Identität und Körperinszenierung bei Jugendlichen als zentrales Analysefeld der Sozialen Arbeit

Der Leib als Bühne der Selbstinszenierung


Diplomarbeit, 2006

66 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffserklärungen
2.1 Differenzierung der Begriffe Leib und Körper
2.2 Jugend

3. Entstehung der Identität
3.1 Identität als Entwicklungsaufgabe der Jugendzeit: Erik Erikson
3.2 „Patchwork-Identität“ nach Heiner Keupp
3.3 Entwicklung der Identität bei Jugendlichen

4. Lebenswelten von Jugendlichen

5. Der adoleszente Körper
5.1 Das Körperbild
5.2 Körperbewusstsein
5.3 Körper und Selbstwertgefühl
5.4 Körperwahrnehmung
5.5 Der Körper als soziales Konstrukt
5.6 Der Körper als Objekt

6. Körperinszenierung von Jugendlichen
6.1 Mode und Styling als Ausdruck der Identität
6.2 Kleidung
6.2.1 Kleidung als Kommunikationsmittel
6.2.2 Die Funktion von Kleidung
6.2.3 Sampling
6.2.4 Markenkleidung
6.3 Körpermodellierung
6.4 Tätowierungen und Piercings
6.5 Sexualisiertes Verhalten von Jugendlichen
6.6 Mode als Ausdruck von Gruppenidentitäten

7. Die Bedeutung von Körperlichkeit und Identität und deren Konsequenzen für die Sozialarbeit/Sozialpädagogik

8. Beispiele methodischer Ansätze in der Sozialen Arbeit zur aktiven Körperwahrnehmung

9. Fazit

10. Literaturverzeichnis

11. Versicherung der selbständigen Arbeit

12. Bibliotheksermächtigung

1. Einleitung

Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat sich die Funktion des Körpers gewandelt: Der Körper wird im Zuge der Industrialisierung und durch dessen Ersetzen durch Maschinen immer seltener für physische Arbeit benötigt, so dass es zu einem Bedeutungsverlust dieses kommt. Trotz dieses Bedeutungsverlusts des Arbeitskörpers verschwindet der Körper aber nicht, sondern er taucht in Form eines Freizeitkörpers wieder auf.[1]

Als Ausgleich für den Bedeutungsverlust des Körpers und für das eigene Wohlbefinden oder das äußere Erscheinungsbild wird Arbeit am Körper geleistet. Erst durch die Darstellung und Inszenierung scheint der Körper wieder einen Sinn zu bekommen. Wird der Körper produziert um als Medium, vor allem zur öffentlichen Inszenierung und sozialen Positionierung zu dienen?

Der Körper als Kultobjekt gewinnt an Bedeutung: Piercings und Tattoos, Ausdauer- und Krafttraining, Diäten und Schönheitsoperationen. Mehr oder weniger bewusst inszeniert sich jeder Mensch durch sein Auftreten, durch Kleidung, Frisur, Sprache.

Die Wahrnehmung und Darstellung des eigenen Körpers nimmt in der heutigen Gesellschaft einen hohen Stellenwert ein. Um attraktiver und begehrenswerter zu erscheinen nehmen Jugendliche einfache und temporäre, aber auch schmerzhafte und teilweise sogar risikoreiche Eingriffe vor: von der Haarrasur, Haarentfernung, Haarfärbung über das Tragen unbequemer Kleidung und hoher Schuhe bis hin zum tätowieren und piercen an verschiedensten Körperstellen. Es wird viel Geld, Schmerz und Zeit investiert, um anders auszusehen.

Gerade Jugendliche nutzen ihren Körper um sich zu inszenieren. Doch was sind die Gründe für die Selbst- bzw. Körperdarstellungen Jugendlicher? Haben Jugendliche Angst, dass sie in ihrer Peer-Gruppe nicht akzeptiert werden, wenn sie sich nicht auf eine bestimmte Art und Weise darstellen? Ist diese Art der Selbstinszenierung durch Kleidung oder Piercing und Tattoo demzufolge nur eine Zuordnung zu einer sozialen Gruppe? Was wollen Jugendliche mit ihrem Auftreten von sich zeigen oder auch nicht zeigen? Inwiefern kann hier ein Rückschluss auf die Identität der Jugendlichen gezogen werden? Sind Jugendliche mit ihrem Körperbild unzufrieden, wenn sie sich durch Kleidung und bestimmtes Auftreten verändern? Woran liegt es, dass Aussehen und Auftreten im gesellschaftlichen Rahmen so einen hohen Stellenwert einnehmen?

Welche Bedeutung hat die Inszenierung Jugendlicher für die Soziale Arbeit und welche Methoden gibt es mit Jugendlichen aktiv den eigenen Körper kennen zu lernen und wahrzunehmen? Diese Fragen und ihre Bedeutung für die soziale Arbeit werden im Folgenden näher beleuchtet.

Zunächst werden die Begrifflichkeiten Leib und Körper differenziert, um zu verdeutlichen, was Leib und Körper in der vorliegenden Arbeit meinen, anschließend wird erklärt was unter dem Begriff Jugend zu verstehen ist und über welche Jugendliche hier geschrieben wird.

Das Identitätsmodell von Erikson wird erläutert und anschließend durch Keupp aufgegriffen und erweitert, beziehungsweise kritisiert. Im Folgenden wird ein genereller Überblick über die Identitätsentwicklung von Jugendlichen gegeben, hierbei beziehe ich mich vor allem auf Baacke und Fend.

Die Lebenswelt Jugendlicher wird kurz beschrieben, um zu verdeutlichen in welcher Situation sich Jugendliche in der Adoleszenzphase befinden.

Die Veränderungen des Körpers in der Pubertät, das entstehende Körperbild, das Körperbewusstsein, verbunden mit dem Selbstwertgefühl, und die Körperwahrnehmung, sollen verdeutlichen welche Rolle der Körper für Jugendliche spielt und wie sie mit ihm umgehen. Im Anschluss wird der Körper differenziert als soziales Konstrukt beziehungsweise als Objekt dargestellt.

Dies führt zur Körperinszenierung von Jugendlichen durch verschiedene Mittel: Kleidung, Körpermodellierung, Tattoos und Piercings. Zudem wird erläutert wie Mode und Gruppengefüge miteinander zusammenhängen und was sexualisiertes Verhalten Jugendlicher bedeutet.

Sicherlich gibt es viele Themen die zum Themenkomplex der Selbst- und Körperinszenierung Jugendlicher passen. Es sei jedoch erwähnt, dass in dieser Arbeit extreme Formen der Selbst- und Körperinszenierung wie Essstörungen (Anorexie oder Bulimie), Schönheitsoperationen, Selbstverletzendes Verhalten, oder andere psychische Erkrankungen aufgrund ihrer Komplexität nicht behandelt werden.

Abschließend soll genauer betrachtet werden, was Körperlichkeit und Identität für Konsequenzen für die Soziale Arbeit haben und mit welchen Methoden und unter welchen Aspekten Körperarbeit geleistet werden könnte.

Auf Unterschiedlichkeiten zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen wird weitergehend nicht eingegangen. Ich werde ausschließlich die männliche Form verwenden um die Lesbarkeit der Arbeit zu erhalten. Die weibliche Form ist jedoch grundsätzlich mit einbezogen.

2. Begriffserklärungen

2.1 Differenzierung der Begriffe Leib und Körper

"Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird."[2]

Zunächst ist der Körper für andere Menschen sichtbar, durch den Bau des Körpers, also die Größe, den Umfang, sowie durch Gestik, Mimik und Körperhaltung.

Der Leib jedoch ist unkörperlich und ist für andere Menschen nicht sichtbar. In ihm verankert sich ein System von Gefühlen und Affekten, der Körper dagegen positioniert den Menschen im sozialen Umfeld.[3]

Die Differenzierung der Begriffe Leib und Körper ist also eine rein analytische Unterscheidung, denn im lebensweltlichen Alltag sind Körper und Leib immer miteinander verbunden. Zunächst ist mit der Begrifflichkeit des Leibs ein lebendiger Körper gemeint im Gegensatz zum Begriff des Körpers, dieser kann auch unbelebt sein. Ein toter Mensch hat demnach nur noch einen Körper. Signifikant für den lebenden Menschen jedoch ist, dass der Leib gleichzeitig ein Körpergegenstand und der eigene Leib ist.[4]

Körperlich ist alles, dessen Örtlichkeit in Relation zu etwas beschrieben werden kann. Wenn sich zwei Menschen begegnen, treffen zunächst nur die Körper aufeinander, die in einer bestimmten örtlichen Position zueinander stehen. Die Gefühle, die bei einer zwischenmenschlichen Begegnung auftreten, stellen jedoch die leiblichen Regungen dar. Körperliches kann in Einzelteile wie Muskeln, Knochen und Zellen zerlegt werden, Leibliches wie Angst, Wut oder Trauer lässt sich nicht zerteilen.[5]

Leibliches ist eigenleiblich Spürbares und ist nur dem Menschen selbst und keinem anderen zugänglich und hat ein affektives Moment, so dass in der Regel von affektiv-leiblicher Erfahrung gesprochen werden kann. Körperliches ist hingegen sichtbar und bei anderen Menschen zu beobachten.

Es ist also von einem Doppelaspekt oder einer Doppelexistenz des menschlichen Daseins zu sprechen: Der Mensch hat einen Körper ist aber auch sein Leib.[6] Der Begriff des Leibs steht auch für die Beziehung des Individuums zum eigenen Körper. Hier ist die Beziehung eben doppelsinnig: Der Leib erlebt gleichzeitig, wird aber auch gelebt, da der Mensch in ihm und mit ihm lebt.[7]

Die Verwirrung rührt also nicht zuletzt aus der gegebenen Möglichkeit, gleichzeitig zu sein und zu haben: Ich bin es der denkt und ich bin körperlich anwesend. Eine Balance von Ich, Denken und Körperlich-Sein.

Das was ich sagen möchte, denke ich in meinem Kopf, aber als Instrument um das Gedachte zu äußern, brauche ich meinen Körper. Der Körper ist also die Bedingung des Sprechens und der Kommunikation. Der Körper besitzt eine feste Struktur, während der Mensch in seiner Leiblichkeit nie eine feste Gestalt annehmen kann. Trotzdem ist der Körper immer nur ein Teil des Leibes.[8]

Der Mensch ist sein Leib, da er seine Gliedmaßen, Organe, Sinne und seine Motorik ist, auf der anderen Seite hat er seinen Leib und macht diesen zum Körper indem er ihn beherrscht, benutzt und inszeniert.[9] Nur durch seinen Körper kann der Mensch sich allerdings nicht repräsentieren, genauso wenig wie davon gesprochen werden kann, dass der Mensch nur sein Leib ist. Nach du Bois erlangt der Leib Gestalt durch seine autonomen Körperfunktionen: Motorik, Ausdrucks- und Wahrnehmungsfähigkeit und in der Wiederspiegelung sozialer Gegebenheiten.[10]

Der Leib erscheint über den Körper, dies macht den Körper zu einer personifizierten Sache. Der Leib umfasst also körperliche, seelische und geistige Dimensionen des Individuums mit dessen Einbindung in soziale und ökologische Kontexte.[11]

Wenn von dem Leib als Bühne der Selbstinszenierung gesprochen wird, vollzieht sich diese also sichtbar für andere über die Inszenierung des Körpers, obwohl sie vom Leib ausgeht.

2.2 Jugend

„Die Jugend gibt es nicht – das weiß jeder. Sie ist nicht einheitlich – auch dieses.“[12]

Die Jugendzeit markiert die Übergangsphase von der Kindheit zum Erwachsensein. Den Begriff der Jugend auf eine bestimmte Zeitspanne festzulegen ist schwierig, zwar beginnt der Abschnitt der Jugend durchschnittlich im Alter von 13 Jahren, die Geschlechtsreife und die physiologisch-geschlechtliche Entwicklung sind meistens mit 17 oder 18 Jahren abgeschlossen, jedoch werden häufig auch noch 18- bis 25-jährige als Jugendliche angesehen.[13] Zudem verlagert sich der Beginn der Geschlechtsreife immer weiter nach vorne, wodurch der Abschnitt der Jugend immer früher beginnt. Im Gegensatz dazu wird „der Übergang in das Erwachsenenleben und die Gründung einer eigenen Familie weit aufgeschoben oder sogar ganz ausgelassen“[14], dies hängt auch mit einer längeren Verweildauer im Bildungssystem zusammen. Demzufolge verzögert sich auch das Ende der Jugend und somit ist Jugend, in der „postindustriellen Gesellschaft als eindeutig markierte Phase nicht mehr fassbar"[15].

Pubertät und Adoleszenz prägen die Jugendzeit. Pubertät wird als die körperliche Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale im Sinne von biologischer Reifung, Adoleszenz als die seelische Auseinandersetzung mit den körperlichen und psychosozialen Veränderungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden definiert.

Mit einsetzender Pubertät und den damit bedingten hormonellen Veränderungen, gerät das körperliche Gefüge vieler Jugendlicher vollkommen durcheinander. Zwar ist die körperliche Reife meist schon früher als mit 18 Jahren beendet, häufig sind jedoch die sozialen und emotionalen Folgen noch nicht vollständig bewältigt. Deshalb spricht man auch von der Adoleszenz, ein Begriff, der nicht nur die Pubertät als solche, sondern eine längere Phase der Veränderung bezeichnet. Diese Altersgruppe wird umgangssprachlich unter dem Terminus Jugendliche zusammengefasst.[16]

Jugend ist ,,zu ihrer eigenen Bezugsgruppe geworden"[17] und vollzieht sich in Gruppen und Cliquen, den so genannten Peer-Gruppen. Hier stehen der Austausch untereinander und die gemeinsamen Freizeit- und Konsumaktivitäten im Vordergrund. Diese Gruppen stellen eine bedeutsame Sozialisationsinstanz dar. Jugendliche erhalten hier Chancen, sich selbst zu verwirklichen, verschiedene Lebensstile auszuprobieren, die ihnen im Rahmen der Familie, der Schule oder der Arbeit nicht gegeben sind.

Die Jugendkultur als solche existiert eigentlich gar nicht, die Jugend als Gesamtheit zerfällt neben dem „Mainstream“ in verschiedenste Szenen, Sub- und Jugendkulturen, die Grenzen dazwischen sind fließend.[18] „Mainstream“ spiegelt den kulturellen Geschmack einer großen Mehrheit wieder, im Gegensatz zu Subkulturen.

In der vorliegenden Arbeit wird von so genannten „Mainstream-Jugendlichen“ gesprochen, da eine differenzierte Betrachtung einzelner Sub- oder Jugendkulturen den Rahmen der Arbeit sprengen würde.

3. Entstehung der Identität

3.1 Identität als Entwicklungsaufgabe der Jugendzeit: Erik Erikson

„...denn der junge Mensch muß lernen, dort am meisten er selbst zu sein, wo er auch in den Augen der anderen am meisten bedeutet - jener anderen natürlich, die wieder für ihn die höchste Bedeutung erlangt haben. Der Begriff 'Identität' drückt also insofern eine wechselseitige Beziehung aus,…." [19]

Erikson geht davon aus, dass der Mensch im Lauf seines Lebens acht Entwicklungsphasen durchläuft.[20] Jede Entwicklungsphase endet mit der Lösung einer Krise, die sich jeweils aus zwei möglichen, sich jedoch als positiver und negativer Pol widersprechenden Entwicklungsrichtungen ergeben. Die Krise wird dabei von Erikson als notwendiger Entwicklungsschritt betrachtet, "wo Hilfsquellen des Wachstums, der Wiederherstellung und weiteren Differenzierung sich eröffnen"[21] Alle Phasen sind miteinander verbunden, indem einerseits jedes Problem in früheren Stadien bereits existiert, bevor es in seine kritische Phase eintritt, andererseits, indem der Verlauf eines späteren Stadiums von der erfolgreichen Lösung vorangegangener abhängt.

Die Phase der Adoleszenz beschäftigt sich mit dem Hauptkonflikt Identität versus Identitäts- oder Rollendiffusion.

Die Jugendphase ist für Erikson die Phase, in der der Mensch seine soziale Rolle festigen muss, somit stellt die Identitätsfindung hier eine der herausragenden Aufgaben dar. Dafür wird dem Jugendlichen zumindest in der westlichen Gesellschaft eine Zeit des Rollenexperimentierens und ein Aufschub von erwachsenen Verpflichtungen, ein so genanntes "psychosoziales Moratorium" zur Verfügung gestellt, um in ihr seinen Platz zu finden.[22] Zudem begleiten körperliche Veränderungen die Suche nach der eigenen Identität. Auch die psychisch und physisch belastende körperliche Umbruchphase, die mit der Adoleszenz zeitlich zusammenfällt, ließ Erikson die Schaffung eines "psychosozialen Moratoriums" fordern, das die Krisen bei der Suche und Entfaltung von Identität für den Adoleszenten abschwächt.

Die Adoleszenzphase ist gekennzeichnet durch gesellschaftliche Zwänge, welche den heranwachsenden zur endgültigen Selbstdefinition der sozialen Position, der sozialen Ansprüche und der Lebenserwartungen bewegen. Der Heranwachsende sucht nach der Antwort zu der Frage: Wer bin ich?

Nach Erikson kann sich eine dauernde und stabile Ich-Identität nur dann ausbilden, wenn die Krisen der früheren Phasen konstruktiv und auch für die Person befriedigend gelöst wurden.[23] Ein Gefühl von Identität entsteht dadurch, dass sich eine Person trotz ständigen Veränderungen in Übereinstimmung mit früheren Formen des Selbst erlebt und auch das Bild der sozialen Umwelt von der eigenen Person damit in Übereinstimmung gebracht werden kann. Die Adoleszenz ist eine Zeit, in der junge Menschen verschiedene soziale Rollen ausprobieren, um ihre Identität zu finden und häufig auch dadurch Grenzen überschreiten, um auch ihre eigenen Grenzen auszuloten. Das Ich setzt sich dabei aktiv mit der Umwelt auseinander. Die Beziehungen zu der Peer-Gruppe ist „ ... in weitgehendem Maß ein Versuch, zu einer Definition der eigenen Identität zu gelangen, indem man sein undeutliches Selbst-Bild auf einen anderen projiziert und es so zurückgeworfen und allmählich geklärt sieht“[24].

Für Erikson vollzieht sich die Identitätsentwicklung auf zwei Seiten: Einerseits durch das Individuum, das Ich, auf der anderen Seite durch die soziale Umwelt.

Nicht durch das Individuum allein entsteht die Identität sondern durch die Reflexion und den Abgleich mit der Außenwelt, also der Gesellschaft. Somit handelt es sich bei der Entwicklung der Identität um die „soziale Einbindung innerpsychischer Kräfte“[25] Identität als eine Integrationsleistung des Jugendlichern, die erreicht werden muss.

Die Jugendlichen entwickeln eigenständige Interessen und soziale Einstellungen gegenüber Gleichaltrigen und Erwachsenen und ein Wissen und Gefühl für die historische Kontinuität ihres Ich. Ihre Ich-Struktur legt sich fest und muss akzeptiert werden. Diese Zeit ist zudem ein Höhepunkt im Phantasieleben und in schöpferischen Tätigkeiten.

Ein wichtiger Mechanismus zum Identitätserwerb in der Adoleszenz ist der Mechanismus der Identifikation. Störungen dieses Entscheidungsprozesses einer subjektiv verbindlichen Übernahme einer sozialen Rolle führen zur Identitätsdiffusion. Identitätsdiffusion entsteht, wenn Ansprüche der Umwelt oder Entwicklungsaufgaben gehäuft auftreten, denen sich die Jugendlichen nicht gewachsen fühlen, oder aber auch, wenn sie durch einzelne Entscheidungen überfordert sind. Kann die Krise dieser Stufe nicht befriedigend gelöst werden, entsteht die Identitätsdiffusion. Um sich gegen das Gefühl der Identitätsdiffusion zu schützen, kommt es vor, dass sich Jugendliche mit selbst gewählten Vorbildern überidentifizieren und Intoleranz gegenüber anderen zeigen. Diese Intoleranz kann sich auch in Aspekten wie Kleidung, die als willkürliches Zeichen für Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe gedeutet werden kann, zeigen. Dies kann aber auch kurzzeitig auftreten und sollte nicht überbewertet werden.[26] Für Erikson stellen die Identität und die Identitätsdiffusion jedoch keinen gegenseitigen Ausschluss dar. Seiner Meinung nach bedingen sie sich gegenseitig und stehen in Wechselwirkung zueinander. Also relativiert sich die gelungene oder versäumte Identität.

Erst Kohärenz und Kontinuität des jugendlichen Selbst schließt die Adoleszenz ab. Diese Kohärenz und Kontinuität ist vor allem im sozialen gesellschaftlichen Ganzen zu betrachten: der Jugendliche hat seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Die Krise wendet sich zur Harmonie: die Werte und Normen gehen in den gesellschaftlichen Anforderungen auf: „so dass der Jugendliche den gesellschaftlichen, wie die Gesellschaft den Erwartungen des Jugendlichen genüge.“[27]

Das Scheitern der Anpassung und die mangelnde Bedingungen von der Gesellschaft führen zu einer „Negativen Identität“. Die Überwindung der Krise ist aber vorprogrammiert. Die Gesellschaft erhält durch das Rebellieren und Experimentieren der Jugendlichen neue Anstöße, wodurch sich die Gesellschaft verändert und verjüngt. Die Adoleszenz ist damit ein vitaler Regenerator im Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Die geklärte Identität ist eine Voraussetzung für Intimität, deren Entwicklung die Aufgabe des nächsten Stadiums ist.

3.2 „Patchwork-Identität“ nach Heiner Keupp

„Zu fragen ist letztlich, ob wir von Erikson und seinem Identitätskonzept nicht endgültig Abschied nehmen müssen, weil ihm die gesellschaftliche Basis abhanden gekommen ist. Doch haben wir eine Alternative zu Erikson?“[28]

Keupp hebt die große Resonanz, die Erikson mit seinem Modell erreicht hat, hervor und betont das Integrationskonzept als positiv. Insbesondere das psychosoziale Moratorium hält er für überzeugend und zutreffend. Jedoch übt er Kritik an dem Modell der bürgerlichen Sozialisation, in welchem heute nicht einmal mehr die Jugendlichen der bürgerlichen Sozialschichten Platz finden. „Für eine immer größere Anzahl von Jugendlichen zeichnet sich kein Ende des Moratoriums ab, sie können im Sinne von Erikson nicht erwachsen werden.“[29] Den Heranwachsenden fehlen hierfür zum Beispiel die berufliche Integration und die kleinfamiliäre Grundlage, dies ist in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr gegeben.

Der von Keupp entwickelte Begriff der „Patchwork-Identität“ impliziert, dass Identität aus einer Mehrheit von Identitäten in Verbindung mit einem Wir-Gefühl vom Individuum gebildet wird. Eine kollektive Identität scheint an Einfluss zu gewinnen, da sie vermeintlich Sicherheit verschafft. Durch eine zunehmende Auflösung und Verschiebung von Kategorien und Zugehörigkeiten in der Gesellschaft wie der Nationalität oder dem Geschlecht, entsteht ein Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit.[30] Es fehlen sozusagen unveränderliche Normierungen von denen Jugendliche sich abgrenzen können um sich selber einordnen und ihre Identität stabilisieren zu können.

„Sie basteln sich aus vorhandenen Lebensstilen und Sinnelementen ihre eigenen kleinen lebbaren Konstruktionen.“[31] Diese individuellen Lebenscollagen kommen den veränderten, fragmentierten gesellschaftlichen Verhältnissen schon sehr nahe.

Obwohl es zu einer Zunahme von kreativen Lebensmöglichkeiten gekommen ist, ist eine innere Kohärenz der Patchwork-Identität nicht abhanden gekommen. „Kohärenz ohne Identitätszwang ist ein kreativer Prozess von Selbstorganisation.“[32] Dieser Prozess kann jedoch nur in Einbeziehung anderer Menschen gelingen, es ist nicht möglich ihn in Isolation zu erreichen. Die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft spielt also für Keupp eine zentrale Rolle.

Allerdings sind die gesellschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen neuerdings von zentraler Bedeutung:

„Identitätsarbeit unter Bedingungen gesellschaftlicher Marginalisierung und wachsender persönlicher Demoralisierung wird zu keinen hoffnungsvollen und produktiven Identitätsentwürfen führen. Wohl eher zu einer Fixierung an Normalitätsmodelle, die gesellschaftlich „veralten“ mögen, zu deren Realisierung jedoch immer wieder so viel persönliche Energien investiert wurden und werden.“[33]

Ohne die Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozess in Form von sinnvoller Beschäftigung und angemessener Bezahlung wird Identitätsbildung zu einem Schwebezustand, da das Individuum sich nicht als sinnvollen und aktiven Teilnehmer der Gesellschaft findet.

Die Identitätsarbeit ist unvorhersehbar und nach vorne offen. Identitätsarbeit ist somit in keiner Weise mehr als ein gesellschaftlich gefordertes Ziel, welches erreicht werden muss, zu verstehen. „Es soll „Identität als lebensweltlicher Prozess konzeptualisiert und von flexiblen Identitätsstrukturen ausgegangen werden“[34]. Eine verbindliche, eindeutige Identität kann es nicht geben.

Meiner Meinung nach versucht Keupp mit seinem Konzept der Patchwork-Identität den gesellschaftlichen Veränderungen, nämlich den sich auflösenden Strukturen, der Fragmentierung und Flexibilisierung gerecht zu werden. Die daraus resultierenden neuen und vor allem vielfältigen Rollen finden in alten Identitätsmodellen, wie dem von Erikson, seiner Ansicht nach keinen Platz. Die multiplen Realitäten fordern ebensolche multiplen Identitäten. Keupps Bild der Patchwork-Identität nimmt die offenen Strukturen und Fragmentierung der Gesellschaft auf. Sein Identitätskonzept ist offen und lässt jegliche Identität zu.

3.3 Entwicklung der Identität bei Jugendlichen

,,Wer Identität besitzt, ist unterscheidbar von anderen und weiß dies auch selbst".[35]

Die Identität des Jugendlichen ist noch nicht klar definiert, sondern kristallisiert sich erst durch die Entwicklung der seelischen Struktur und die Entstehung von Leitbildern und selbstgesetzten Idealen heraus.[36] Wie schon Erikson schreibt, werden in der Jugendphase verschiedene soziale Rollen ausprobieren, um die eigene Identität, das eigene Selbst, unter vielen verschiedenen Ichs zu finden.

Der Mensch setzt sich, so Fend, in der Adoleszenz zum ersten Mal bewusst in ein Verhältnis zur Welt und zu sich selbst. Diese weltanschauliche Haltung äußert sich in der Identität, in einem „neuen Verhältnis zu Bezugspersonen, zum eigenen Körper und zur Sexualität, einer neuen Beziehung zu sich selbst, zu Leistung und Beruf sowie in einer neuen Orientierung gegenüber Politik, Beruf, Natur, Religion und Kultur."[37] Während das Kind die Welt und sich “lebt", “erlebt" der Jugendliche die Welt und sich. Der Jugendliche nimmt demzufolge eine Haltung ein, die oberflächlich betrachtet einem ,,Sich-zurückziehen" gleicht. Gleichzeitig beginnt er aber auch, neue Formen der Selbstrepräsentation in verschiedenen Rollen experimentell zu entwickeln und zu erproben, wobei das soziale Feedback den Status einer Instanz erlangt, der die Selbstdefinition (Identität) immer neu korrigiert und aufbaut. In dieser Dimension eröffnen sich zwei Perspektiven, zum einen eine Innen-Perspektive mit dem wahren Selbst und der Phantasie des Idealen Selbst. Zum anderen eine Außen-Perspektive mit dem präsentierten Selbst und der Phantasie des sozialen Wunsch-Selbst. Es kommt zu einem intensiven Dialog zwischen der Ich-Findung und der sozialen Selbstdarstellung.[38]

Hier wird mit der „Persönlichkeit“ experimentiert, sie wird erprobt und ausgebildet. Der Körper spielt dabei eine zentrale Rolle, da er auch Vermittler von Fremd- und Selbstwahrnehmung ist. Es findet für den Jugendlichen eine Balanceakt statt zwischen Leibsein und Körperhaben.

„Nicht nur die biologische Reifung, sondern auch die sich ändernden sozialen Erwartungen stellen an den Heranwachsenden immer neue Anforderungen.“[39]

Denn Identität ist auch eine Beziehungsleistung: durch Intimität, Identifikation und den Vergleich mit anderen entwickelt sie sich. Durch die Beziehung zu anderen Menschen wie der Peer-Gruppe kommt es zu einer Relativierung in der Entwicklung. Der Jugendliche merkt, dass er sich immer in Relation zu anderen Menschen sehen muss, die seine eigenen Kompetenzen ergänzen können.[40]

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität kann mit Konflikten beladen sein oder unproblematisch verlaufen. Das Jugendalter ist also nicht grundsätzlich eine Krisenphase, sondern sie kann auch relativ ruhig und problemlos ablaufen. Wichtig für die Zufriedenheit mit der eigenen Identität ist die weitestgehende Übereinstimmung zwischen Wunschvorstellungen und deren realen Umsetzung.

[...]


[1] Dietrich, K. /Teichert, W. (Hrsg.) (1999): S. 105

[2] Adorno, T. Horkheimer, (1985): S. 209

[3] Dietrich, K. /Teichert, W. (Hrsg.) (1999): S. 108

[4] Gugutzer, R. (2002): S. 124

[5] Gugutzer, R. (2002): S. 125

[6] Schultheis, K. (1998): S. 54

[7] Du Bois, R. (1990): S. 9

[8] Schulz, W.: Spurensuche: Meine Körpergeschichte ist die Geschichte meines Leibes in Raum und Zeit. In: Homfeldt, H. G. (Hrsg.) (1999): S. 171

[9] Gugutzer, R. (2002): S. 71

[10] Du Bois, R. (1990): S. 9

[11] Schreiber, W. (1999): S. 37 f

[12] Dollase, R.: Jugendkulturen und Mode. Ein Thema zwischen emotionaler Reichhaltigkeit, essayistischer Pracht und wissenschaftlicher Fadheit. In:

Ferchhoff, W. et al (Hrsg.) (1995): S. 85

[13] Baacke, D. (2003): S. 41 f

[14] Hurrelmann, K. (2004): S. 8

[15] Reiss, K.: Heute bin ich so, morgen bin ich anders: Postmoderne Lebensstile als Medium jugendlicher Identitätsbildungen. In: Gaugele, E. /Reiss, K. (Hg.) (2003): S. 23

[16] Bühler, C. (1991): S. 53 ff

[17] Schwendter, R.: Gibt es noch Jugendsubkulturen? In: Ferchhoff, W. et al (1995): S. 19

[18] Dollase, R.: Jugendkulturen und Mode. Ein Thema zwischen emotionaler Reichhaltigkeit, essayistischer Pracht und wissenschaftlicher Fadheit. In:

Ferchhoff, W. et al (Hrsg.) (1995): S.85

[19] Erikson, E. (1991): S. 124

[20] Rothgang, G. W. (2003): S.83

[21] Erikson, E. (1988): S. 12

[22] Baacke, D. (2003): S. 276

[23] Oerter, R./Montada, L. (Hrsg.) (1995): S. 64 f

[24] Erikson, E. (1966): S. 135

[25] Oerter, R./Montada, L. (Hrsg.) (1995): S: 322

[26] Erikson, E. (1980): S. 135

[27] Helsper, W. (1983): S. 119

[28] Keupp, H. (1988): S. 431

[29] Keupp, H. (1988): S. 431

[30] Reiss, K.: Heute bin ich so, morgen bin ich anders: Postmoderne Lebensstile als Medium jugendlicher Identitätsbildungen. In: Gaugele, E. /Reiss, K. (Hg.) (2003): S.16 f

[31] Keupp, H. (1988): S. 432

[32] Keupp, H. (1988): S. 432

[33] Keupp, H. (1988): S. 433

[34] Straus nach Mey, G. (1999): S. 70

[35] Baacke, D. (2003): S. 177

[36] Fend, E. (2005): S. 62

[37] Fend, E. (2005): S. 414

[38] Fend, E. (2005): S. 415

[39] Trautner, H. M. (1991): S. 81

[40] Baacke, D. (1999): S. 254

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Identität und Körperinszenierung bei Jugendlichen als zentrales Analysefeld der Sozialen Arbeit
Untertitel
Der Leib als Bühne der Selbstinszenierung
Hochschule
Hochschule Hannover
Note
1,8
Autor
Jahr
2006
Seiten
66
Katalognummer
V54698
ISBN (eBook)
9783638498333
ISBN (Buch)
9783638709101
Dateigröße
646 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leib, Bühne, Selbstinszenierung, Identität, Körperinszenierung, Jugendlichen, Analysefeld, Sozialen, Arbeit
Arbeit zitieren
Julia Horn (Autor:in), 2006, Identität und Körperinszenierung bei Jugendlichen als zentrales Analysefeld der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54698

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