Das Bild einer kreierbaren Wirklichkeit in "Ferdydurke" von Gombrowicz


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

25 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Die Zielbestimmung, die Literatur und Vorgehensweise
1.2. „Ferdydurke“

2. Wirklichkeitswahrnehmung
2.1. Mimesis
2.2. Eine relative Wirklichkeit

3. Problematik in „Ferdydurke“
3.1. Suche nach der Objektivität
3.2. Postulat des Relativismus

4. Form und das Außerformelle
4.1. Oppositionelles System
4.2. Was ist die „Form“? Wozu existiert die „Form“?

5. Verzichten auf die „Form“
5.1. Unreife als Freiheit
5.2. Unreife als Schweigen
5.3. Ständiges „Werden“

6. Literarische Mittel der Realisierung und Derealisierung in „Ferdydurke“
6.1. Farce und Symbolik
6.2. Teilverständnis und Sprache
6.3. Schwanken der „Form“

7. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Witold Gombrowicz wurde 1904 als Sohn eines polnischen Landadeligen geboren und ist einer der bedeutendsten polnischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er begann nach seiner Ausbildung zunächst eine Juristenlaufbahn, bevor er sich ab 1934 ganz dem Schreiben widmete. 1939 landete Gombrowicz als Passagier der Jungfernfahrt eines Schiffes in Argentinien. Vorgesehen war ein Aufenthalt von wenigen Tagen, Gombrowicz wurde jedoch vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht und blieb bis 1963 in Argentinien. Danach übersiedelte er nach Frankreich und starb dort 1969. Gombrowicz gilt als Vertreter des polnischen Existentialismus und wurde vor allem durch seine grotesken und phantastischen Erzählungen bekannt. Er arbeitet in seinen Erzählungen und Stücken mit den Mitteln der Groteske: „Die Groteske ist bei Gombrowicz nichts als ein Organ des Widerstands und des Abstoßens. Der Angriff konnte nur gelingen, indem jegliche Haltung des Ernstes aufgegeben wurde“[1]

Witold Gombrowicz hatte eine exzentrische Natur, er machte es sich zur Lebensaufgabe, den Konventionen im Leben und in der Kunst zu trotzen. Von manchen vergöttert, von vielen gehasst, verkündete er unbequeme Wahrheiten, hatte keine Angst Tabus zu brechen - umgekehrt, er spürte sie auf und legte sie bloß. Er hatte eine Vorliebe für die Provokation und das Vermischen von Gattungen und Konventionen. Leszek Nowak meinte, würde man die Theorie von Gombrowicz heute ganz deutlich verbalisieren, wäre sie eine von den interessantesten soziologischen Theorien.[2]

1.1. Zielbestimmung, Literatur und Vorgehensweise

Meine Hausarbeit, die sich vor allem auf Witold Gombrowiczs Werk Ferdydurke bezieht, soll in Anlehnung an seine „Theorie der Form“ die von ihm bei der Konstruktion der Wirklichkeit(en) genutzten Strategien und seine Vorstellung von der Wirklichkeit veranschaulichen. Als erstes muss man hier die Frage beantworten, was die „Wirklichkeit“ an sich ist. Gibt es überhaupt eine objektive Wirklichkeit (eine axiomatische Wirklichkeit)? Daraus folgen die nächsten Fragen: in welchem Verhältnis steht die in Gombrowiczs Werken darstellte Wirklichkeit zu der von uns ertastbaren Wirklichkeit? Wie sieht die Welt Gombrowiczs aus und welche Regeln beinhaltet sie? Hat er bewusst und konsequent ein Weltbild kreiert? Welche Mittel benutzte er dabei? Woraus besteht die Einzigartigkeit seiner Vorgehensweise? In welcher Beziehung steht der Hauptprotagonist in Ferdydurke zur vorhandenen Wirklichkeit? Welche Verständnisstufe erreicht er bei der Perzeption der Wirklichkeit und welche Strategien sind ihm dabei von Nutzen?

Bei der Beantwortung all dieser Fragen konzentriere ich mich vor allem auf die Textanalyse des Primärtextes Ferdydurke (Kraków: Wydawnictwo Literackie, 1997). Beim Versuch der Veranschaulichung der „Theorie der Form“ werde ich mich auch an Gombrowiczs eigene Ausführungen anlehnen. Besonders hilfsreich scheinen mir in dieser Hinsicht Dzienniki (1957- 1961, 1961- 1966, 1967- 1969. Kraków: Wydawnictwo Literackie, 1988) und auch Testament. Rozmowy z Dominique de Roux (Kraków: Wydawnictwo Literackie, 1996) zu sein. An einigen Stellen werde ich darüberhinaus Zitate aus Operetka (in: Dramaty. Kraków: Wydawnictwo Literackie, 1988), Pornografia (Kraków: Wydawnictwo Literackie, 1987) und Kosmos (Kraków: Wydawnictwo Literackie, 1988) erwähnen. Der Autor versucht seine Werke dem Leser zugänglicher zu machen, indem er vielen davon eigene Kommentare hinzufügt (in Ferdydurke z.B. die literarischen Passagen, die sich auf die eigentliche Handlung beziehen). Er kommentiert sie auch oft in Dzienniki, wo man noch weitere Hinweise findet, die es ermöglichen, seine Weltanschauung und Denkweise besser zu verstehen. Allerdings zog Gombrowicz immer eine starke Grenze zwischen Wissenschaft und Literatur. Er verstand sich selbst als Literaten, als „Gombrowicz den Schriftsteller“ und nicht als „Gombrowicz den Wissenschaftler“ und meinte: „Przerabianie poezji na wykresy jest niewdzięcznym zadaniem. Ja bym na miejscu tych panów tego się wstydził“[3]. Daher ist das Verstehen von Gombrowiczs „Theorie“ soweit problematisch, dass eben diese nicht­wissenschaftliche Beziehung des Autors zu ihr sich als eine schwer zu bewältigende Barriere entpuppt. Die Kommentare des Autors im Bezug auf die eigenen Arbeiten sind zudem oftmals

indirekt und unklar. Der Leser fühlt sich oft (von Gombrowicz) in Sackgassen im Labyrinth seines literarischen Werkes geführt und dem ständigen Stolpern ausgesetzt. So bleibt der Leser allein auf dem Schlachtfeld und das Einzige, was er in der Hand hat, sind locker miteinander verknüpfte Gedankengänge, zwischen denen, wie es scheint zu sein, die kausal- konsekutiven Verhältnisse völlig fehlen.

Aus diesem Grunde wurden und werden sind so viele diametral gegensätzliche Kommentare zu Gombrowiczs Literatur verfasst. Oft hat man das Gefühl, es herrsche auch unter den anerkanntesten Kritikern keinerlei Übereinstimmung selbst in Bezug auf die allergrundlegendsten Begriffe wie „Form“ oder „Reife“, die bei Gombrowicz als Hauptbedeutungsträger dienen. Und so komme ich zur Sekundärliteratur.

In meiner Arbeit möchte ich mich auch auf andere Publikationen beziehen, die im Zusammenhang mit dem Thema stehen. Reichlich Material lieferten mir die Werke von Jan Błoński: Gombrowicz i krytycy (Kraków, Wrocław: Wydawnictwo Literackie, 1984) und Forma, śmiech i rzeczy ostateczne. Studia o Gombrowiczu (Kraków: Znak, 1994), Podglądanie Gombrowicza von Jerzy Jarzębski (Kraków: Wydawnictwo Literackie, 2000) und natürlich Gombrowicz. Człowiek wobec ludzi von Leszek Nowak (Warszawa: Prószyński i S-ka, 2000). Vor allem Błoński und Jarzębski sind sehr anerkannte Kritiker von Gombrowiczs Werken und geben aufschlussreiche Hinweise zu deren Interpretation. Mittlerweile gibt es auf dem polnischen Buchmarkt (aber nicht nur) zahlreiche literarische Positionen zum Verständnis von Gombrowiczs Welt, deren Anzahl schon seit Jahren die Anzahl der Werke des Autors selbst um das Mehrfache übertrifft. Diese Vielfalt an Auswahl, die an sich auf eine sehr positive Tendenz und großes Interesse an Gombrowicz hinweist, mag besonders beim „Einsteiger“ für eine gewisse Verwirrung und Unübersichtlichkeit sorgen. In diesem Sinne möchte ich auch darauf hinweisen, dass ich in meiner Arbeit nur auf ausgewählte Probleme im Gesamtkonzept des Autors eingehen werde.

1.2. „Ferdydurke“

Am Anfang ein paar Worte zum Inhalt: es geht um den gerade 30 gewordenen Józio, der trotz seines Alters weit von einem festen Halt im Erwachsenenleben entfernt ist. Er fühlt sich nicht nur viel jünger, als er in Wirklichkeit ist, sondern trifft auch stets auf Menschen, die ihn seine Unwissenheit, mangelnde Bildung, kurz: Unreife spüren lassen. In dieser Situation tritt Professor Pimko auf den Plan, verwandelt Józio in seine jugendliche Gestalt zurück und steckt ihn wieder in die Schule. Józio wehrt sich einerseits vor der Ausspannung und verlangt eine Hierarchie, eine „Form“ in seinem Leben: „Ach, stworzyć formę własną! Przerzucić się na zewnątrz! Niech kształt mój rodzi się ze mnie, niech będzie zrobiony mi!”[4]; anderseits sieht er aber, dass jede „Form” ihn selbst begrenzt. Er wehrt sich vor der Unvollkommenheit des Anderen und ist sich dabei der eigenen Unvollkommenheit bewusst. Er verlässt sich auf seine eigenen Gefühle und sucht instinktiv nach etwas anderem in der Hoffnung, eine „Form“ für sich zu finden, eine solche, in der er ein Vollkommenheitsgefühl zu spüren bekommt. Diese findet er jedoch nie. Stattdessen trifft er auf neue Umgangsformen, neue gesellschaftliche Schemen, die zu befolgen sind. Am Ende ist er sich klar über seine eigene Situation, über die eigenen metaphysischen Bedürfnisse. Er gibt seinen Plan zur Realisierung des eigenen Lebens in der Welt der „Form“ auf. Die Kritik an der Realität bleibt aber aktuell, was er folgendermassen ausdrückt: „Gdyż nie ma ucieczki przed gębą, jak tylko w inną gębę, a przed człowiekiem schronić się można jedynie w objęcia innego człowieka. Przed pupą zaś w ogóle nie ma ucieczki.”[5]

Intuitiv würde man sagen, das Hauptthema der Ferdydurke sei das Problem der „Form”. Was diese „Form“ ist, erklärt am besten der Autor selbst: „Lecz w Rzeczywistości sprawa przedstawia się, jak następuje: że istota ludzka nie wyraża się w sposób bezpośredni i zgodny ze swoją naturą, ale zawsze w jakiejś określonej formie, i że forma owa, ów styl, sposób bycia nie jest tylko z nas, lecz jest nam narzucony z zewątrz - i oto dlaczego ten sam człowiek może objawiać się na zewnątrz mądrze albo głupio, krwawo lub anielsko, dojrzale, lub niedojrzale, zależnie od tego jaki styl mu się napatoczy i jak uzależniony jest od innych ludzi.”[6]

Wonach sucht Józio eigentlich? Nowak meint, Gombrowicz breche mit den gesellschaftlichen Stereotypen, die die innere psychische Welt der äußeren sozialen Welt gegenüberstellen.[7] Jaszewska weist darauf hin, dass Ferdydurke von einem einzigen Hauptmotiv handelt: einer Utopie des „Ich“, das sich gegen die „reifen“, offiziellen Formen des Lebens und der Kunst wehrt.[8] Als das Individuum vergewaltigende Formen sieht Gombrowicz die herrschenden Ideologien, Religionen, Nationalismen und steife gesellschaftliche Normen an, aber auch literarische und künstlerische Konventionen. Ihnen stellt er eine scheinbare geistige Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber, das Recht des Individuums zur Unreife und Unbestimmtheit. So gesehen, könnte man die Problematik von Ferdydurke verstehen, indem man die Verhältnisse, die zwischen „Individuum“ und „Gemeinschaft“, zwischen „Ich“ und „der Andere“, zwischen „Einheit“ und „Gesellschaft“ existieren, erörtert. Es geht aber um etwas anderes. Józio sucht nicht nach einem Kern des eignen „Ich“, was tatsächlich eine oben genannte Opposition hervorrufen würde; er sucht vielmehr nach Authentizität. Er möchte eigene Maßstäbe aufbauen, die nicht unbedingt souverän sein müssen. Er will alleine handeln. Das autonome Handeln ist seine Utopie. Was für ihn zählt, ist allein die Suche nach der Wirklichkeit, doch nicht unbedingt die Wirklichkeit an sich. Entscheidend ist für ihn die Bewegung.

[...]


[1] Bruno Schulz, im Internet unter: www.wanat.de/gombrowicz/index1.htmlome

[2] NOWAK (2000), S. 32

[3] GOMBROWICZ (1996), S. 45

[4] GOMBROWICZ (1997), S. 12

[5] GOMBROWICZ (1997), S. 254

[6] ebd., S. 87

[7] NOWAK (2000), S. 54

[8] JASZEWSKA (2002), S. 33

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Das Bild einer kreierbaren Wirklichkeit in "Ferdydurke" von Gombrowicz
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Slawistik)
Veranstaltung
Polnische Prosa der Moderne: Mimetische Strategien zwischen
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
25
Katalognummer
V55542
ISBN (eBook)
9783638504607
ISBN (Buch)
9783638663984
Dateigröße
628 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bild, Wirklichkeit, Ferdydurke, Gombrowicz, Polnische, Prosa, Moderne, Mimetische, Strategien
Arbeit zitieren
Marta Kabacinska (Autor:in), 2005, Das Bild einer kreierbaren Wirklichkeit in "Ferdydurke" von Gombrowicz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55542

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