1240 – das Magdeburger Stadtrecht, im Jahr 1244 wurde Friedland unter Mithilfe von fünf Lokatoren gegründet und Frankfurt/Oder wurde seinerseits 1253 von Berlin mit Magdeburger Recht bewidmet.[43] Wobei die größeren, bedeutenden Städte meist vom bzw. im Auftrag des Landesherrn gegründet wurden und kleinere Landstädte – sogenannte Ackerbürgerstädte – meist eher von der Geistlichkeit und dem Adel.[44] Mit den Stadtgründungen wurden in erster Linie wirtschaftliche Zwecke verfolgt.[45] Die Städte waren insbesondere auch Träger des Fernhandels.[46] Bei der Ausfuhr von Waren dominierten Getreide, Vieh, andere tierische Produkte, Gestein, Metall und Metallwaren, während bei der Einfuhr von Waren Wein, Salz und andere Gewürze sowie Produkte des Textilgewerbes von hervorragender Bedeutung waren.[47] Die wichtigsten sozialen Schichten in den Städten waren die Kaufmänner und die in Zünften organisierten Handwerker.[48] Es konnten sowohl Deutsche, als auch Slawen Bürger der Städte werden – insbesondere für Salzwedel und Stendal gibt es Beispiele, dass Slawen sogar Bürgermeister werden konnten.[49]

Während der spätmittelalterlichen Agrarkrise leiteten Wüstungsprozesse auch in der Mark Brandenburg einen Siedlungsrückgang ein. Daneben führten die seit 1348 auftretenden Pestepidemien zu einem weiteren Bevölkerungsrückgang.

2. Ethnische Bevölkerungsstruktur in Brandenburg vor und nach der Ostsiedlung

Die Mark Brandenburg – wie alle ostelbischen Gebiete – war wie oben bereits dargestellt zum Beginn der deutschen Herrschaft und der Ostsiedlung von Slawen bewohnt. Obwohl es keine Vertreibungen von Slawen gab, bekennt sich heute trotzdem nur noch die sorbische Minderheit in der Lausitz – die sich seit dem 10. Jh. unter deutscher Herrschaft befand[50] – zu ihrem slawischen Volkstum. Die Frage ist, was mit der restlichen slawischen Bevölkerung geschah. Die ältere Literatur spricht in diesem Zusammenhang oft von „Germanisierung“.[51] Dieser Begriff ist politisch belastet und ungenau. Durch die Politik der Kaiserzeit und insbesondere auch durch das Wüten der Nationalsozialisten in Polen und anderen slawischen Ländern ist der Begriff politisch problematisch. Außerdem ist er ungenau, da „Germanisierung“ in gewisser Weise unterstellt, dass die Deutschen ein „rein germanisches“ Volk seien, was allerdings aufgrund diverser anderer Einflüsse nicht haltbar ist. Daher entscheidet sich der Autor für den modernen Begriff der Akkulturation. Unter Akkulturation versteht man die „Angleichung einer Kultur an eine andere, mit dem Ergebnis, dass beide sich einander anpassen oder die eine die andere überdeckt“.[52] Die Frage ist wie, wann und warum diese Akkulturation stattgefunden hat.

Die Slawen waren bis spätestens im 7. Jh. in das Elbe-Saale-Gebiet, an die Ostseeküste und in die Täler von Main und Regnitz eingewandert.[53] Auch im Havel-Spree-Gebiet wurden zahlreiche slawische Siedlungen nachgewiesen.[54] Folglich war das Gebiet der späteren Mark Brandenburg – vor deutscher Ostexpansion und Ostsiedlung – von Slawen bewohnt.

Wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt, wurde seit dem Beginn der Herrschaft der Askanier der Landesausbau mit Hilfe von deutschen, niederländischen und flämischen Siedlern vorangetrieben. Da es im Mittelalter keine Bevölkerungsstatistiken gab, ist eine zahlenmäßige Erfassung der Ostsiedlung problematisch. Schätzungen gehen davon aus, dass ungefähr 10 bis 12 Millionen Menschen im Reichsgebiet lebten.[55] Davon sollen innerhalb eines Jahrhunderts ca. 2 % – mithin 200.000 Menschen – oder aber pro Jahr durchschnittlich 0,02 % (2.000 Menschen) in die Gebiete im Osten ausgewandert sein.[56] Diese Zahlen würden auch erklären, warum die mittelalterlichen Chronisten nicht von einer Ostsiedlung der Deutschen berichten.[57] Kuhn sieht als wichtigsten Faktor die Reproduktion der Bevölkerung durch einen hohen Geburtenüberschuss, der zur Folge hatte, dass die Verdoppelungszeit ungefähr bei 20 bis 25 Jahren – evtl. auch leicht darunter – lag.[58] Laut Piskorski besteht heute Übereinstimmung „in der Feststellung, daß die Nachfrage nach deutschen Siedlern in Ostmitteleuropa entscheidend das Angebot überwog“.[59] Es wird angenommen, dass der Anteil der deutschen Bevölkerung schon gegen Ende des 13. Jhs. ca. 50 % betrug.[60] Wichtiger als alle Einwanderung und Geburtenraten dürften aber eine Verschmelzung der Einwanderer mit der autochthonen Bevölkerung zu einem Neustamm der Brandenburger gewesen sein.[61]

Die brandenburgische Kietze bewahrten ihren slawischen Charakter bis ins 16. Jh., nach Ansicht von Piskorski, weil sie „gleichsam Ghettos“ waren, „in denen die Bevölkerung in ihren Aufstiegsmöglichkeiten entweder völlig behindert oder stark beschränkt war“.[62] Daher sei es „bei der alten Rechtsstellung und Sprache geblieben“.[63] Dieses von Piskorski beschriebene Phänomen muss aber eher Sonderfall, denn Regel gewesen sein und dürfte sich bereits zu Beginn des 16. Jhs. aufgelöst haben.[64]

Der zeitliche Ablauf und vor allem das Ende des Akkulturationsprozesses ist in der Überlieferung nicht eindeutig zu erkennen.[65] Vieles spricht allerdings dafür, dass dieser Prozess in der Mark Brandenburg – zumindest zum allergrößten Teil in den Gebieten der Mittelmark und Altmark – bereits im 15. Jh. abgeschlossen war.[66] Als Beispiele nennt Dralle, dass das Slawische in Magdeburg bereits 1290, in Zwickau und Leipzig 1327 als Gerichtssprache aufgegeben wurde.[67]

In der Mark Brandenburg hat keine Verdrängung der slawischen Bevölkerung, sondern eine Akkulturation, stattgefunden. Die einheimischen Slawen übernahmen die Sprache, Religion und Sitten der Einwanderer, was zu einer Überdeckung der alten slawischen Kultur führte. Daher verschmolzen die Slawen mit den diversen Zuwanderern im Laufe des Mittelalters zu einem neuen Volksstamm – den Brandenburgern –, wie bei mehreren Autoren dargestellt wird.[68]

[...]


[1] Bartlett, Robert (Bartlett 1994): The Making of Europe: conquest, colonization and cultural change 950 – 1350. London u.a., 1994.

[2] Als Zeitraum der mittelalterlichen Geschichte benutzt der Autor die von Goetz (Goetz 2000, S. 32) vorgeschlagene Epoche von 500 bis 1500. Die wissenschaftliche Diskussion um die genauen Epochengrenzen wurde für diese Arbeit nicht vertieft, da lediglich der Zeitraum von 800/900 bis 1400 betrachtet werden soll und folglich der Streit um die genauen Epochengrenzen für die vorliegende Arbeit nicht relevant ist.

[3] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 37 mwN.

[4] Der historische Überblick zur deutschen Ostsiedlung wurde hauptsächlich mit Hilfe von Dralle 1991, Assing 1997 u. des Art. „Deutsche Ostsiedlung“ im LexMA angefertigt; LexMA VI, 1545-1546.

[5] LexMA VI, 1545.

[6] Der historische Überblick zur Reconquista wurde mit Hilfe von Lomax 1980, Vones 1993 und des Artikels „Reconquista“ im LexMA (LexMA VII, 527-531) angefertigt.

[7] Le Goff 2004, S.16-17.

[8] Mauro 1984, S. 30.

[9] Mauro 1984, a.a.O..

[10] Dralle 1981, S. 108-114.

[11] Bei der genauen Datierung ist in der Forschung keine Einigkeit erzielt worden. Literaturhinweise und kurze Erläuterungen vgl. Fn. 187 zu Dralle 1981, S. 108.

[12] Rer. g. Wid. I/35 in MGH SS Bd. 60.

[13] Dralle 1991, S. 15.

[14] Lübke 1985, II, Nr 83.

[15] Lübke 1985, II, Nr 84.

[16] Fried 1993, S. 79.

[17] LexMA VII, 489.

[18] Lübke 1986, III, Nr. 220 – 221; weitere Regesten zu hier nicht behandelten Ereignissen des Slawenaufstandes folgen von Nr. 222 – Nr. 226a.

[19] Dralle 1991, S. 19.

[20] Dralle 1991, S. 19.

[21] LexMA VII, 2004.

[22] Schultze 1964, S. 41; Dralle 1991, S. 45; Beumann 1963, 121 – 145; vgl. zum Kreuzzugsgedanken beim Wendenkreuzzug LexMA VIII, 2183.

[23] LexMA VIII, 2183.

[24] Schultze 1964, S. 42; Dralle 1991, S. 46.

[25] Partenheimer FBPG NF 4, 1994, 151 mwN; Dralle 1991, S. 45.

[26] Partenheimer FBPG NF 4, 1994, 152; Dralle 1991, S. 45.

[27] Partenheimer FBPG NF 4, 1994, a.a.O..

[28] Partenheimer FBPG NF 4, 1994, 151.

[29] Jakobs 1994, S. 45; Helbig 1973, S. 38.

[30] LexMA II 560.

[31] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 52 mwN.

[32] Helbig 1973, S. 7.

[33] LexMA II, 560; Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 42.

[34] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 42.

[35] Guttmann, FBPG 9, 1897, S. 496 f.; Helbig 1973, S. 7.

[36] LexMA II, 560.

[37] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 41 mwN.

[38] Helbig 1973, S. 10 – 13.

[39] LexMA II, 560.

[40] Helbig 1973, S. 9. Helbig nennt die Lokationsurkunden einen Ansiedlungsvertrag; was zwar nach moderner Rechtsauffassung zutreffend ist, aber im mittelalterlichen Sprachgebrauch nicht üblich war.

[41] Helbig 1973, S. 9.

[42] LexMA V 2090; Helbig 1973, S. 9.

[43] Helbig 1973, S. 38; Assing, FBPG NF 3, 1993, S. 19.

[44] Helbig 1973, S. 38 – 40; LexMA II, 560.

[45] Helbig 1973, S. 39.

[46] Helbig 1973, S. 39.

[47] LexMA II, 561.

[48] Helbig 1973, S. 18 – 30.

[49] Vgl. Guttmann, FBPG 9, 1897, S. 503-505.

[50] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 35.

[51] So auch Guttmann an mehreren Stellen in seinem Artikel Guttmann, FBPG 9, 1897, S. 395 – 514.

[52] Zitiert nach Sociolexikon der Fachhochschule Nordostniedersachsen, URL: http://www.sociologicus.de/lexikon/lex_soz/a_e/akkultur.htm 07.03.2005.

[53] LexMA VII, 2001.

[54] Vgl. Dralle 1981, S. 74 – 75.

[55] Vgl. Kuhn 1973, S. 229 mwN.

[56] Kuhn 1973, S. 229.

[57] Dralle 1991, S. 95 f..

[58] Vgl. Kuhn 1973, S. 213 – 215.

[59] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 48.

[60] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 49 mwN.

[61] Vgl. Dralle 1991, S. 90 – 94.

[62] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 37.

[63] Piskorski, JbGMOD 40, 1991, 37.

[64] Guttmann, FBPG 9, 1897, S. 513.

[65] Dralle 1991, S. 91.

[66] Guttmann, FBPG 9, 1897, S. 513. Dralle 1991, S. 91 mwN.

[67] Dralle 1991, S. 91.

[68] Dralle 1991, S. 90; LexMA II, 560.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Reconquista und Ostsiedlung - ein Vergleich
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Geschichtswissenschaften)
Veranstaltung
Die Reconquista (Proseminar)
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
24
Katalognummer
V55731
ISBN (eBook)
9783638506106
ISBN (Buch)
9783638664059
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Reconquista, Ostsiedlung, Vergleich, Reconquista
Arbeit zitieren
Thomas Keller (Autor:in), 2005, Reconquista und Ostsiedlung - ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55731

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