Vereinnahmung der Sektenmitglieder der Zeugen Jehovas

Welche Deutungsmuster und Mechanismen der Sekte verzögern den erwünschten Austritt von Sektenmitgliedern?


Hausarbeit, 2019

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverze ichnis

1. Einleitung
1.1. Thematische Hinführung
1.2. Forschungsstand

2. Hauptteil Methode
1.) Auswahl
2.) Reformulierung
3.) Abstraktion
4.) Abstraktion der logischen und normativen Ordnung
5.) Vergleich
6.) Identifizierung von Regeln
7.) Kontextualisierung
8.) Erklärung

3. Schlussbetrachtung

Fazit und Ausblick

Quellen

1. Einleitung:

1.1. Thematische Hinführung

Schlagzeilen wie „Opfer sollen finanzielle Unterstützung erhalten“1, oder „Der Lord will Sex“ 2 erschüttern immer wieder mit ihren Inhalten: Sexueller Missbrauch, Pädophilie, Gewalttaten scheinen regelmäßig Begleiterscheinungen von Sekten zu sein. Diese verlieren und gewinnen dennoch stets an Mitgliedern. Es stellt sich die Frage, welche Mechanismen die Sektenmitglieder dazu verleiten, in diesen Gemeinschaftsformen zu verbleiben, auch wenn diese gewillt sind, auszusteigen.

Die Organisation „Sekte“ blickt auf eine langjährige Tradition zurück.

Gemeinschaften religiös Gleichgesinnter, die sich von etablierten religiösen Gemeinschaften abspalteten, scheint es stets gegeben zu haben. Auch die Anfänge des Christentums begannen aus religionswissenschaftlicher Perspektive auf diese Art. Die Jünger, Freunde, Nachfolger Jesu von Nazaret spalteten sich von der Synagoge ab und bildeten prinzipiell eine jüdische Sekte: „Spätestens nach Ostern und Pfingsten blieben die Zeugen der Auferstehung, die Apostel und ihre Gläubigen, auf lange Zeit eine jüdische Sekte(…) Wie immer man im einzelnen die Anfänge des Christentums zu sehen hat, unter religionswissenschaftlichen Perspektive sind bis zur Konstantinischen Wende alle Merkmale einer Sekte vorhanden“.3 An dieser Stelle wird unter anderem deutlich, dass die Definition von „Sekte“ sich von Disziplin zu Disziplin unterscheidet. Das Handbuch der Religiösen Gemeinschaften definiert diese folgendermaßen: „Gemeinschaften, die mit christlichen Überlieferungen wesentliche außerbiblische Wahrheits- und Offenbarungsquellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehungen ablehnen.“4 Laut dem Handbuch religiöser Gemeinschaften bestehen 13 Sektenausprägungen in Deutschland. Daneben gibt es auch ähnliche Organisationen, die als „Psycho-Organisationen“, „Esoterische und neugnostische Weltanschauungen und Bewegungen“, „Sondergemeinschaften“, „Missionierende Religionen des Ostens, Neureligionen und „Jugendreligionen““, „Freikirchen“ bezeichnet werden. Die verschiedenen Variationen und die andauernde Existenz dieser lässt vermuten, dass diese Systeme durch spezifische Mechanismen aufrechterhalten werden und mehr oder weniger fortbestehen, trotz teilweise vorhandener Gefahren.

Wie bereits zu Beginn erwähnt, scheint das Phänomen „Sekte“ auf eine weite Tradition zurückzublicken und auch heute noch aktuell zu sein. Folgendes Zitat weist hingegen auf die vermeintliche Bedeutungslosigkeit der kirchlichen Werte hin: „Das Schrumpfen der Kirchlichkeit ist in der wachsenden Bedeutungslosigkeit der kirchlichen Werte für die sinnvolle Integrierung des Alltagslebens der typisch modernen Person verankert“, behauptet Luckmann.5 Doch trotz dieser im Jahre 1963 behaupteten Tendenz entsteht gerade auch unter Jugendlichen der Wille und der Drang nach der Zugehörigkeit zu sogenannten „Jugendreligionen“, die Orientierung bei der Selbstfindung liefern.6 Diese nicht aus vorgewiesenen wissenschaftlichen Ergebnissen behauptete Tendenz aus dem Jahre 1977 führt vor, dass wohl ein gestiegenes Interesse an spezifischen religiösen Organisationsformen zu dieser Zeit entstand. Was die heutige Situation betrifft, lässt sich spekulieren. Da die Grenzen des Begriffs „Sekte“ und die normative Konnotation dieses Begriffs sich von Fall zu Fall unterscheiden, lässt sich vermuten, dass es schwierig ist, den Zu- und Abgang aus zuvor genannten Organisationsformen, die zum Teil nicht oder schwer offiziell erfasst werden können, zu dokumentieren und zu verfolgen (auch die rechtlich definierten Merkmale einer Sekte erscheinen fragwürdig, was im verwendeten Interview Anklang findet). Eine speziell angefertigte Internetwebsite für Aussteiger aus diesen Organisationen lässt dennoch vermuten, dass auch die Zahl der Aussteiger ansteigt, zumindest in Deutschland.7 Offizielle Daten zum Zu- und Abgang habe ich hierzu leider nicht gefunden. Folgendes Zitat sei als Hinführung zu meiner Analyse vorgeführt:

„Die entscheidende Frage für die soziologische Analyse der Religion ist nicht, ob bestimmte Glaubens- und Handlungssätze Zustimmung oder Ablehnung finden, sondern wie sie im Handeln der Befragten wirken und wirken können.“8

In dem von mir ausgewählten Interview geführt, von Arno Luik mit dem ehemaligen Mitglied der Sekte der Zeugen Jehovas, Oliver Wolschke, möchte ich analysieren, inwiefern die Glaubenssätze der Zeugen Jehovas den Verbleib von Oliver Wolschke in der Sekte zeitlich verlängerten und den Ausstieg aus dieser hinauszögerten. Die Frage sei konkret wie folgt formuliert: Welche Deutungsmuster und Mechanismen der Sekte verzögern den erwünschten Austritt von Sektenmitgliedern?

Da es viele verschiedene Sektenausprägungen gibt und die Zeugen Jehovas zahlenmäßig mit 165.000 Mitgliedern laut Stern online eine der meist vertretenen Sekten in Deutschland darstellen, habe ich mich für diese entschieden9. Da ich nicht mehrere Interviews vergleichen werde, lässt sich in diesem Falle schwer belegbar von kollektiven Deutungsmustern sprechen. Dennoch lassen sich mithilfe der Deutungsmusteranalyse die Mechanismen erkennen, die den Verbleib in der Sekte hinauszögern, exemplarisch am Beispiel von Oliver Wolschke. Hierfür verwende ich die Methode der 8 Analyseschritte der Deutungsmuster nach Pohlmann, Bär und Valirini (2014). Da der Interviewte als mittlerweile Außenstehender von den Zeugen Jehovas berichtet und von seiner eigenen Zeit in dieser, lassen sich einige Deutungsmuster der Sektenmitglieder gut rekonstruieren. Denn der Interviewte spricht nicht mehr aus der Rolle eines Zeugen Jehovas, was die Aussagen und Angaben natürlich auf nicht gewünschte Weise steuern könnte, sondern aus Distanz zu dieser über die spezifische Sektenausprägung. Es scheinen tief gelegene komplexe Mechanismen zu Grunde zu liegen, die die Handlungen der Involvierten in Sekten steuern.

1.2. Forschungsstand:

Die Grenzen des Begriffs „Sekte“ unterscheiden sich in verschiedenen Disziplinen. Die zuvor zitierte Passage von Ludger Zinke aus dem Sammelband „Religionen am Rande der Gesellschaft“ versucht, einen Anfang der Entstehung der Sekten zu kennzeichnen sowie in gewisser Hinsicht eine Definition dieser aus religionswissenschaftlicher Perspektive zu geben. Denn weiterhin vertritt dieser unter anderem die These, dass die Entwicklung neuer Religionen eine Behauptung gegen vorherrschende Sozialordnungen mit sich trägt 10, wodurch für mich die Vermutung entsteht, dass verschiedene Religionen den Status des Sektendaseins als notwendige Etappe zur anschließenden Etablierung durchleben würden. Leider belegt und führt er in diesem Text seine erwähnten Hypothesen kaum aus. Er liefert jedoch als Professor für Theologie und Religionspädagoge Erklärungen hinsichtlich der Tendenz von Jugendlichen, sich sogenannten „Jugendsekten“ anzuschließen, die sich als sehr konservativ eingrenzen lassen. Unter anderem sei hierfür die Suche nach einfachen Lehren und Lebensordnungen im Zuge der „unüberschaubaren Pluralität von Sinnangeboten“ verantwortlich, es wird eine Art Sinnorientierung gewährleistet.11 Im selben Sammelband beleuchtet Roman Bleistein mit seinem Text „Gefährdete Identität“ aus sozialpsychologischer Perspektive einige Bedingungen der Ausbreitung „neuer Jugendreligionen“.

Hierin versucht dieser zu erklären, weshalb Jugendliche scheinbar lediglich durch Jugendreligionen in einen „befriedigenden, zumal religiösen, Erwachsenenstatus gelangen.“12 Zum einen sei die gefährdete Identitätsfindung hierfür verantwortlich. Laut Erikson stehen Menschen in der Pubertät und in der Adoleszenz vor der Herausforderung, „ein verlässliches Ich (zu) werden, zu sich selbst kommen, eine von der umgebenen Gemeinschaft angebotene Selbstdefinition (zu) akzeptieren.“13 Hierbei bestünde unter anderem die Gefahr der Identitätsverwirrung durch die „verwirrende Fülle der Angebote an Identifikationsobjekten“ 14, es komme zu einem nicht selektierten Überangebot, welches wiederum zu einer Rollenverwirrung führe. Unter anderem durch die angebotene Gruppenidentität bei Jugendsekten gelinge es den Jugendlichen scheinbar, diese Unsicherheit zu überwinden.15 Folglich bieten die Jugendreligionen eine Art Identifikationsobjektsorientierung. Der vorgeführte Forschungsstand konzentrierte sich speziell auf die Erklärung des Zuwachses des Interesses der Jugendlichen speziell an Jugendsekten aus religionswissenschaftlicher und psychologischer Sichtweise.

Aus soziologischer Perspektive wurden in der Forschung bereits die Eigenschaften des Systems Sekte als soziale Organisation analysiert und dazu empirische Studien durchgeführt, die Paul-Günter Weber verwendet und systemtheoretisch betrachtet. Ergebnis war die „Einengung der Partizipation des Gläubigen an der Gesellschaft. Das sektiererische Glaubenssystem ist für den Sektierer ein geschlossenes, homogenes System und damit für ihn objektiv wahr.“ 16 Weber analysierte Aussagen und Daten der Sektenmitglieder und kommt zu dem Entschluss der „Horizontbegrenzung“ und „Nichtintegration“ der Sektenmitglieder, meine Analyse hingegen wird sich auf einen Aussteiger aus einer Sekte fokussieren, der Distanz zu dieser aufbauen konnte.

2. Hauptteil

Methode Oliver Wolschke müsste mittlerweile 33 Jahre alt sein. Er hat eine Familie- Ehefrau und Kinder. Er wurde in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas „hineingeboren“ und verblieb in dieser trotz aufkommender Zweifel und Hindernisse bis zu seinem 31. Lebensjahr. Auf seiner Internetseite und in seinen Büchern berichtet er über diese lange und für ihn schwere Zeit.17 Mittlerweile ist er aktiver Gegner dieser Bewegung und ruft Mitglieder solcher und ähnlicher Gemeinschaften dazu auf, die propagierten Lehren zu hinterfragen. Da Oliver Wolschke bereits in die Gemeinde der Zeugen Jehovas hineingeboren wurde und den dortigen Regeln entsprechend von klein auf sozialisiert wurde, erscheint mir das Interview mit ihm als gute Materialwahl, um mögliche kollektive Handlungsregeln dieser Sekte anzuschneiden. Da es sich zudem in diesem Interview nicht um eine für wissenschaftliche Zwecke errichtete Arbeit handelt und diesem kein Leitfaden zugrunde liegt, erschien dieses mir als recht geeignete Grundlage, um selbstständig Derrivationen herauszuarbeiten. Mithilfe des Interviews mit Oliver Wolschke soll analysiert werden, welche Gründe und welche möglichen Mechanismen langes Verbleiben in der Sekte erklären.

1.) Auswahl Das Interview mit Oliver Wolschke lieferte zahlreiche Impulse zur Beantwortung der Forschungsfrage. Einige Sequenzen, die lediglich seine Zweifel und den Grund seines Austritts aus der Gemeinde thematisierten, habe ich nicht verwendet und paraphrasiert, da diese nicht relevant für meine formulierte Forschungsfrage waren. Sprachliche Stilmittel, die hingegen auffielen, habe ich dennoch markiert. Die Sequenzen waren meist aufgeteilt in Frage des Interviewers und Antwort des Interviewten, des Öfteren zwei, da diese in den meisten Fällen eine inhaltlich schlüssige Einheit darstellten.
2.) Reformulierung Insgesamt erstellte ich 24 Paraphrasen. Die Teile, die von den Zweifeln des Interviewten an den Glauben handeln, habe ich nicht paraphrasiert.

[...]


1 https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.colonia-dignidad-opfer-sollen-finanzielle-unterstuetzung-erhalten.9ecedc92-9fba-4102-85ce-c2d011f8b489.html (30.09.19).

2 https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-61822088.html (30.09.19).

3 Vgl. Zinke 1977, S.10.

4 Vgl. Handbuch Religiöse Gemeinschaften, s. 243.

5 Vgl. Luckmann 1963, S. 30.

6 Vgl. Vorwort Zinke 1977.

7 Vgl. https://www.sektenausstieg.net/ (28.09.2019).

8 Vgl. Weber 1975, S. 14.

9 Vgl. Primärquelle

10 Vgl. Zinke 1977, S. 10.

11 Vgl. ebenso S. 21-22.

12 Vgl. Bleistein in Zinke 1977, S. 26.

13 Vgl. ebenso S. 26

14 Vgl. ebenso S. 27.

15 Vgl. ebenso S. 28.

16 Vgl. Weber 1975, S. 149.

17 Vgl. https://www.oliverwolschke.de/ (5.10.19).

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Vereinnahmung der Sektenmitglieder der Zeugen Jehovas
Untertitel
Welche Deutungsmuster und Mechanismen der Sekte verzögern den erwünschten Austritt von Sektenmitgliedern?
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Wirtschafts- und Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Einführung in die Qualitative Sozialforschung
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
18
Katalognummer
V544531
ISBN (eBook)
9783346200914
ISBN (Buch)
9783346200921
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sekte, Zeugen Jehovas, Deutungsmuster, Interviewanalyse, Soziologie, Systemeigenlogik
Arbeit zitieren
Regina Gajnanow (Autor:in), 2019, Vereinnahmung der Sektenmitglieder der Zeugen Jehovas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/544531

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