Die Pariser Vorortverträge. Analyse einer europäischen Friedensordnung


Studienarbeit, 2003

50 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorbemerkung

2. Voraussetzungen
2.1 Die Entwicklung des Krieges 1916/17
2.2 Der Kriegeintritt der USA
2.3 Die Revolutionierung Rußlands
2.4 Der Zusammenbruch der Mittelmächte

3. Die Pariser Vorortverträge

4. Rezeption der Pariser Vorortverträge
4.1 Frankreich – der vergebliche Sieg
4.2 Italien – der verstümmelte Sieg
4.3 Deutschland – der Kampf gegen Versailles
4.4 Deutschlands Weltkriegsverbündete – die Auflehnung gegen die Vorortverträge
4.5 Großbritannien – die Distanzierung von den Vorortverträgen
4.6 USA – die Rückkehr in den Isolationismus
4.7 Sowjetunion – die Gegnerschaft zu einem imperialistischen Komplott

5. Kritik der Pariser Vorortverträge
5.1 Der schwierige Handlungsrahmen
5.2 Die negative Kritik der Pariser Vorortverträge

6. Versuch über eine alternative Friedensordnung

7. Schlußbemerkung

8. Anmerkungen

9. Literaturangabe

Die Pariser Vorortverträge

Analyse einer europäischen Friedensordnung

1. Vorbemerkung

In der vorliegenden Abhandlung sollen die Pariser Vorortverträge, mit Schwerpunkt auf ihrem zentralen Bestandteil, dem Vertrag von Versailles, analysiert werden unter der Fragestellung, ob sie ihrem deklarierten Bestreben gerecht wurden, eine stabile europäische Friedensordnung zu etablieren und den erneuten Ausbruch eines Krieges zu verhindern. Zunächst ist auf die Voraussetzungen der Pariser Vorortverträge im Ende des Ersten Weltkrieges zu rekurrieren, bevor auf diese Abschlüsse selbst bezüglich ihrer Bestimmungen und der Entwicklung zu ihrer Fixierung eingegangen werden kann. Die Aufnahme, die das Friedenswerk bei den bedeutendsten an ihm beteiligten Mächten und seinen Subjekten, den im Weltkrieg unterlegenen Staaten, fand, ist sodann darzulegen. Es folgt eine Kritik der Vorortverträge von negativem Charakter, woran sich abschließend die Skizzierung eines alternativen, meines Erachtens eher friedenskonservierenden Entwurfs und eine Schlußbemerkung anfügt.

2. Voraussetzungen

2.1 Die Entwicklung des Krieges 1916/17

Der Versuch der widerstreitenden Allianzen des 1914 ausgebrochenen europäischen Koalitionskrieges, die im Stellungskrieg erstarrten Fronten wieder in Bewegung zu setzen und so seine Entscheidung herbeizuführen war 1916 gescheitert. Briten und Franzosen war es so wenig gelungen die deutsche Front an der Somme zu durchbrechen und zum Rhein vorzustoßen, wie es den Deutschen gelungen war, die französische Armee beim Angriff auf die Festungswerke bei Verdun, die den Weg nach Paris deckten, aufzureiben. Beide Offensiven waren auf erbitterte Gegenwehr gestoßen und zu Gemetzeln ausgeartet, für die die europäische Geschichte kein Beispiel kennt. Annähernd 700 000 deutsche und französische Soldaten verloren beim Kampf um Verdun ihr Leben, zu schweigen von denen, die für ihr Leben physisch und psychisch gezeichnet waren. Dies war das Ergebnis, wenn hochgerüstete Nationalstaaten sich mit ihren Massenaufgeboten bekriegten. Die europäischen Mächte waren nahezu gänzlich erschöpft und in einem scheinbar endlosen Stellungskrieg konnte es nicht mehr darum gehen, einen militärischen Sieg im klassischen Sinne zu erringen, sondern im Wettlauf gegeneinander nicht zusammenzubrechen, bevor die gegnerische Partei es tat.

So war die Situation zu Beginn des Jahres 1917, eine Situation, die das Deutsche Reich und seine Verbündeten allerdings auf absehbare Zeit, aufgrund geringerer Ressourcen als ihre Kriegsgegner, im Nachteil sah. Für die militärischen Entscheidungsträger auf deutscher Seite hieß die Lösung: uneingeschränkter U - Boot - Krieg. Die Gewässer um die Britischen Inseln wurden zum Kriegsgebiet erklärt, in dem der Beschuß durch die Torpedos deutscher U – Boote auf alle Schiffe, zu Transporteuren von Konterbande deklariert, freigegeben wurde. So sollte nicht nur die britische Hochseeblockade gegen Deutschland neutralisiert, sondern die Briten ihrerseits von jedem Nachschub abgeschnitten und die Kriegsentscheidung zugunsten Deutschlands herbeigeführt werden, weil nach dem anvisierten britischen Zusammenbruch die kontinentalen Verbündeten Großbritanniens nicht mehr fähig sein würden, den Krieg fortzusetzen. Das Vereinigte Königreich wurde zwar nach der Proklamation des uneingeschränkte deutschen U - Boot - Krieges für mehrere Wochen an den Rand des Zusammenbruchs gedrängt, aber nicht darüber hinaus, weil es sich mit dem Konvoisystem erfolgreich zur Wehr setzte, während das von der deutschen Führung einkalkulierte Resultat ihrer riskanten Kriegsführung eintrat: die USA erklärten dem Deutschen Reich den Krieg. Der deutsche Versuch, die Entscheidung des Krieges zu erzwingen, war in seiner Ausweitung in die globale Dimension, den Weltkrieg, gemündet. Im folgenden sind die Gründe für die kriegerische Intervention der USA gegen Deutschland darzulegen.

2.2 Der Kriegseintritt der USA

Die USA sahen ihre Interessen durch den deutschen U - Boot - Krieg derart fundamental bedroht, daß sie, erstmals in ihrer Geschichte, in einen Konflikt außerhalb der amerikanischen Hemisphäre militärisch intervenierten. Der uneingeschränkte U - Boot - Krieg gegen Großbritannien rückte den deutschen Sieg im europäischen Koalitionskrieg und ein daraus resultierendes kontinentaleuropäisches – und überdies seemächtiges – Imperium in greifbare Nähe, dessen Etablierung es aus amerikanischer Perspektive, auch um den Preis militärischen Engagements, zu verhindern galt. Dieses Imperium nämlich stellte eine potentielle Bedrohung der USA dar: direkt durch eventuellen Druck auf die amerikanische Ostküste, indirekt, und wohl ausschlaggebender für die amerikanische Kriegserklärung, durch langfristige Zersetzung der Grundlage des liberal - kapitalistischen American system. Dessen Grundlage nämlich - eine florierende Exportindustrie, die des freien Zugangs zu Rohstoffen und Märkten bedarf - wäre in einem von Deutschland dominierten Europa eine gewaltige Konkurrenz erwachsen, ein weitestgehend autarkes Imperium, das seine Märkte abschließen und den Zugang zu Rohstoffen hätte behindern können. Auf den Ruin der amerikanischen Ökonomie wäre in diesem Szenarium derjenige der amerikanischen Gesellschaft gefolgt, den es präventiv abzuwehren galt. Schon 1915, nach der Versenkung des Passagierdampfers „Lusitania“ durch ein deutsches U - Boot, hatten die USA kurz vor einer Kriegserklärung an Deutschland gestanden, die Berlin durch die vorübergehende Einschränkung seiner Unterseeaktivitäten noch einmal abgewendet hatte, und die vom Widerstand der großen deutschen und antibritischen irischen Gemeinschaft, neben der Einflußnahme der prodeutschen jüdischen Lobby in den USA, hinausgezögert wurde. Obwohl Präsident Wilson im November 1916 mit der Parole, Amerika aus dem Krieg herausgehalten zu haben, erfolgreich für seine Wiederwahl geworben hatte, war für die amerikanischen Eliten mit der Entscheidung Deutschlands zum erneuten uneingeschränkten Einsatz seiner U - Boot - Waffe der casus belli gegeben. Um die erforderliche gewaltige militärische Mobilisierung und ihre Entfaltung in der Alten Welt vor einer in weiten Teilen reservierten Öffentlichkeit zu legitimieren, die diesen Bruch mit den isolationistischen Traditionen amerikanischer Außenpolitik skeptisch zur Kenntnis nahm, bedurfte es des Trommelfeuers einer Kriegspropaganda, die die Zivilisationsgrenze in Frankreich bedroht sah, an der es gelte, die Hunnen – alias Deutschen - zurückzuschlagen. Ökonomische, handels - und sicherheitspolitische Motive kamen in diesen Kampagnen nicht zur Sprache, die statt dessen von einer demokratischen Kreuzzugsstimmung für die Werte der amerikanischen Verfassung gegen den preußischen Militarismus geprägt waren. Die Frage, ob diese Agitation zur Kriegsbereitschaft ausschließlich legitimatorischen Charakter zur inneren Mobilisierung hatte, oder ob sie sich aus tiefen Überzeugungen speiste, läßt sich so wenig beantworten wie die, ob ihre Manifestation in den Vierzehn Punkten Präsident Wilsons vom Januar 1918 bloße Reaktion auf die Öffnung der russischen Geheimarchive durch die Bolschewiki war, die die klassischen Kriegsziele der europäischen Gegner Deutschlands auch einer irritierten amerikanischen Öffentlichkeit aufdeckten.

Mit dem Kriegseintritt der USA wurde die deutsche Niederlage unabwendbar, nachdem die U - Boot - Blockade der Britischen Inseln gescheitert war - wäre nicht, fast synchron zur amerikanischen Kriegserklärung, Rußland von einem revolutionären Prozeß erfaßt worden, der Deutschland die Aussicht eröffnete, die Umklammerung des Zweifrontenkrieg zu sprengen und in Frankreich doch noch einen „Siegfrieden“ zu erzwingen, bevor die USA, aus unerschöpflichen Ressourcen schöpfend, ihr militärisches Potential in Europa entfalten konnten. Die Revolutionierung Rußlands wird nun darzulegen sein.

2.3 Die Revolutionierung Rußlands

Von allen am Krieg beteiligten Mächten war Rußland seinen neuartigen Anforderungen am wenigsten gewachsen. Das ohnehin unterentwickelte Transportwesen des Landes, zudem in den Strukturen einer verkrusteten und unfähigen autokratischen Bürokratie gefangen, kollabierte unter der Doppelbelastung, die im Feld stehende Armee versorgen und Getreide in die Städte transportieren zu müssen. Dort kam es folglich zu einer Hungersnot, die sich, als das Maß der Erbitterung randvoll war, im Frühjahr 1917 in Petrograd, der Kapitale des Zarenreiches, in einem gewaltigen Aufruhr entlud, gegen den der bewaffnete Arm der Autokratie den Dienst versagte: die Armee lief zu den aufständischen Massen über und nicht einmal die loyalsten Kräfte des Zaren in den Garde - und Kosakenregimentern schritten ein. Die russische Armee war im Kampf gegen die überlegenen Truppen der Mittelmächte, einer Auseinadersetzung von „Metall gegen Menschen“ (Orlando Figes)1, schlecht geführt, ausgebildet, ausgerüstet und motiviert, derart zermürbt und demoralisiert worden, daß sie vom autokratischen System abfiel. Binnen weniger Tage brach die russische Monarchie beim Zusammenstoß mit der Allianz aus Meuterei und Hungeraufstand in der Februarrevolution zusammen.

Das postautokratische Regime der sogenannten Doppelherrschaft aus der Provisorischen Regierung (bis zur Wahl einer Konstituante), einem Exekutivkomitee des russischen Reichstages, der Duma, und den Sowjets (Räte), spontan und flächendeckend gebildeten Aufruhrorganen gegen die Selbstherrschaft, sah sich jedoch mit eben den Problemen konfrontiert, die den Untergang der Autokratie herbeigeführt hatten, ohne sie lösen zu können. Die Städte hungerten nach wie vor, der Krieg dauerte an, und die schwerwiegendste Erblast des ancien régime, die ungesunde Landverteilung zwischen bäuerlichem Klein - oder Pachtbesitz und adeligem Großgrundbesitz, wurde dem demokratischen Rußland zum Verhängnis. Die Bauern nutzten den Sturz des Zaren zur Verwirklichung ihres jahrhundertealten Traums der „schwarzen Umteilung“, vertrieben ihre adeligen Grundherren, deren Anwesen sie plünderten und in Brand steckten und teilten das Adelsland untereinander auf - schließlich erschienen keine Strafexpeditionen aus Kosaken und Soldaten, im Gegensatz zu vergangenen Zeiten, auf dem Plan. Die Nachricht von dieser Agrarrevolution, die im Sommer 1917 einsetzte und binnen weniger Wochen gründlich abgeschlossen war, erfasste wiederum, von der Etappe auf die Front übergreifend, die Armee, die sich in ihrer Folge quasi auflöste. Die Millionen uniformierter Bauern wollten bei der Verteilung des Adelslandes nicht zurückstehen und strebten in regelrechten Trecks und konfiszierten Zügen in ihre heimatlichen Dörfer zurück. Rußland war in der Tat das freieste Land der Welt, aber es war eine Freiheit im anarchischen Sinne des Wortes, die wolja - fast ein jeder machte was er wollte und wie er es wollte. Weder der Provisorischen Regierung noch den Sowjets gelang es, den im russischen Februar ausgebrochenen Aufruhr einzudämmen oder in irgendeiner Form zu disziplinieren, es schossen ihnen buchstäblich die Zügel aus der Hand und die Tragik Rußlands bestand darin, daß mit der überfälligen und anachronistischen Autokratie der Staat noch gleich dazu implodierte.

Die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) nutzte diese Entwicklungen zur Befeuerung des revolutionären Prozesses, um Rußland aus dem Krieg zu drängen, wozu sie schon im Frühjahr 1917 Lenin, dem Vorsitzenden des radikalen Flügels der russischen Sozialdemokratie, der Bolschewiki, die Rückkehr aus seinem Exil in der Schweiz gestattete. Der forderte mit seinen Aprilthesen auch gleich den Sturz der Provisorischen Regierung zugunsten einer Alleinherrschaft der Sowjets, und setzte diesen Kurs in seiner Partei unter Hinweis auf die nahende Weltrevolution durch, zu der gerade in Rußland, dem noch halbfeudalen und „schwächsten Glied in der imperialistischen Kette“ (Nikolai Bucharin) das Signal gegeben werden müsse. Diese prophetischen Weissagungen begründeten den Verstoß gegen den wissenschaftlichen Sozialismus, der für einen solchen Umsturz die entsprechende soziale Grundlage einer Industriegesellschaft verlangt, die im agrarisch geprägten Rußland mitnichten gegeben war, dort jedoch durch internationalistische Hilfeleistung der siegreichen Weltrevolution zu errichten war, so daß Rußland ohne bürgerliche Zwischenphase vom Feudalismus zum Sozialismus gelangen könne. Mit den Aprilthesen und der demagogischen Trias von Frieden, Brot und Land trieben die Bolschewiki Provisorische Regierung und Sowjets vor sich her, indem sie sich mit den Forderungen der Massen identifizierten - dem Verlangen der Arbeiter nach Brot, der Soldaten nach Frieden und der Bauern nach Besitzbestätigung des angeeigneten Adelslandes. Bei Wahlen zu den Sowjets eilten die Bolschewiki von Erfolg zu Erfolg, gemäßigte Sozialdemokraten, die Menschewiki, und die größte russische Partei, die agrarsozialistischen Sozialrevolutionäre zurückdrängend, mit deren linkem Flügel sie schließlich über eine Mehrheit in den Sowjets verfügten. Auch die zwischenzeitliche Unterdrückung der Bolschewiki durch die Provisorische Regierung - Lenin mußte, als deutscher Spion zur Fahndung ausgeschrieben, in Finnland untertauchen - konnte ihren Siegeslauf nicht mehr aufhalten. Aus seinem finnischen Versteck drängte Lenin seine zögernde Partei zum Aufstand, der am Vorabend des II. Allrussischen Sowjetkongresses unternommen wurde. Das Militärrevolutionäre Komitee, die bewaffnete Organisation des von den Bolschewiki dominierten Petrograder Sowjets aus dem größten Teil der hauptstädtischen Garnison, Matrosen der Baltischen Flotte und Arbeitermilizen aus den Petrograder Vorstädten, setzte unter Leitung Trotzkijs die Provisorische Regierung in einem unblutigen coup d´état ab und verhaftete sie - lediglich Ministerpräsident Kerenskij gelang die Flucht in einem Wagen der amerikanischen Botschaft. Unterdessen bildeten Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre die Regierung des Rats der Volkskommissare (Sownarkom) unter dem Vorsitz Lenins, die vom Sowjetkongreß bestätigt wurde und umgehend das Dekret über den Frieden erließ, das, an alle Kriegsparteien gerichtet, die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen und Friedensverhandlungen forderte. „Die Macht lag auf der Straße, und wir brauchten sie nur aufzulesen“ 2, kommentierte Lenin das Geschehen.

Das Kalkül der OHL war mit dem Oktoberumsturz aufgegangen: sie schlug umgehend auf das Waffenstillstandsangebot der sowjetischen Regierung ein und erklärte sich zu Friedensverhandlungen bereit, deren Abschlußbestimmungen, in Brest – Litowsk, vom Reich und seinen Verbündeten diktiert werden konnten. Die Taktik der sowjetischen Delegation, die Gespräche in der Erwartung zu verschleppen, daß die russische Revolution die deutsche Ostfront ergreife, wurde von deutscher Seite mit militärischem Druck durchkreuzt; die Soldaten der siegesgewissen deutschen Armee erwiesen sich als desinteressiert an revolutionären Parolen. Der Oktoberumsturz und seine Folge des Friedensvertrages von Brest - Litowsk gaben der OHL die angestrebte Möglichkeit, nach Beendigung des Krieges mit Rußland, die deutsche Armeen weitestgehend in Frankreich zu konzentrieren und doch noch, mit erstmals zahlenmäßig überlegenen Kräften, in letzter Stunde die Kriegsentscheidung zugunsten Deutschlands zu erzwingen. Abschließend zur Erläuterung der Voraussetzungen der Pariser Vorortverträge muß auf die Klimax des – nunmehr – Weltkrieges eingegangen werden, die auf den Weg in die Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten zum Ende des Weltkrieges führte.

2.4 Der Zusammenbruch der Mittelmächte

Im verzweifelten Vabanquespiel der Offensive im März 1918 setzte der deutsche Oberbefehlshaber Ludendorff alles auf die eine Karte der militärischen Lösung. Vom preußischen Kronprinzen nach dem strategischen Ziel des Großangriffs gefragt antwortete er: „Wir hauen ein Loch hinein. Das weitere findet sich.“3 Tatsächlich durchbrachen die deutschen Angriffsverbände die gegnerische Front, an der Schnittstelle, wo sich Briten und Franzosen trafen, das weitere aber fand sich nicht. Die hungernden deutschen Soldaten plünderten britische und französische Proviantdepots, während der auf deutscher Seite noch fast durchweg pferdebespannte Nachschub im Frühjahrsschlamm versank und die Reserven zur strategischen Umsetzung des Durchbruchsieges fehlten. Nach einer schweren Krise formierte sich die alliierte Front zur Abwehr des deutschen Angriffs und ging, mit ständig steigender Unterstützung US - amerikanischer Verbände und unter Einsatz der auf deutscher Seite fast ganz fehlenden Tanks zu einer Gegenoffensive über, die die deutsche Front seit dem Spätsommer 1918 schrittweise zurückdrängte, ohne sie allerdings entscheidend durchstoßen zu können. „Unsere Soldaten, unsere großen Soldaten, die Soldaten der Zivilisation, um sie mit ihrem wahren Namen zu bezeichnen, sind im Begriff, die Horden der Barbarei siegreich zurückzutreiben, hinauszustoßen ohne Ruhe, ohne Rast“4, meldete der französische Ministerpräsident Clemenceau am 5. September 1918 der Abgeordnetenkammer in Paris unter tosendem Beifall. Angesichts dieser Entwicklung, in militärisch aussichtsloser Lage, zumal die verbündeten Armeen an der Piave, auf dem Balkan und im Nahen Osten in Auflösung begriffen waren, drängte die militärische Elite des Reiches seine zivile politische Führung zum Gesuch nach einem Waffenstillstand - die Alternative wäre ein Rückzug über den Rhein auf die Mittelgebirge und die Fortsetzung des Abnutzungskrieges ohne Aussicht auf eine strategische Wende gewesen, der die Kriegsverwüstungen nach Deutschland getragen hätte, die Flandern und weite Teile Frankreichs erlitten hatten. Der militärisch Offenbarungseid, mit dem die OHL ihr Verlangen unterstrich, wurde einer Öffentlichkeit und politischen Führung unterbreitet, die über Wochen von der Generalität über die katastrophale Lage im unklaren gelassen worden waren und um so schockierter auf ihre plötzliche Enthüllung, in Erwartung eines unmittelbar anstehenden Sieges, reagierte.

Nach Bekanntgabe der unabwendbaren militärischen Niederlage meuterten die Matrosen der deutschen Hochseeflotte, von Gerüchten über ein finales Auslaufen gegen die britische Grand Fleet aufgewühlt, und organisierten in den Nord - und Ostseehäfen Räte nach russischem Modell, die sich wie ein Lauffeuer, von Soldaten und Arbeitern gewählt, auf das Binnenland ausbreiteten. Die Arbeiter - und Soldatenräte setzten die deutschen Monarchen ab, erkannten in ihrer großen Mehrheit jedoch - im Gegensatz zu ihren russischen Vorläufern - die provisorische Regierung des Rats der Volksbeauftragten aus SPD und USPD unter dem Vorsitz Friedrich Eberts an, billigten deren Kurs auf die Wahl einer Konstituante und verwarfen die eigene Machtergreifung. Die erste republikanische Reichsregierung - nach der Flucht des preußischen Königs und deutschen Kaisers nach Holland - fügte sich den maßgeblich vom französischen Generalstab formulierten Waffenstillstandsbedingungen, die dem Reich, durch Auslieferung militärischen und militärisch verwendbaren Geräts und den Rückzug über den Rhein die Wiederaufnahme des Krieges unmöglich machen sollten. Am 11. November 1918 wurde im Wald von Compiègne der diktierte Waffenstillstand unterzeichnet, der den Weltkrieg beendete.

In Anbetracht der militärischen Niederlage und der scharfen Waffenstillstandsbedingungen gewann das in Deutschland zuvor ignorierte Wilsonsche Programm der Vierzehn Punkte viele neue Anhänger. Der amerikanische Präsident bedeutete der Reichsregierung, daß nur ein bürgerlich - demokratisches Deutschland mit milden Friedensbedingungen und seiner Konzessionsbereitschaft rechnen könne und wurde so, gegen Linkssozialisten und Kommunisten, zum Akteur deutscher Innenpolitik. Auf die Darlegung der Voraussetzungen für den Entwurf der Pariser Vorortverträge wird nun auf diese Abschlüsse einzugehen sein – ihre Genesis und ihre Bestimmungen.

3. Die Pariser Vorortverträge

Durch die Friedensverträge der Siegermächte mit den Unterlegenen des Weltkrieges, dem Deutschen Reich (in Versailles) und seinen Verbündeten - Österreich (in St. Germain), Ungarn (in Trianon), Bulgarien (in Neuilly) und der Türkei (in Sèvres) - wurde eine Neuordnung der europäischen Verhältnisse vorgenommen. Diese Friedensverträge in den westlichen Vororten von Paris wurden nicht zwischen Siegern und Besiegten ausgehandelt, vielmehr handelten die Siegermächte untereinander die zu diktierenden Friedensbedingungen aus. Daher muß zunächst geklärt werden, mit welcher Zielvorgabe die vier Hauptsiegermächte, die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien, in die Friedensverhandlungen eintraten; die Darlegung konzentriert sich auf den Versailler Vertrag, das Kernstück der europäischen Neuordnung. Daran anschließend wird die Entwicklung ihrer, wie zu zeigen sein wird, divergierenden Interessen hin zum Kompromiß der Siegermächte, als der sich das Pariser Vorortsystem bezeichnen läßt, zu skizzieren sein. Zunächst zur französischen Position.

Frankreich hatte im Weltkrieg die, in Relation zur Gesamtbevölkerung, höchsten Verluste, und, als Hauptschlachtfeld des Krieges, schwersten Verwüstungen erlitten. Die Nation hatte sich zwar am Ende siegreich behauptet, allerdings um den Preis ungeheurer Opfer und einer nie gekannten Anspannung ihrer Kräfte in einem schier endlosen Gemetzel, das in den nordöstlichen Departements Mondlandschaften hinterlassen hatte. Für die politischen und militärischen Entscheidungsträger Frankreichs stand fest, daß eine erneute militärische Auseinandersetzung dieser Größenordnung den Untergang der französischen Zivilisation bedeuten würde, so erklärte Édouard Herriot als Ministerpräsident seinem britischen Amtskollegen, daß, wenn es nochmals zu einem Krieg kommen sollte, Frankreich von der Weltkarte getilgt werde.5 Diese horrende Gefahr, so die französische Perspektive, beschwor ein erneuter deutscher Angriff herauf, in dem wiederum der entfesselte preußische Militarismus, dem die Bismarcksche Reichsgründung seine verheerende Schlagkraft gegeben hatte, gegen Frankreich toben werde, wie im Grande Guerre geschehen. Um künftig ein derartiges Szenarium ausschließen zu können lautete die Konsequenz, die Reichsgründung zu revidieren und das Deutsche Reich aufzulösen: nicht mit dem Reich, sondern den deutschen Einzelstaaten waren Friedensverträge abzuschließen. Alternativ zu dieser maximalen Zielsetzung, sofern sie sich nicht realisieren lassen sollte, wurde zur Absicherung gegen die deutsche Gefahr die Rheingrenze für Frankreich oder die Organisation der linksrheinischen Gebiete durch französische Satellitenstaaten anvisiert.

Derartige Ambitionen standen im Widerspruch zu den Friedensvorstellungen der angelsächsischen Mächte, der USA und Großbritanniens, wobei der Gegensatz am deutlichsten in den Zielen der USA wurde. Grundlage amerikanischer Kriegszielpolitik waren die von US - Präsident Wilson formulierten Vierzehn Punkte, die auf die Etablierung einer internationalen Friedensordnung von, nach dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung organisierten, demokratischen Republiken abzielte, einer Staatengemeinschaft auf der Grundlage freien Handels, offener Seewege und Märkte, die ihre Streitigkeiten schiedsgerichtlich in einer League of Nations beizulegen habe. Mit den Worten „The world must be made safe for democracy“6 hatte der amerikanische Präsident Wilson am 6. April 1917 vor dem Kongreß in Washington den Kriegseintritt der USA begründet, es galt, eine Weltfriedensordnung zu begründen und die friedensstiftende Trias von Demokratie, Freihandel und nationaler Selbstbestimmung zum Sieg in einem Krieg zu führen, der geführt wurde, um den Krieg per se zu bekriegen und für alle Zukunft unmöglich zu machen. Die sozusagen klassische Methode französischer Friedenssicherung ließ sich mit dem Wilsonschen Konzept nicht in Übereinstimmung bringen. Die US - Amerikaner billigten zwar, wie die Briten, die Annexion des Elsaß und Lothringens durch Frankreich als Wiedergutmachung erlittenen Unrechts, aber keine darüber hinausreichenden französischen Annexions - und Vasallisierungspläne, von der Auflösung des deutschen Gesamtstaates ganz zu schweigen. Die nationale Selbstbestimmung mußte auch für die Deutschen links des Rheins gelten und das Reich war auch in diesem Sinne zu erhalten.

Zwischen Frankreich und den USA nahmen die Briten eine Position ein, deren Ziele zwar weniger von politischem Katechismus geprägt waren als die ihrer angelsächsischen Vettern, mit diesen aber sehr viel mehr übereinstimmten, als die französischen Projekte. In der Ablehnung einer französischen Rheingrenze und dem Insistieren auf deutscher Gesamtstaatlichkeit trafen sich Briten und US - Amerikaner im gemeinsamen angelsächsischen Grundsatz einer balance of power auf dem europäischen Kontinent, die, bei französischer Expansion bis zum Rhein und erst recht der Auflösung des Reiches von Frankreich gesprengt worden wäre und für die Großbritannien und die USA gegen das Deutsche Reich militärisch interveniert hatten. London und Washington beabsichtigten nicht, die hegemonialen Ambitionen des Reiches zugunsten einer französischen Hegemonie zu vereiteln und interpretierten die französische sécurité - Politik als Bestreben nach eben dieser. Zudem garantierte der deutsche Gesamtstaat die Existenz eines großen, geschlossenen Exportmarktes und verbürgte nicht zuletzt die Eindämmung der bolschewistischen Gefahr. Die wurde von Frankreich in keiner Weise gering veranschlagt, so votierte Paris, im Gegensatz zu Briten und Amerikanern, die eher auf Quarantäne setzten, für die massive alliierte Militärintervention in Rußland, einen antibolschewistischen Kreuzzug - doch rangierte aus französischer Sicht die deutsche Gefahr vor der russischen und nicht umgekehrt, wie die britischen und amerikanischen Verbündeten argwöhnten. Die primären britischen Kriegsziele - Abwehr der Kontinentalhegemonie des Deutschen Reiches und Einziehung seiner Hochseeflotte - waren schon infolge des Waffenstillstandes erreicht, so daß Premierminister Lloyd George fast die Rolle eines Vermittlers zwischen US - Präsident Wilson und dem französischen Ministerpräsidenten Clemenceau zukam.

[...]

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Die Pariser Vorortverträge. Analyse einer europäischen Friedensordnung
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,5
Autor
Jahr
2003
Seiten
50
Katalognummer
V54792
ISBN (eBook)
9783638499101
ISBN (Buch)
9783656084938
Dateigröße
585 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pariser, Vorortverträge, Analyse, Friedensordnung
Arbeit zitieren
M.A. Michael Preis (Autor:in), 2003, Die Pariser Vorortverträge. Analyse einer europäischen Friedensordnung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54792

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