Wirtschaftspolitik im Kaiserreich


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

35 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wirtschaftspolitik im Kaiserreich
2.1 Theoretische Betrachtung: Organisierter Kapitalismus oder Interventionsstaat?
2.2 Zusammenhang von Wirtschaftspolitik und Konjunkturzyklen

3. Wirtschaftspolitik im Wandel vom Agrar- zum Industriestaat

4. Phasen der Wirtschaftspolitik
4.1 Zollverein und Gründerboom
4.2 Gründerkrise, Große Depression und Protektionismus
4.3 Die Caprivi‘schen Handelsverträge
4.4 Landwirtschaftliche Agitation und Sammlungspolitik

5. Wirtschaftspolitik unter Bismarck, Caprivi und Bülow
5.1 Otto von Bismarck
5.2 Leo von Caprivi
5.3 Bernhard von Bülow

6. Wirtschaftspolitik und Imperialismus

7. Rückblick und Ausblick

Anhang

Bibliographie

1. Einleitung

In der Zeit des Kaiserreichs 1870/71-1918 stieg das vor allem durch Bismarcks Wirken geeinte Deutschland innerhalb kürzester Frist zu einer der führenden Industrienationen der Welt auf. Noch heute wird Bismarck als der geniale Diplomat gefeiert, der Deutschland nach der Reichseinigung zu dem verholfen hat, das diese Stellung in der Welt ausmachte. All das machte das Kaiserreich jedoch am Ende so überheblich, mitverantwortlich zu sein, einen Krieg vom Zaun gebrochen zu haben, in dem es selbst unterging. Doch nicht nur über Bismarck und die Auswirkungen seiner Bündnispolitik ist in den vergangenen Jahren in großem Umfang publiziert worden. Insbesondere die ökonomischen und wirtschaftspolitischen Aspekte, die maßgeblich zur Entwicklung des Kai- serreichs beitrugen, regten die Gemüter und brachten eine Vielzahl von Veröffentlichungen he r- vor. Dennoch sind nicht alle Fragen dieser Ära zur Gänze behandelt. So scheint eine zusammen- fassende, von ideologischen Interpretationen befreite Darstellung der wirtschaftspolitischen Ent- wicklung nicht zu existieren. Die Wirtschaftspolitik im Kaiserreich gehörte ebenso wie viele ande- re Bereiche des öffentlichen Lebens und der Politik der damaligen Zeit zum Spielball der ve r- schiedensten Interessengruppen. Die Bedeutung die ihr hinsichtlich der volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung zukommt, behandeln viele Autoren am Rande. Da aber, wie Marx erklärt, „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei“, soll es Ziel dieser Arbeit sein, im begrenzten Rahmen die Entwicklung der Wirtschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich, ihre Ursachen und Wirkungen sowie die Akteure in diesem Theater darzu- stellen.

Keineswegs kann dabei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Vielmehr soll anhand be- stimmter Bereiche und ausgesuchter Persönlichkeiten versucht werden darzustellen, wie Wirt- schaftspolitik damals gemacht und durchgesetzt wurde, und welchen Einflüssen die Handelnden ausgesetzt waren. In zeitlicher Hinsicht soll diese Arbeit auf die Jahre vor dem I. Weltkrieg be- grenzt werden. Nach einleitenden theoretischen Überlegungen soll kurz der Wandel der deutschen Wirtschaft vom Agrar- zum Industriestaat betrachtet werden, bevor im Hauptteil auf die verschie- denen Phasen der Wirtschaftspolitik eingegangen wird. Die Namen Bismarck, Caprivi und Bülow stehen dabei für wirtschaftspolitische Umschwünge. Deren Rolle soll hier nochmals herausgestellt und abschließend imperialistische Tendenzen in der deutschen Wirtschaftspolitik behandelt wer- den.

Angesichts der herausragenden Stellung von Lobbyisten und Interessengruppen, welche die damalige Politik in einem nicht unerheblichen Rahmen beeinflusst haben, erscheint es sogar denkbar, Empfehlungen für die Gegenwart abzuleiten. Ganz im Sinne des Leitgedankens „ Perspektive durch Retrospektive ” wäre dann zu fragen, wieviel Lobbyismus beispielsweise der Europäischen Union gerade noch gut tut und wann die Schwelle der Einflussnahme überschritten ist. Doch dies sollte tatsächlich an anderer Stelle diskutiert werden.

2. Wirtschaftspolitik im Kaiserreich

2.1 Theoretische Betrachtung: Organisierter Kapitalismus oder Interventionsstaat?

Die Interpretationsprobleme der politischen Prozesse des Kaiserreichs veranlasste eine Vielzahl von Autoren, ihr Augenmerk auf das politische System und die Eliten zu lenken2. Daneben gab es jedoch noch weitaus mehr. So hinterfragt Hentschel in seinem empirisch geprägten Überblicks- werk die Verbindungen zwischen wirtschaftlicher Entwicklung, sozialer Gestaltung und dem po- litischem System. Er argumentiert, dass dem Aufbau und der Wirkungsweise wirtschaftlicher In- teressensverbände sowie deren vielfältige Einflüsse auf politische, vor allem aber wirtschaftliche und sozialpolitische Entscheidungen in der Literatur unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Damit sei ein Bild eines Staates entstanden, der weitestgehend im Dienst parti- kulärer Interessen stand: „Politik war … vorwiegend Mittel zur Sicherung traditioneller Herrschaft gegen moderne gesellschaftliche Kräfte, die von der naturwissenschaftlich-technischen und der wirtschaftlichen Entwicklung emporgetragen wurden“3. Hentschel gebraucht zur Umschreibung eines solchen politischen, jedoch mehr noch gesellschaftlichen Systems den nicht ganz unproble- matischen Begriff des „Organisierten Kapitalismus“. Er befindet, dass Deutschlands Wandel vom Agrar- zum überwiegend industriell geprägten Staat als ein Prozess instabilen, immer wieder ge- störten industriewirtschaftlichen Wachstums von statten ging, der die andauernde Krise im Pri- märsektor vertiefte und die gesamte Volkswirtschaft mit einem strukturellen Wandlungsprozess belastet: „Auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Disharmonien mußte von privater und staatlicher Seite mit dem Ziel der Stabilisierung und Legitimierung des Systems reagiert werden. Das geschah mit unterschiedlichen, den interessierten gesellschaftlichen und politischen Kräften je gemäßen Formen, die sich freilich ergänzten und in die gleiche Richtung wirkten“. An dieser Stelle muss jedoch davor gewarnt werden, von gelenkten oder gar koordinierten Maßnahmen aus- zugehen, wie sie in einer planwirtschaftlich organisierten Wirtschaft denkbar wären. Vielmehr wirkte eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen eher zufällig komplementär. Hentschel fährt fort: „Das private Mittel hieß Organisation auf vielerlei Art und Weise, das staatliche Mittel hieß In- tervention. Organisation und Intervention wurden zum Signum der Zeit, ‚Organisierter Kapitalis- mus‘ und ‚Interventionsstaat‘ zu den bewegenden Kräften der Geschichte des Kaiserreichs“. Wäh- rend sich private Organisationsformen relativ einfach anhand von betrieblichen Konzentrationen und Zentralisationen sowie (meist überbetrieblich assoziierten) Wirtschafts- und Interessenve r- bänden4 identifizieren lassen, fallen solche Aussagen hinsichtlich des staatlichen Interventionsme- chanismus schwerer. Hentschel befindet diesbezüglich: „Die Vertreter des Konzepts beschränken sich denn auch … auf eine Aneinanderreihung staatlicher Maßnahmen, die irgendwie … mit akti- ver Beteiligung des Staates im Wirtschaftsleben und mit Einflußnahme auf wirtschaftliche Zu- sammenhänge in enger oder loser Verbindung stehen; recht unbekümmert um deren internationa- len oder zufälligen Charakter und um ihre Reichweite und Wirkungskraft, Handels- und Zollpoli- tik, … Rüstungsaufträge, … Infrastrukturmaßnahmen, stehen da einträchtig nebeneinander und sollen, jedes auf seine Art, dazu verholfen haben, Konjunkturen zu glätten, Sozialkonflikte abzufangen oder zu lindern, ‚die gefährdete Funktionsfähigkeit der Wirtschaft (zu) stabilisieren (und) kontinuierliches Wachstum (zu) erleichtern‘“5. Auf der anderen Seite lassen sich all diese Aspekte nicht so einfach zu trennen; die staatliche Wirtschaftspolitik im Kaiserreich kann vielleicht erst durch das Nebeneinander erklärt werden.

Politik in Deutschland zeichnete sich nach der Reichsgründung durch die Vermengung von öf- fentlicher und privater Macht aus. Die enge Verflechtung sozioökonomischer und staatlicher Sphären sowie die bewusste Ausschaltung der Konkurrenz in der Wirtschaft hatten ihre Auswir- kungen auch auf das Parteiensystem und die Verwaltung6. Als Beispiele seien hier massive Wahl- kampfunterstützungen seitens einzelner Wirtschaftsverbände zu Gunsten von Reichstagsabgeord- neten zu nennen, von denen man sich ein geneigtes Verhalten der Betreffenden versprach7. Zudem war das Verhalten der Interessensverbände durch vorparlamentarischen Aktivitäten gekennzeich- net, mit denen man glaubte, bestimmte gesetzgeberischen Vorgänge beeinflussen zu können. Mit- tels der Verbände wurde so ein sekundäres System gesellschaftlicher Mächte geschaffen8. Lederer charakterisiert dies mit der Ökonomisierung der Parteien, des politischen Lebens und politischer Entscheidungen9. Hentschel kritisiert an dieser Aussage zwar, dass sie nur wenige Gehalt hat10. Allerdings scheint problematisch zu sein, wenn ein politischer Verband in Form einer verfassten Partei seine Zielsetzung anhand weniger Akteure ausrichtet, die Partei als Vehikel in gewissem Maße miss- oder gebraucht wird11. Fronten, die sich bilden, und dann häufig quer durch die Par- teien und Fraktionen verliefen, führten im Laufe der Zeit zu immer unübersichtlicheren, unkalku- lierbaren und wenig rationalen Entscheidungsprozessen. Eine zu enge Bindung an einzelne Reichstagsabgeordnete schmälerte die Aussichten auf eine erfolgreiche Einflussnahme seitens der Verbände. Statt dessen überwog das opportune Moment. Die Wirtschafts- und Handelspolitik im Kaiserreich erfuhr so durch die Verfilzung von Parteien und Interessensverbänden ihre einzigarti- ge Gestaltung.

2.2 Zusammenhang von Wirtschaftspolitik und Konjunkturzyklen

In sehr detaillierter Weise geht Born auf lang- und kurzfristige (nationale und internationale) Konjunkturzyklen ein, deren Auswirkungen die deutsche Wirtschaftspolitik mitbestimmten, zu- mindest jedoch einen maßgeblichen Einfluss auf deren Gestaltung und Ausprägung hatten. Die nicht-marxistische Literatur unterscheidet im allgemeinen zwischen zwei Phasen: der Bismarck- Zeit sowie der wilhelminischen Zeit. Diese seien bei oberflächlicher Betrachtung mit zwei Kon- junkturzyklen zu vergleichen. Die Bismarck-Zeit als Aufschwungphase ist außenpolitisch und durch vorsichtige Diplomatie geprägt, gekennzeichnet von Stetigkeit und Sicherheit, innenpoli- tisch jedoch bestimmt durch verschiedene Auseinandersetzungen, aber auch durch eine später kaum wieder erreichte, nachhaltiger Aufbauleistung. Dagegen ist die wilhelminische Zeit als konjunktureller Abschwung durch außenpolitische Fehlleistungen, die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und Macht sowie die zunehmende außenpolitische Isolierung aufgrund diplomatische Fehltritte seitens Wilhelm II. zu verstehen12. Zwar deckt sich die sogenannte „Große Depression“ der Jahre 1873/74 bis 1895/96, die mit Kontradieffs langer Abschwungwelle übereinstimmt13, nicht unbedingt mit dem oben dargestellten „politischen Zyklus“. Dennoch lassen sich anhand dessen verschiedene Ableitungen treffen. Zunächst war keine Depression im Sinne des Begriffs festzustellen. Lediglich die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Wachstums hat nach der Grün- derkrise spürbar abgenommen. Entscheidend war die Bewusstseinslage, die pessimistische Stim- mung sowie die ständig zur Klage neigende Wirtschaft. Wehler spricht in dem Zusammenhang eher von industrie- und agrarwirtschaftlichen Wachstumsstörungen14. Die wahrgenommene Große Depression hinterließ dennoch ihre Spuren in Gesellschaft und Politik. So kommt Rosenberg zu dem Schluss, dass der Primat der Innenpolitik die deutsche diplomatische und wirtschaftliche Au- ßenpolitik durch die langfristige Verschlechterung der Wirtschaftslage und die mit ihr verbundene Zuspitzung und Verhärtung der Klassengegensätze sowie die Umgruppierung von Parteien im ei- genen Land beeinflusste und den Aufstieg der eigenwilligen, robusten Interessenverbände er- möglichte15. Hentschel argumentiert, dass eine unmittelbare Folge der Großen Depression die Wende in der deutschen Wirtschaftspolitik vom Liberalismus zum Protektionismus darstellt: „Gründerkrise und Depression machten der liberalen Hegemonie der liberalen Fraktionen im Reichstag … ein Ende. Durch die Depression wurde der handelspolitische Liberalismus diskredi- tiert; und der politische Liberalismus hatte darunter zu leiden, daß in den Jahren der Krise offenbar wurde, daß liberale Gesetze und Institutionen in erschreckendem Ausmaß hatten mißbraucht wer- den können“16. Verantwortlich dafür waren vor allem vielfältige persönliche und sachliche Ver- flechtungen zwischen den Parteien und den diversen Interessensverbänden. Der besonders ein- flussreiche Centralverband Deutscher Industrieller beispielsweise tat sich durch gute persönliche Beziehungen hervor, die mehrere seiner führenden Mitglieder zum Kaiser, zu einzelnen Ministern sowie hohen Beamten unterhielten und diese nutzen, um - wie es Born sehr vorsichtig ausdrückt - „seine Vorstellungen und Wünsche nicht nur der Legislative, sondern auch der politischen und administrativen Führungsspitze intensiv zu vermitteln“17.

3. Wirtschaftspolitik im Wandel vom Agrar- zum Industriestaat

Die Landwirtschaft, in der noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit über zwei Drittel der Bevölkerung tätig waren, blieb bis Ende des Jahrhunderts wichtigster deutscher Wirtschaft s- sektor. Dennoch war bereits im Gefolge des Gründeraufschwungs der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft absehbar. Trotz zurückbleibender landwirtschaftlicher Produktion wuchs das Sozi- alprodukt in dieser Periode um ein Vielfaches. Spätestens 1890 hatte sich jedoch die Frage „Agrar- oder Industriestaat“ aufgrund vollendeter ökonomischer Tatsachen zu Gunsten des Letzte- ren Entschieden. Der Siegeszug der Industrie zeigte sich nicht nur in ihrem dominanten Anteil an der Volkswirtschaft, sondern vor allem in ihrem Einfluss auf die Wirtschaftspolitik. Die Ausfuhr Deutschlands vervierfachte sich in den Jahren von 1872 bis 1913. Gleichzeitig nahmen die Im- porte in den deutschen Wirtschaftsraum um das dreifache zu. Von 10,8 Milliarden Mark in dem oben genannten Zeitraum entfielen 8 Milliarden auf Rohstoffe und Nahrungsmittel. Von einem ursprünglich bedeutenden Beitrag der Landwirtschaft an der Wertschöpfung reduzierte sich ihr Anteil von 1870 bis 1913 auf 26,4% gegenüber der Industrie mit 41,1%18. Die noch kaum entwik- kelte und nicht ausgeprägte staatliche Konjunkturpolitik verursachte in Verbindung mit der zu- nehmenden Verflechtung in die Weltwirtschaft schließlich eine Verschärfung der Krisen der spä- ten 1870er und 1880 Jahre. Wehler argumentiert, dass „die Schwelle auf dem Weg vom Agrarland zum Industriestaat schon zurücklag“ und etwa seit 1876 sich die strukturelle Agrarkrise mit der der Industrie überlagerte. Nur so sei in der zeitgenössischen Wahrnehmung der Eindruck von der Großen Depression zu verstehen19. Ein enormer Preisverfall in der Landwirtschaft - die Geburts- wehen des entstehenden Weltmarktes - leitete die strukturelle Agrarkrise ein. Verantwortlich hier- für waren sinkende Produktions- und Transportkosten vor allem in Übersee sowie Russland infol- ge technischen Fortschrittes. Die bis dahin traditionell eher liberal gestimmten Agrarier veran- lasste dies zu einer verstärkten und kaum noch zu überhörenden Artikulation ihrer gemeinsamen Interessen. Lambi erklärt die Folge dessen mit den Worten: „The shift of German agriculture from its time honoured free trading policy to protection was one of the most crucial factors in the change of German tariff policy“20. Statt wirtschaftlicher Anpassung bemühte man die, für solche Anliegen im Zuge anstehender Reichstagswahlen offene Politik und erreichte 1879 gemeinsam mit der Schwerindustrie schließlich die Einführung von wirtschaftspolitischen Schutzmaßnahmen in Form von Einfuhrzöllen. Dietzel erklärt hierzu: „Die industrielle Entwicklung ‚verlangsamen‘ mittels Agrarschutz, heißt die Gesamtheit auf niedrigeres materielles Niveau herabdrücken - zu- gunsten der Klasse der Grundrentner. Heißt damit die Masse aufzureizen wider die gesellschaftli- che Ordnung“21. Nach Weitowitz wurden mit der Einführung der Zölle in der Landwirtschaft so- gar negative Anreize hinsichtlich innovativer oder effizienzsteigender Tätigkeiten gesetzt22. Eine kurzfristige Erholung änderte jedoch nichts an der strukturellen Krise, in der sich der gesamte Primärsektor befand. Die Vermutung liegt nahe, dass die Landwirtschaft zu diesem Zeitpunkt schlussendlich in das „Schlepptau der Industrie“ geriet; die industriellen Interessenverbände e- diglich die willkommene Unterstützung nutzten, um vor der Regierung ihren und den „Schutzb e- darf“ der gesamten deutschen Wirtschaft zu begründen23. Welche Regierung würde einer solch geschlossenen Front von Bittstellern einerseits und Fördern anderseits die Stirn bieten wollen, wenn doch Partei- und Machtkämpfe sowie Profilierungsversuche im Schatten einer nahenden Wahl ohnehin anfällig bzw. aufgeschlossen gegenüber Bekundungen einflussreicher Gruppen ma- chen. Die lang totgeglaubte Schutzzollidee gewann im Eindruck der Krise der 1870er Jahre schnell an Bedeutung. Ihre Befürworter nahmen die sich bietende Gelegenheit wahr, um sie zu realisieren24. Dennoch erklärt Mommsen, dass mit den Caprivi‘schen Handelsverträgen endgültig eine Prioritätsentscheidung zu Gunsten eines modernen Industriestaates gefällt worden ist25.

4. Phasen der Wirtschaftspolitik

Die Wirtschaft des Kaiserreichs zeigt eine erstaunliche Entwicklung auf. Obwohl sich die indu- strielle Revolution in Deutschland im Vergleich zu England relativ spät aber um so deutlicher an- kündigt (vgl. Darstellung im Anhang) und die Reichseinigung sowie die Ergebnisse des deutsch- französischen Krieges eine stimulierende Wirkung hatten, bleibt der Agrarsektor gemessen an der absoluten Beschäftigungszahl und seinem politischen Einfluss - obschon in einer strukturellen Krise - noch lange Zeit dominierend26. Die Rolle der Landwirtschaft wurde nicht nur von berufs- ständischen Politikern noch lange hervorgehoben. Dennoch lässt sich Bülow angesichts der auf- strebenden Industrie im Kaiserreich zu der Bemerkung hinreisen: „Das Volk der Denker, Dichter und Krieger ist zu einem Kaufmanns- und Handelsvolk ersten Ranges geworden“27. Aufgrund technischer Innovationen im sekundären Sektor gelingt der deutschen Wirtschaft innerhalb kürze- ster Frist der Anschluss an die Weltspitze28. Spätestens seit diesen Tagen folgt die inländische Konjunktur verstärkt dem internationalen Trend, schafft die Vernetzung mit Handelspartnern auf der ganzen Welt aber auch Abhängigkeitsverhältnisse, mit denen der Binnenmarkt zurechtkom- men musste. Spätestens seitdem ist Wirtschaftspolitik mehr als nur ein Ableger der Außenpolitik. Statt dessen versuchen Wirtschafts- und Interessenverbände in zunehmenden Maße den politi- schen Entscheidungsprozess zu beeinflussen. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich die wirtschaftlichen Wachstumsphasen und Krisenzeiten vor Augen führt, die nicht unbedingt von den politischen Entwicklungen zu trennen sind. Im folgenden soll daher auf die deutsche Wirtschafts- politik in ihren verschiedenen Phasen sowie deren Kontext eingegangen werden.

4.1 Zollverein und Gründerboom

Die ursprüngliche liberale Gestaltung der deutschen Wirtschaftspolitik im Kaiserreich ist durch die ökonomische Situation vor dessen Einigung zu erklären. Henderson zeigt, dass die industrielle Entwicklung in den 1850er Jahren die Wirtschaft bereits auf solch ein Niveau brachte, dass Deutschland nicht mehr hoffen konnte, von internationalen wirtschaftlichen Krisen verschont zu bleiben29. Er führt außerdem die persönlichen Eindrücke Bismarcks zu Zeiten des Frankfurter Reichstages an. Dessen ursprünglich liberale Haltung sei durch die Einsicht zu erklären, dass er in Frankfurt die noch in Zünften organisierte Gewerbe erlebte, wie sie erfolgreich jeglichen Wettbe- werb verhindern und die Öffentlichkeit infolge dessen ausbeuten konnte. Die liberale Idee war damals jedoch ein europäisches Phänomen. Ein Handelsabkommen zwischen Preußen und Frank- reich unter Napoleon III, der offensichtlich einen westeuropäischen Niedrigtarifblock ins Auge gefasst hatte, provozierte zwar Unstimmigkeiten mit Österreich, wurde jedoch auf preußischen

[...]


2 Layton, Geoff: From Bismarck to Hitler. Germany 1890-1933, London 1995, S. 24 {Zit.: Layton, Bismarck to Hitler}.

3 Hentschel, Volker: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland. Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat?, Stuttgart 1978,

S. 10-14 {Zit.: Hentschel, Wirtschaftspolitik}.

4 Interessensverbände seien hier definitionsgemäß als Vereinigung verstanden, die vor allem Berufs- oder Standesinteressen einer bestimmten Gesellschaft s- gruppe artikuliert, bündelt und u.a. gegenüber der Regierung vertritt. Vgl. Schmidt, Manfred G.: Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 1995, S. 435 {Zit.: Schmidt, Wörterbuch zur Politik}.

5 Hentschel, Wirtschaftspolitik, S. 14.

6 Kocka, Jürgen: Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus?, in: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974, S. 19-35, hier: S. 21 {Zit.: Kocka, Organisierter Kapitalismus}.

7 Born, Karl Erich: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867/71-1914), Stuttgart 1985, S. 94 {Zit.: Born, Wirtschafts- und Sozial- geschichte}: An anderer Stelle heißt es, dass beispielsweise auch der Wahlkampf Gustav Stresemanns durch einen Wirtschaftsverband finanziert wurde; S.

97.

8 Nipperdey, Thomas: Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 2 (1961), S. 262-280, hier: S. 268 {Zit.: Nipperdey, Interessenverbände}.

9 Lederer, Emil: Das ökonomische Element und die politische Idee im modernen Parteiwesen, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 5 (1912), S. 535-557, hier: S. 547 {Zit.: Lederer, Das ökonomische Element}.

10 Hentschel, Wirtschaftspolitik, S. 16.

11 Hardach, Karl W.: Die Bedeutung wirtschaftlicher Faktoren bei der Wiedereinführung der Eisen- und Getreidezölle in Deutschland 1879, Berlin 1967, S. 165 {Zit.: Hardach, Zölle}.

12 Born, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 107.

13 Kondratieff, N. D.: Die langen Wellen der Konjunktur, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Vol. 56 (1926), S. 573-609, hier: S. 580 {Zit.: Kondratieff, Konjunktur}.

14 Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1994, S. 41 {Zit.: Wehler, Kaiserreich}.

15 Rosenberg, Hans: Wirtschaftskonjunktur, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa 1873 bis 1896, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hrsg.): Moderne deutsche Wirtschaft sgeschichte, Köln/Berlin 1968, S. 225-253, hier: S. 247 {Zit.: Rosenberg, Wirtschaftskonjunktur}.

16 Hentschel, Wirtschaftspolitik, S. 118.

17 Born, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 95.

18 Pohl, Hans: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Grundzüge der Epoche 1870-1914. Einführung in die Problematik, in: Idem (Hrsg.), Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870-1914), Paderborn et al. 1979, S. 9-55, hier: S. 22 {Zit.: Pohl, Grundzüge}.

19 Wehler, Kaiserreich, S. 44.

20 Lambi, Nikolai: Free Trade and Protection in Germany 1868-1879, Wiesbaden 1963, S. 131 {Zit.: Lambi, Protection}.

21 Dietzel, Heinrich: Art. Agrar- und Industriestaat, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Hrsg. v. Conrad, J. et al, Bd. 1, Jena 1909, S. 226-237, hier: S. 237 {Zit.: Dietzel, Agrar- und Industriestaat}.

22 Weitowitz, Rolf G.: Deutsche Politik und Handelspolitik unter Reichskanzler Leo von Caprivi 1890-1894, Düsseldorf 1978, S. 4 {Zit.: Weitowitz, Capri- vi}.

23 Achilles, Walter: Die Wechselbeziehung zwischen Industrie und Landwirtschaft, in: Pohl, Hans (Hrsg.): Sozialgeschichtliche Probleme in der Zeit der Hochindustrialisierung (1870-1914), Paderborn et al. 1979, S. 57-101, hier: S. 86 {Zit.: Achilles, Industrie und Landwirtschaft}.

24 Hardach, Zölle, S. 51.

25 Mommsen, Wolfgang J., Die latente Krise des Wilhelminischen Reichs. Staat und Gesellschaft in Deutschland 1890-1914, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Vol. 8 (1974), S. 7-28, hier: S. 14 {Zit.: Mommsen, Krise}.

26 Walter, Rolf: Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 117 {Zit.: Walter, Wirtschaftsgeschichte}.

27 Bülow, Fürst von: Deutsche Politik, Berlin 1916, S. 292 {Zit.: Bülow, Politik}.

28 Hentschel, Wirtschaftspolitik, S. 205: „Die Elekrizitätsindustrie war in kürzester Zeit zur fortwirkenden Antriebskraft der ‚zweiten Industrialisierung‘ geworden, die weite Teile Deutschlands endgültig vom Agrar- zum Industri estaat verwandelte. Die Zäsur war im Jahr 1895“.

29 Henderson, W. O.: The Rise of German Industrial Power 1834-1914, London 1975, S. 122, 156 {Henderson, Industrial Power}.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Wirtschaftspolitik im Kaiserreich
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät)
Veranstaltung
Wirtschaft im Deutschen Kaiserreich
Note
1,7
Autor
Jahr
2001
Seiten
35
Katalognummer
V5549
ISBN (eBook)
9783638133937
Dateigröße
474 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Darstellung der Wirtschaftspolitik im Deutschen Kaiserreich von 1866 bis zum Krieg. Einflüsse von gesellschaften Gruppen und Zusammenspiel von Wirtschafts- und Außenpolitik. 270 KB
Schlagworte
Kaiserreich Bismarck Wirtschaftspolitik Caprivi Konzerne Sammlungspolitik Imperialismus Kolonien
Arbeit zitieren
Heiko Bubholz (Autor:in), 2001, Wirtschaftspolitik im Kaiserreich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5549

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