"So ist die Welt aus ihrer Bahn gewichen" - Zur Figur König Philipps in "Don Karlos"


Trabajo de Seminario, 2005

15 Páginas, Calificación: 1-


Extracto


Inhalt

1. Einleitung

2. König Philipp: Der Konflikt zwischen „Menschsein“ und den höfischen Machtstrukturen
2.1 Ein zwiespältiger Charakter und sein Dilemma
2.2 “Mich lüstete nach einem Menschen“ – Philipp und Marquis Posa

3. Die Vernichtung eines Königs

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Keine andere Figur in Schillers Don Karlos macht eine so tiefgreifende Wandlung durch und erfährt eine derartig grundlegende Erschütterung ihrer Existenz wie König Philipp. Der zunächst kaltherzig und grausam auftretende, allmächtige Monarch, dessen Beziehung zu ihm nahestehenden Menschen von Unterdrückung und Distanz geprägt ist, offenbart zunehmend menschliche Schwächen und Bedürfnisse, die in einem Spannungsverhältnis zu seiner Position als König stehen und wird schließlich von seinem vermeintlichen Freund Posa verraten und in seinen neuentdeckten menschlichen Gefühlen verletzt. Nachdem er Posa in blinder Rachsucht hat ermorden lassen und diesen Schritt zutiefst bereut, steht er zuletzt als greiser Infant und ohne den Glanz des absolutistischen Herrschers vor dem Großinquisitor, der ihn als ohnmächtige Marionette der Inquisition vorführt.

Diese Entwicklung weist Philipp als die eigentliche tragische Figur des Dramas aus. Ungeachtet der Tatsache, dass sich der größte Teil der Literatur über den Don Karlos mit Marquis Posa beschäftigt, räumen ihm einige Forscher sogar die Stellung der zentralen Figur ein oder betrachten doch zumindest die Thematik einer Majestät, die aus dem Kreis des Menschlichen ausgeschlossen und damit ihrer Natur entfremdet wird als zentrales Motiv des Don Karlos.[1]

Die radikale Wandlung vom unnahbaren und gottähnlichen Despoten zum tragischen Charakter nachzuvollziehen und in ihren Ursachen zu analysieren ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Dafür ist es in einem ersten Schritt notwendig, den Charakter und die Situation Philipps darzustellen, um aufzuzeigen, worin seine Schwäche und sein Dilemma bestehen und deutlich zu machen, weshalb er Marquis Posa erliegt. In einem zweiten Abschnitt soll dann die Frage beantwortet werden, warum Philipps menschliche Schwäche seine anfangs unangreifbar erscheinende Machtposition aushöhlt und letztlich zerstört, so dass die Inquisition am Ende als die tatsächlich herrschende Macht über den König triumphieren kann.

2. König Philipp: Der Konflikt zwischen „Menschsein“ und den höfischen Machtstrukturen

2.1 Ein zwiespältiger Charakter und sein Dilemma

Ganz den Grundforderungen der damaligen Dramentheorie entsprechend ist Philipp ein gemischter Charakter. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt wird das Despotenschema durchbrochen, und der König zeigt Züge von Menschlichkeit, die ihn als eifersüchtigen Ehemann und Vater und als einen einsamen Menschen auf dem Thron ausweisen. Neben diese Ambivalenz tritt ein weiterer Widerspruch: die Diskrepanz zwischen dem Menschen und dem Herrscher Philipp, dessen gottähnliche Machtfülle ihm verwehrt, wessen er als empfindender Mensch bedarf. Dieses Dilemma und seine zwischen beiden Extremen schwankende Gemütsverfassung bestimmen Philipps Situation und Handeln.

Im ersten Akt erscheint Philipp zunächst als der „Fürchterliche“ (V. 313)[2], der seinen Sohn „[a]uf Sklavenart“ (V. 252) straft und immer wieder mit Bluturteilen und Blutgerichten in Verbindung gebracht wird, was gleich zu Beginn verdeutlicht, in wie enger Beziehung Philipps Despotismus zur Inquisition steht.[3] Auch das gestörte Verhältnis zwischen Vater und Sohn tritt bereits in dem Moment deutlich hervor, als Karlos sich und den ihm fremd gebliebenen Vater als „die beiden letzten Enden / Des menschlichen Geschlechtes“ (V. 335-336) und als Rivalen um die Gunst Elisabeths wahrnimmt.

Elisabeth ist überdies genau die Person, an der sich in I/6 erstmals die Schwachstelle des Königs offenbart. Allerdings ist selbst diese menschliche Regung Philipps – seine Eifersucht – höchst unangenehm, zeigt sie sich doch ebenfalls als ausgeprägte Form der Tyrannei. Er drückt seinen Besitzanspruch an Elisabeth aus und überwacht sie, ohne jedoch ihre Zuneigung zu suchen.[4] Obwohl diese Haltung ein Stück despotischer Machtausübung darstellt, erhält das Bild des unnahbaren Monarchen hier nichtsdestotrotz erste Risse, die sich im zweiten Akt vertiefen.

Zunächst wird Philipp keineswegs sympathischer. Das negative Bild verstärkt sich im Gegenteil noch durch sein kaltes und abweisendes Verhalten gegenüber seinem Sohn. Er präsentiert sich als jemand, dem Vaterliebe fremd ist und der tatsächlich „noch nie die Stimme der Natur / Gehört“ hat (V. 914-915), wie Karlos sagt. In den Tränen seines Sohnes, die hier weniger als Ausdruck von Empfindsamkeit als vielmehr des Menschseins zu verstehen sind,[5] entdeckt er nichts als Gaukelspiel und verdeutlicht auf diese Weise, wie deformiert und seiner menschlichen Natur entfremdet er ist. Er misstraut Karlos zutiefst, sieht in ihm den gefährlichen politischen Rivalen („Das Messer meinem Mörder“, V. 1191) und stößt ihn brutal zurück. Dem Sohn tritt er nicht als Vater, sondern als König gegenüber. „Der Etikette bange Scheidewand / Ist zwischen Sohn und Vater“ (V. 1056-1057), anders als von Karlos erhofft, eben doch nicht eingesunken, sondern erweist sich hier und im weiteren Verlauf in hohem Maße als ein Zwang, der einen natürlichen Umgang der Familienmitglieder und die Privatheit der Familie unmöglich macht.[6]

Überraschenderweise ist Philipp aber zugleich sehr empfänglich für das Vater-Sohn-Idyll, das Karlos ihm ausmalt. Der Umstand, dass er Karlos trotz seiner offensichtlichen Rührung vorwirft, ihm das geschilderte Glück nie gewährt zu haben, lässt seine Sehnsicht nach einer normalen Vater-Sohn-Beziehung erahnen und ist eine wichtige Voraussetzung für Posas spätere Wirkung auf Philipp. Ihren Schatten wirft die Begegnung zwischen Posa und Philipp auch einige Verse zuvor voraus, als Karlos von Einsamkeit auf dem Thron spricht und der König ergriffen feststellen muss, tatsächlich allein zu sein. Dennoch vermag es Karlos anders als Posa nicht, Philipps Herz für sich zu gewinnen, sondern wird von ihm – gewiss nicht ganz zu Unrecht – mit dem Hinweis auf seine mangelnde Reife zu Gunsten Albas zurückgewiesen. Dass er von Karlos Rede trotz allem tiefer beeindruckt ist, als er diesen sehen lässt, wird deutlich, als er Alba mitteilt, er wolle die Probe mit dem Sohn künftig wagen.

Überwog bisher das Bild des kaltherzigen Despoten und wurde nur vereinzelt durch das kurze Durchscheinen menschlicher Regungen durchbrochen, tritt im dritten Akt der Tyrann hinter den einsamen und von Zweifeln gequälten Menschen Philipp zurück. Anders als noch zuvor ist er nicht mehr völlig identifizierbar mit dem absolutistischen System aus Zwang und Gewalt. Stattdessen tritt der Spalt zwischen dem Fürsten und dem Menschen Philipp zu Tage, und die Diskrepanz beider Existenzformen kennzeichnet ihn von nun an.[7] Es ist der Mensch Philipp, nicht der König, der um den Schlaf gebracht an der Treue seiner Gemahlin zweifelt und auf Wahrheitssuche geht. Als König wird ihm diese Wahrheit jedoch verweigert.

Zunächst ist es die höfische Etikette, vertreten durch Graf Lerma, an der seine Bemühungen scheitern. Lerma reagiert ganz dem höfischen Zeremoniell entsprechend ehrerbietig und nichtssagend und geht so dem Anliegen seines Souveräns aus dem Weg. In dem Vergleich mit König Midas[8] („Ich schlage / An diesen Felsen und will Wasser […] Er gibt / Mir glühend Gold“, V. 2513-2516) erkennt Philipp, dass ihm seine Machtposition die Erfüllung der elementarsten menschlichen Bedürfnisse verwehrt. Nach der Etikette erweisen sich als nächstes die Machenschaften der Höflinge als unüberwindliches Hindernis. Alba und Domingo, die beiden Drahtzieher der Intrige, nutzen selbstverständlich die Gunst der Stunde, um das Misstrauen des Königs gegenüber Ehefrau und Sohn weiter zu schüren, könnte doch eine Annäherung zwischen dem Prinzen und dem König und ein zu großer Einfluss Elisabeths ihre eigene Position gefährden. So wird der König selbst Opfer des von ihm repräsentierten höfischen Systems, in dessen durch Argwohn, Verstellung und Machtkämpfe geprägtem Klima die Intrige ein zwangsläufiges Handlungsmuster ist. Der seinerzeit mächtigste Monarch der Welt steht nicht über den Zwängen der absolutistischen Ordnung, sondern erweist sich ihnen gegenüber als ohnmächtig, wenn sie ihn in seinem privatesten Bereich – seinen Familienbeziehungen – zum Spielball seiner Höflinge machen.[9]

Rasch müssen Alba und Domingo allerdings feststellen, dass sie die Manipulierbarkeit des Königs überschätzt haben, denn Philipp zeigt sich als der Menschenkenner, als den Schiller selbst ihn in seinen Briefen über Don Karlos bezeichnet.[10] Allzu genau nämlich weiß er um die Interessen, den Neid und die Täuschungsmanöver seiner von ihm abhängigen Kreaturen, als dass jene zu leichtes Spiel mit ihm hätten. So beweist er selbst in der verzweifelten Einsamkeit des Menschen der einen Freund sucht die Souveränität des erfahrenen Fürsten, der Habsucht und Ehrbegierde als Antriebskräfte der ihn umgebenden Menschen zu benennen vermag. Dass er im Umkehrschluss bei Posa Wahrheit zu finden hofft, weil dieser von den höfischen Interessen unberührt scheint, ist darum zunächst auch kein dummer Gedanke. Der weitere Handlungsverlauf lässt aber Zweifel am sicheren Instinkt des Königs aufkommen. Darum wird die Frage, ob Philipps Menschenkenntnis nicht sehr enge Grenzen gesetzt sind, noch eine Rolle spielen.

[...]


[1] Z. B. Beyer, Karen, Staatsraison und Moralität, Die Prinzipien höfischen Lebens im Don Carlos,

in: Schiller und die höfische Welt, hg. v. Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack,

Tübingen: Niemeyer 1990, S. 360 und Müller, Klaus-Detlef, Die Aufhebung des bürgerlichen

Trauerspiels in Schillers „Don Karlos“, in: Friedrich Schiller – Angebot und Diskurs. Zugänge,

Dichtung, Zeitgenossenschaft, hg. v. Helmut Brandt, Berlin: Aufbau 1987, S. 225.

[2] Die wörtlichen Zitate folgen der Ausgabe: Schiller, Friedrich, Don Karlos hg. v. Peter-André Alt

(= Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf Grundlage der Textedition von Herbert G.

Göpfert, Bd. 2), München: dtv 2004 (nachf. SW II).

[3] Müller, Aufhebung des bürgerlichen Trauerspiels, S. 225-226.

[4] Müller, Aufhebung des bürgerlichen Trauerspiels, S. 226.

[5] Stellenkommentar zum „Don Karlos“, in: Schiller, Friedrich, Don Karlos, hg. v. Gerhard Kluge

(=Friedrich Schiller, Werke und Briefe in 12 Bänden, Bd. 4) Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker

Verlag 2000, S. 1231-1232 (nachf. nur: Kommentar).

[6] Beyer, Staatsraison, S. 364.

[7] Beyer, Staatsraison, S. 367.

[8] Auf den Zusammenhang verweist Beyer, Staatsraison, S. 368.

[9] Müller, Aufhebung des bürgerlichen Trauerspiels, S. 223 u. 227-228.

[10] SW II, Briefe über „Don Karlos“, S. 249.

Final del extracto de 15 páginas

Detalles

Título
"So ist die Welt aus ihrer Bahn gewichen" - Zur Figur König Philipps in "Don Karlos"
Universidad
Free University of Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Calificación
1-
Autor
Año
2005
Páginas
15
No. de catálogo
V54389
ISBN (Ebook)
9783638496094
ISBN (Libro)
9783656806141
Tamaño de fichero
485 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Welt, Bahn, Figur, König, Philipps, Karlos
Citar trabajo
Tatjana Schäfer (Autor), 2005, "So ist die Welt aus ihrer Bahn gewichen" - Zur Figur König Philipps in "Don Karlos", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54389

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