Förderung der Orientierung und Mobilität bei Kindern im Grundschulalter mit Förderbedarf im Bereich "Sehen" durch Wahrnehmungsangebote

Akustische Sinnesreize sind besonders wirksam zur Förderung der Orientierung und Mobilität bei Kindern mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit


Facharbeit (Schule), 2020

45 Seiten, Note: 0,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Themenbegründung und Entwicklung der These
1.2 Methodisches Vorgehen

2. Theoretische Grundlagen: Pädagogik der Sehbeeinträchtigung und Blindheit
2.1 Sehbeeinträchtigung und Blindheit
2.1.1 Klassifikationen
2.1.2 Ursachen und Krankheitsbilder
2.1.3 Gesetzliche Bestimmungen
2.2 Orientierung und Mobilität
2.2.1 Orientierung und Mobilität: Begriffsklärung und Grundlagen
2.2.2 Ziele
2.2.3 Unterrichtsschwerpunkte
2.3 Wahrnehmung
2.3.1 Traditionelle Sichtweise von Blindheit
2.3.2 Akustische Wahrnehmung
2.3.2.1 Entwicklungsverlauf und Bedeutung
2.3.2.2 Indikatoren
2.3.3 Raumwahrnehmung

3. Praktische Umsetzung
3.1 Bedingungsanalyse
3.2 Situationsanalyse
3.3 Praktische Durchführung
3.3.1 Erwerb und Festigung basaler Kulturtechniken
3.3.2 Wegetraining
3.3.3 Klavieraktivität
3.3.4 Hör-Memory
3.3.5 Bewegungsstunde

4. Pädagogische Schlussfolgerungen
4.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
4.1.1 Erwerb und Festigung basaler Kulturtechniken
4.1.2 Wegetraining
4.1.3 Hör-Memory
4.1.4 Klavieraktivität
4.1.5 Bewegungsstunde
4.2 Schlussfolgerungen für die berufliche Arbeit als Erzieherin

5. Literatur- und Quellenverzeichnis
5.1 Literaturverzeichnis
5.2 Internetquellen

Anhang

Anhang 1 Skizze zum Wegetraining

Anhang 2 Beobachtungsbogen Nr. 1: Wegetraining M

Anhang 3 Beobachtungsbogen Nr. 2: Wegetraining M

Anhang 4 Angebotsprotokoll: Klavieraktivität

Anhang 5 Angebotsprotokoll: Hör-Memory

Anhang 6 Angebotsplanung Bewegungsstunde

Lied eines blinden Kindes 1

Aus urheberrechtlichen Gründen wurde das Lied von der Redaktion entfernt

1. Einleitung

1.1 Themenbegründung und Entwicklung der These

Die Fähigkeit des Sehens ist die wohl bedeutsamste und für uns unentbehrlichste Funktion zur Wahrnehmung unserer Umgebung. Bis zu achtzig Prozent der Informationen aus der Umwelt werden über die Augen aufgenommen und im Gehirn verarbeitet.2 Durch das Sehen gelingt es uns, Dinge und Gegebenheiten außerhalb unserer Reichweite wahrzunehmen. Was wir sehen, animiert uns und regt uns zur gezielten Fortbewegung und aktiven Erkundung unserer Umgebung an. Anders verhält es sich bei Kindern mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit, bei denen die Fähigkeit zur selbstständigen Orientierung und Fortbewegung erheblich eingeschränkt ist. Sie befinden sich in einem stärkeren Abhängigkeitsverhältnis zu sehenden Erwachsenen als Kinder mit unversehrtem Sehvermögen.

Diese Erfahrungen habe ich im Rahmen meines sechsmonatigen Praktikums an der J.-A.-Z.-Schule für Blinde in Berlin machen dürfen. An dieser Schule war ich in der ergänzenden Förderung und Betreuung (Hort) und unterstützend im Unterricht der 1./2. und 4. Klasse tätig. Vorbereitend auf den für mich neuen Tätigkeitsbereich mit der Besonderheit der Blindheit und Sehbeeinträchtigung konnte ich vor Beginn des Praktikums an der Fortbildung „Orientierung und Mobilität für Schüler/-innen mit dem Förderschwerpunkt ,Sehen‘“ teilnehmen, die an der J.-A.-Z.-Schule ausgetragen wurde. Die Fortbildung lehrte mich grundlegende, hilfreiche Techniken im Umgang mit blinden und sehbeeinträchtigten Schülern und bewirkte bei mir durch Übungen in begleiteter Selbsterfahrung unter der Augenbinde ein authentisches Bild von den Bedürfnissen, Unsicherheiten und kompensierenden Sinnesleistungen eines blinden Menschen. Ich wurde darauf sensibilisiert, während meiner Tätigkeit als Praktikantin bewusst und gezielt auf die Fähigkeiten der Schüler zur Orientierung und Mobilität zu achten.

Im Zuge dessen fielen mir mehrere Orientierungsprobleme bei den Schülern auf, die sich auf dem Schulgelände sowie innerhalb der Gruppenräume zeigten. Dazu zählten Wegstrecken, wie zum Beispiel die eigenständige Fortbewegung vom Klassenzimmer zur Turnhalle oder innerhalb eines Raumes vom Gruppentisch zur Garderobe. Häufig zeigten sich in diesem Zusammenhang auch Schwierigkeiten bei der eigenen Positionsbestimmung im Raum sowie Unsicherheiten bei der Ausführung verbaler Hilfestellungen, wie beispielsweise sich umzudrehen oder nach links zu gehen.

Diese Problematik nahm ich zum Anlass, mich intensiver mit Methoden zur Orientierungs- und Mobilitätsförderung zu beschäftigen, die ich in der Praxis dabei anwenden kann, um die Schüler entsprechend ihrer Möglichkeiten darin zu unterstützen, sich zunehmend in der selbstständigen Orientierung und Mobilität zu entwickeln. Um das Thema und meine Zielstellung einzugrenzen, habe ich mich auf den akustischen Wahrnehmungsbereich konzentriert. Während meiner Selbsterfahrungen unter der Augenbinde erschienen mir akustische Sinnesreize als besonders wichtig, den fehlenden Sehsinn zu kompensieren. Durch die Konzentration auf diesen Fernsinn mit dem Einsatz einer Schutzhaltung fühlte ich mich während der begleiteten sowie unbegleiteten Fortbewegung sicherer als durch das direkte Abtasten meiner Umgebung.

Die Aussage eines blinden Menschen im Rahmen einer Studie stellte hierbei den Leitgedanken meines Erarbeitungsprozesses dar: „Ihr seht mit den Augen, ich sehe mit den Ohren.“3 Ich habe untersucht, inwieweit meine These, dass akustische Sinnesreize besonders wirksam zur Förderung der Orientierung und Mobilität bei blinden und sehbeeinträchtigten Kindern sind, zutrifft.

1.2 Methodisches Vorgehen

Die Facharbeit gliedert sich im Folgenden in einen theoretischen Teil mit ausgewähltem Fachwissen und einen praktischen Teil mit der Umsetzung und Reflexion des erarbeiteten Fachwissens in Hinblick auf die These. Hinführend zur Auseinandersetzung mit der These werde ich im ersten Teil des Hauptteils zunächst auf die Pädagogik der Sehbeeinträchtigung und Blindheit eingehen, indem ich beide Begriffe voneinander abgrenzen und klassifizieren werde. Anschließend stelle ich ausgewählte relevante Ursachen und Krankheitsbilder von Sehschädigungen dar und gebe einen Überblick über die gesetzlichen Bestimmungen für Menschen mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung nach Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere in Bezug auf Förderschulen. Darauf aufbauend werde ich das blindenspezifische Unterrichtsfach Orientierung und Mobilität mit seinen Grundlagen, Zielsetzungen und Schwerpunkten darstellen. Daran anknüpfend erarbeite ich im Themenbereich Wahrnehmung insbesondere praxisrelevante Inhalte zur akustischen Wahrnehmung und Raumwahrnehmung.

Im praktischen Teil des Hauptteils stelle ich meine sozialpädagogische Einrichtung, die J.-A.-Z.-Schule, mit ausgewählten Aspekten kurz dar. Im Anschluss daran beschreibe ich meine Hortgruppe sowie drei Kinder, mit denen ich im Rahmen der praktischen Durchführung intensiver arbeitete. Anschließend erörtere ich die konkrete Durchführung meiner Angebote zur Förderung der Orientierung und Mobilität, welche im Anhang in Form von Beobachtungsbögen, Angebotsplanungen und -protokollen dokumentiert vorzufinden sind, und stelle meine Ergebnisse hinsichtlich meiner These differenziert vor.

Abschließend leite ich aus meinen Erkenntnissen pädagogische Schlussfolgerungen für meine berufliche Arbeit als angehende Erzieherin ab.

In meinen Ausführungen orientiere ich mich überwiegend an dem Buch „Ich sehe anders. Medizinische, psychologische und pädagogische Grundlagen der Blindheit und Sehbehinderung bei Kindern“ von Hildegard Gruber und Andrea Hammer, welches als zweite Auflage im Jahr 2002 veröffentlicht wurde. Weitere fachtheoretische Erkenntnisse entnehme ich zu einem großen Teil dem Buch „Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung“ von Renate Walthes, erschienen im Jahr 2014 als vierte Auflage. Für weitere Informationen nutze ich das Internet sowie einrichtungsinterne Handreichungen. Die genauen Quellenbelege sind im Quellen- beziehungsweise Literaturverzeichnis aufgeführt.

2. Theoretische Grundlagen: Pädagogik der Sehbeeinträchtigung und Blindheit

2.1 Sehbeeinträchtigung und Blindheit

2.1.1 Klassifikationen

Um zu bestimmen, ob eine Sehbeeinträchtigung, Sehbehinderung oder Blindheit vorliegt, wird zur Klassifikation die Sehschärfe (Visus) ermittelt und berücksichtigt. Der Visus bei einem Sehvermögen im Normbereich beträgt 1,0, was einer Sehschärfe von 100% entspricht. Wenn aufgrund von Erkrankungen des Auges oder des Gehirns auf dem besser sehenden Auge eine Sehschärfe von weniger als 30% (Visus 0,3) festgestellt wird, liegt eine Sehbeeinträchtigung vor. Ein reduzierter Visus von unter 0,05 entspricht einem Sehvermögen von 5% und wird als hochgradige Sehbehinderung klassifiziert. Ein Mensch ist gesetzlich blind, wenn der Visus geringer als 0,02 ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass visuell nichts wahrgenommen wird. Da noch ein Sehvermögen von bis zu 2% vorliegen kann, ist bei dem Großteil der Menschen mit Blindheit Lichtwahrnehmung beziehungsweise Hell-Dunkel-Sehen möglich.

2.1.2 Ursachen und Krankheitsbilder

Die Ursachen für angeborene und erworbene Sehschädigungen haben sich seit dem 20. Jahrhundert bis in die heutige Zeit deutlich gewandelt. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Infektionen des Auges zu bleibenden Sehschädigungen geführt haben, spielen seit der zweiten Hälfte stärker genetisch bedingte Augenerkrankungen eine Rolle. Dafür verantwortlich seien auch zunehmend Verwandtenehen aus östlichen Kulturkreisen mit einer Großzahl von Kindern, die den Gendefekt weitergegeben bekommen. In den letzten Jahrzehnten trat eine weitere Erblindungsursache in der Frühgeborenenintensivmedizin auf, bei der die Sauerstoffversorgung als überlebensnotwendige Maßnahme bei einigen Kindern zur Ablösung der Netzhaut führt. Diese „Frühgeborenen-Retinopathie“ tritt heutzutage weitaus weniger in Deutschland als in anderen Ländern auf.

Weitere Ursachen für Sehbeeinträchtigungen und Blindheit sind angeborene Fehlbildungen der Augen und/oder des Sehnervs, erbliche Krankheiten und Syndrome, Tumore und unbehandelte Augenerkrankungen, von denen besonders häufig Flüchtlinge betroffen sind. Die Schädigungen infolge der exemplarisch genannten Ursachen betreffen das Sehvermögen im Bereich der Sehschärfe, des Lichtsinnes, des Farbensehens und des Gesichtsfeldes.

Beeinträchtigungen der Sehschärfe äußern sich durch unscharfe Bilder, die auf der Netzhaut entstehen, wodurch die Augen nicht mehr dazu fähig sind, zwei eng beieinander liegende Punkte getrennt voneinander wahrzunehmen und zu differenzieren. In diesem Kontext zeigt sich bei einigen Menschen auch eine erhöhte Kontrastempfindlichkeit. Je niedriger der visuell wahrgenommene Kontrast ist, desto höher ist die Kontrastempfindlichkeit. Dies kann auch ein Anzeichen für eine Frühform des Glaukoms (Grünen Stars) sein.

Schädigungen im Bereich des Lichtsinnes können sich durch eine gering ausgeprägte Hell-Dunkel-Adaptation zeigen. Das bedeutet, dass sich die Augen nicht gut an verschiedene Helligkeiten anpassen, was das Sehen bei Sonnenlicht und bei Nacht erschwert. Weitere Störungen der Adaptationsfähigkeit des Auges sind die Blendungsempfindlichkeit, bei der sich in Blendungssituationen die Sehschärfe enorm verringert und die Nachtblindheit, bei der Sehen im Dunkeln nicht oder kaum möglich ist. Bei der Tagblindheit liegt keine Adaptationsstörung vor, jedoch ist die Blendungsempfindlichkeit des Betroffenen so stark erhöht, dass kaum visuelle Informationen aufgenommen werden können und das Sehen erschwert ist.

Das Farbensehen kann bei Beeinträchtigungen des Sehens ebenfalls betroffen sein. Dazu zählen erblich bedingte Störungen in der Fähigkeit der Wahrnehmung des Farbtons, der Farbhelligkeit und der Farbsättigung von Objekten, die immer auf beiden Augen auftreten. Neben diesen Störungen gibt es die totale Farbenblindheit, bei der keine Farben wahrgenommen werden, aber die Sehschärfe nicht vermindert ist.

Bei Netzhaut- und Sehnerverkrankungen kommen Störungen des Gesichtsfeldes, sogenannte Gesichtsfeldausfälle vor. Das Gesichtsfeld ist der Bereich, den die unbewegten Augen beim Blick geradeaus erfassen. Seitlich reicht das Gesichtsfeld unter nicht beeinträchtigten Bedingungen bis 90°, nach unten 70° und nach oben sowie nasal 60°, wobei sich die Gesichtsfelder beider Augen größtenteils decken.

Bei Gesichtsfeldausfällen unterscheidet man zwischen verschiedenen Formen, bei denen bestimmte Bereiche nicht eingesehen werden können. Bei einem inselförmigen Ausfall, einem Skotom, ist die Sehkraft in einem bestimmten Bereich des Gesichtsfeldes herabgesetzt oder nicht vorhanden.4 Manche Gesichtsfeldausfälle können im äußeren Bereich beginnen und zum inneren Gesichtsfeld fortschreiten (konzentrischer Gesichtsfeldausfall). Bei einem Halbseitenausfall oder einem Quadrantenausfall fällt jeweils eine Hälfte beziehungsweise ein Viertel des Gesichtsfeldes beider Augen aus.

2.1.3 Gesetzliche Bestimmungen

Trotz der vielfältigen Beeinträchtigungen im Bereich des Sehens gilt es, allen Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit gleichberechtigte Partizipation zu ermöglichen. Dieses Ziel wurde im Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention verbindlich formuliert. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung, welches im Jahr 2008 in Kraft getreten ist. Das Übereinkommen erkennt das Recht beeinträchtigter Menschen auf Bildung an und stellt ausgehend vom Prinzip der Gleichberechtigung sicher, dass Menschen mit Beeinträchtigung Zugang zum allgemeinen Bildungssystem erhalten und somit zu lebenslangem Lernen berechtigt sind.5

Um ihnen erfolgreiches Lernen zu ermöglichen, müssen angemessene Unterstützungsmaßnahmen geleistet werden und es muss eine besondere Schulung der Fachkräfte erfolgen. Bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ bedeutet dies, dass beispielsweise das Erlernen der Brailleschrift als notwendige Kommunikationsform erfolgt oder dass Schüler geeignete Hilfsmittel wie Lupen oder Bildschirmlesegeräte erhalten, die ihnen die Teilnahme am Unterricht erleichtern. Dies setzt voraus, dass den Schülern Fachkräfte zur Verfügung stehen, die ihnen die Brailleschrift vermitteln beziehungsweise mit dem Umgang der Hilfsmittel vertraut sind und dass sie die Arbeits- und Lernmaterialien dementsprechend anpassen. Zudem gilt es laut Artikel 24 bei Kindern mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung sicherzustellen, dass sie neben der Schreib-/Lese-Technik (SLT) lebenspraktische Fertigkeiten sowie Orientierungs- und Mobilitätsfertigkeiten erwerben. Lebenspraktische Fertigkeiten (LPF) sind alle Alltagshandlungen, die dem Menschen eine selbstbestimmte und unabhängige Gestaltung des Lebens ermöglichen. LPF wird an Förderschulen von speziell ausgebildeten Lehrkräften als verbindliches Unterrichtsfach vermittelt oder im Einzelunterricht von Rehabilitationspädagogen trainiert. Ähnliches gilt für das Unterrichtsfach Orientierung und Mobilität (O&M), mit dem ich mich im folgenden Kapitel eingehend auseinandersetzen werde.

2.2 Orientierung und Mobilität

2.2.1 Begriffsklärung und Grundlagen

Das Orientierungs- und Mobilitätstraining ist ein spezifisches Schulungsprogramm für Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit, welches sie zu einer sicheren, effektiven und selbstständigen Orientierung und Mobilität befähigen soll. Orientierung versteht sich in diesem Zusammenhang als kognitiver Vorgang, bei dem alle Sinnesinformationen genutzt werden, um die eigene Position im Raum und im Verhältnis zu anderen Personen oder Objekten zu bestimmen.6 Mobilität beschreibt die Bewegungsfähigkeit, sich von einem Ort zum anderen fortzubewegen. Es wird davon ausgegangen, dass Bewegung die Basis für die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt ist, um das Selbst vom Fremd unterscheiden zu lernen. Dies impliziert, dass dem Orientierungs- und Mobilitätstraining mit Bewegung als Grundlage eine höhere Bedeutung bei Kindern mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit zukommt, um die Wirklichkeit zu konstruieren.7

Wie die Ziele des Orientierungs- und Mobilitätstrainings im Einzelnen bestimmt sind, möchte ich im folgenden Unterkapitel darlegen.

2.2.2 Ziele

Primär sollen Kinder im Orientierungs- und Mobilitätstraining lernen, sich in unserer visuell bestimmten Welt zurechtzufinden und eine dem Alter entsprechende Orientierungsfähigkeit und Mobilität zu entwickeln. Das zunehmend bewusste und eigenständige Handeln führt zu einem höheren Selbstwertgefühl und bildet die Grundlage für eine gelingende und weitestgehend unabhängige Integration in die Gesellschaft.

Im Rahmen des Unterrichts stehen als Feinziele im Fokus, dass die Kinder zunächst mit ihrem O&M-Lehrer als sehenden Begleiter sicher gehen können, was voraussetzt, dass eine vertrauensvolle Beziehung zu dieser Person besteht. Als weiteres, fortgeschrittenes Ziel wird angestrebt, dass das Kind die Körperschutz- und Suchtechniken sowie Stocktechniken kennt und anwendet und darüber hinaus Wege selbstständig bewältigen kann. Außerdem zielt O&M darauf, dass das Kind links und rechts unterscheiden kann und dazu in der Lage ist, sich nach den Himmelsrichtungen ausrichten zu können sowie Drehungen (45°, 90°, 180°, 360°) korrekt auszuführen.

Weiterhin soll das Kind im Orientierungs- und Mobilitätsunterricht lernen, auditive, taktile und visuelle Leitsysteme in der Schule und auf dem Schulhof zu kennen und zu nutzen. Darauf aufbauend ist ein mögliches Ziel, dass das Kind den Umgang mit taktilen Karten, sogenannten Blindenkarten, lernt. Die fühlbaren Texturen und die Beschriftung mit Brailleschrift ermöglichen es, dass Stadtpläne, Landkarten und Globen von Menschen mit Blindheit gelesen werden können.

2.2.3 Unterrichtsschwerpunkte

Orientierung und Mobilität gilt als Kulturtechnik, die, wie ich bereits in Unterkapitel 2.1.3 erwähnt habe, durch speziell ausgebildete Lehrer im Rahmen des spezifischen Unterrichtsfaches erworben wird. Der Lehrer entwickelt ein individuelles Programm, welches im Einzelunterricht stattfindet. Dieses Programm ist abhängig vom Alter des Kindes, seinem physischen Zustand, seiner Begabung, seinen Vorerfahrungen beziehungsweise seinem Entwicklungsstand sowie den örtlichen Rahmenbedingungen. Im O&M-Unterricht wird die Beziehung zwischen dem Körper und Raum gefördert, wodurch das Kind über motorische und taktile Erfahrungen ein Vierseiten-Konzept der Umwelt entwickelt und sich die nähere und fernere Umgebung erschließt. Das Kind lernt, Orientierungsprobleme durch die Fragestellungen „Wo bin ich? Wo will ich hin? Wie komme ich dorthin?“ zu lösen.8 Um zu wissen, wo man sich befindet, benötigt man viele Orientierungserfahrungen und ein geschultes Körperbewusstsein beziehungsweise eine geschulte Körperwahrnehmung. Eine richtige und vollständige Vorstellung von seinem eigenen Körper, Gegenständen und Räumlichkeiten sowie räumlichen Beziehungen (Aufbau einer geistigen Landkarte) ist eine wesentliche Bedingung für den Erwerb der Selbstständigkeit zur Erschließung der Umgebung.9 Es gilt auch, dem Kind differenzierte Begriffe von Gegenständen zu vermitteln, wie beispielsweise Tür, Türklinke, Türrahmen.10 Bedeutend sind hierbei auch die Positionsbegriffe „oben – unten“, „vorne – hinten“ und „außen – innen“ sowie Bewegungsabläufe, wie sich zu bücken, zu drehen und seitwärts zu gehen.11 Das Kind erwirbt die Fähigkeit, seinen Körper besser kennenzulernen und die einzelnen Körperteile bewusst zu bewegen. Je mehr Erfahrungen ein Kind in diesen Bereichen gesammelt hat, desto sicherer und mutiger wird es in seinen Bewegungen und seinem Explorationsverhalten.

Die Beantwortung der Orientierungsfragen trägt somit erheblich dazu bei, dass das Kind sich wohl fühlt und dazu motiviert ist, sich weiter selbstständig mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen. Des Weiteren werden zur Erleichterung der Orientierung im Unterricht gezielt die Sinne des Kindes geschult. Der Sinnesschulung wird eine hohe Bedeutung beigemessen, da durch das bewusste Einsetzen aller Sinne, wie des Tastens, Hörens, Riechens und unter Umständen des Restsehvermögens, erkannt werden kann, wo man sich befindet. Beim Basistraining ohne Stock wird beispielsweise das Richtungshören und Entfernungshören gezielt gefördert.

Neben der Sinnesschulung werden im O&M-Unterricht verschiedene Körperschutztechniken vermittelt, um Ängste bei der selbstständigen Fortbewegung abzubauen und Verletzungsgefahren vorzubeugen. Das ist grundlegend dafür, wenn das Kind lernt, sich eigenständig in zunächst bekannten Innenräumen zu bewegen. Sobald sich das Kind zunehmend sicher in diesen Bereichen bewegt, wird der zu erkundende Raum ausgeweitet auf die häusliche beziehungsweise schulische Umgebung, kleinere Einkaufsgebiete, ampelgerechte Kreuzungen und schließlich belebte Gebiete. Unter Umständen wird auch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel trainiert.

Blinde Kinder werden zudem früh an einen Kinderlangstock gewöhnt, um ein gleichmäßiges Gangbild zu fördern. Außerdem werden sie an die Echoortung herangeführt, um zu lernen, Gegenstände akustisch zu lokalisieren und später das Klicksonar zu erlernen. Das Klicksonar ist eine Technik, bei der aus dem zurückfallenden Echo eines Zungenklicks ein differenziertes, dreidimensionales Bild der Umgebung im visuellen Cortex des Gehirns der blinden Person generiert wird.12

Durch diese Techniken lässt sich die Bedeutung des Orientierungs- und Mobilitätstrainings folgendermaßen zusammenfassen:

„Mobilität bezeichnet das Potenzial der Beweglichkeit zur Erfüllung von Bedürfnissen — z.B. Beweglichkeit, um Freunde zu treffen, um einzukaufen oder zum Arzt zu kommen. (…) Mobil zu sein ist ein menschliches Grundbedürfnis und gleichzeitig Bedingung sozialer Teilhabe an der Gesellschaft.“ 13

Dies verdeutlicht erneut, dass Bewegung die Bedingung zur Orientierung und Mobilität und somit aktiver Lebensgestaltung ist.

Bewegung wiederum gilt als Basis für Wahrnehmung, da sich erst durch vielfältige und mehrkanalige Erfahrungen ein Bild von der Umgebung gemacht werden kann. Mit dem Aspekt der Wahrnehmung möchte ich mich im folgenden Kapitel auseinandersetzen.

2.3 Wahrnehmung

2.3.1 Traditionelle Sichtweise von Blindheit

In der Wahrnehmungsforschung gilt die visuelle Wahrnehmung als das bislang am besten erforschte Sinnessystem.14 Es wird angenommen, dass über das Auge etwa achtzig Prozent aller Informationen aus unserer Umgebung aufgenommen werden, wodurch das Auge als der „wesentliche informationsgewinnende Sinn“ gesehen wird.15 Somit sei zu schlussfolgern, dass bei einem eingeschränkten oder nicht vorhandenen Sehvermögen die bedeutendste Möglichkeit zur Welterkennung fehle. Eine weitere Sichtweise sei, dass diese Einschränkung nur durch Kognition, Intelligenz und das Gedächtnis zu kompensieren sei sowie primär über den Tastsinn.16

Wie ich bereits beschrieben habe, sind mehrkanalige Erfahrungen notwendig, um die Umwelt zu erkunden. Manifestiert wird diese Annahme in einem Resümee neurowissenschaftlicher Erkenntnisse:

„(…) Konstruktionen beruhen auf Erfahrungen, insofern ist nicht das Sehen-Können, sondern die Vielfalt der Erfahrungen wesentlich für das Begreifen von und die Auseinandersetzung mit der Umwelt.“17

Das impliziert, dass nicht allein der Tastsinn die Einschränkungen bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung kompensiert. Im Folgenden möchte ich mich eingehender mit der akustischen Wahrnehmung und ihrem Einfluss auf Orientierung und Mobilität befassen.

2.3.2 Akustische Wahrnehmung

Die Sensibilisierung aller Sinne gilt als Unterrichtsschwerpunkt des Orientierungs- und Mobilitätstrainings. Genau wie bei den anderen Sinnen muss eine Schulung der akustischen Wahrnehmung stattfinden, da ein Kind mit Blindheit oder Sehbeeinträchtigung nicht automatisch besser hören kann als ein sehendes Kind.18

Unter der akustischen beziehungsweise auditiven Wahrnehmung versteht man die Gesamtheit aller Prozesse des zentralen Nervensystems zur Erfassung, Weiterleitung und Verarbeitung akustischer Signale. Dazu zählen die Analyse sprachlicher Signale sowie die phonologische Bewusstheit. Sie ist die Fähigkeit, „Sprache als aus unterschiedlichen lautlichen Einheiten bestehend wahrzunehmen“19 und zeigt als Bereich der akustischen Wahrnehmung Übergänge zum Sprachverständnis, zur Kognition und zum Lernen auf.20 Weiterhin umfasst die akustische Wahrnehmung die Analyse nichtsprachlicher Signale, wie zum Beispiel Töne und Geräusche.

2.3.2.1 Entwicklungsverlauf und Bedeutung

Auf Geräusche reagiert sowohl ein blindes als auch ein sehendes Kind in den ersten Lebensmonaten gleich. Zunächst hört es passiv zu, später horcht es aktiv.21 Es lernt zu Beginn Geräusche, später Tonhöhen und Rhythmen zu unterscheiden und im weiteren Verlauf akustische Reize zu identifizieren und zu imitieren. Das Kind muss lernen, sich nach Geräuschen im Raum zu orientieren. Indem es lernt, Geräusche zu lokalisieren, entwickeln sich ein Greifraum und die Ohr-Hand-Koordination. Ein wesentlicher Unterschied in der akustischen Entwicklung von sehenden und blinden beziehungsweise sehbeeinträchtigten Kindern besteht darin, dass blinde Kinder sich erst später mit einem akustischen Reiz beschäftigen wollen oder ihn ablehnen. Während ein sehendes Kind bereits im Alter von etwa drei Monaten nach einem Gegenstand greift, den es sieht, beispielsweise einer Spieluhr, greift ein blindes Kind erst mit etwa neun bis zwölf Monaten nach einer Spieluhr. Das rührt daher, dass akustische Informationen allein nicht genügen, um ein Kind zum Greifen beziehungsweise zur Erkundung der Umgebung zu animieren. Ein blindes Kind benötigt zunächst ein Konzept des Gegenstandes, indem es eine Verknüpfung zwischen dem akustisch wahrgenommenen Reiz (Beispiel: Musik) und taktiler Erfahrung herstellt.

Dies impliziert in Hinblick auf das Explorationsverhalten, dass weitere Sinneskanäle angesprochen werden müssen, um einem blinden Kind frühzeitig die Entwicklung eines Gegenstandkonzeptes zu ermöglichen.

Dennoch sind Kinder mit Blindheit und Sehbeeinträchtigung darauf angewiesen, besonders ihre Fernsinne, also den Hör- und Geruchssinn, zu schulen. Die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin Ione Fine von der Universität Washington fasst die Forschungsergebnisse einer physiologischen Studie zur Untersuchung des Hörzentrums bei Blindheit folgendermaßen zusammen:

„Bei Blinden müssen den Tönen allerdings mehr Informationen entnommen werden – und diese Hirnregion entwickelt anscheinend dadurch erweiterte Fähigkeiten. Das ist ein besonders treffendes Beispiel dafür, wie die Entwicklung von Fähigkeiten des frühkindlichen Gehirns von der Umgebung beeinflusst wird, in der die Kinder aufwachsen.“22

Bei der angesprochenen Hirnregion handelt es sich um den visuellen Cortex, in dem, wie ich bereits im Unterkapitel 2.2.3 „Unterrichtsschwerpunkte“ erwähnt habe, unter anderem durch das Klicksonar ein dreidimensionales Bild der Umgebung generiert wird. Die Studie zeigt, dass sich das Hörzentrum der Blindheit anpasst und blinde Menschen eine präzisere und feinere Hörfähigkeit entwickeln.

An welchen Indikatoren die auditive Wahrnehmung gemessen wird, stelle ich im folgenden Unterkapitel dar.

2.3.2.2 Indikatoren

Ein geschultes Gehör ist dazu fähig, Lautstärken, Tonhöhen und Geräusche unterscheiden zu können. Je präziser das Gehör ist, desto besser gelingt es ihm, wichtige von unwichtigen akustischen Zeichen zu differenzieren. Das bedeutet, dass akustische Einzelzeichen, wie beispielsweise eine rufende Stimme, herausgehört werden können. Weiterhin sind gleiche akustische Eigenschaften auditiv wahrnehmbar, zum Beispiel alle tiefen oder hohen Töne. Ein geschultes Gehör ist auch dazu fähig, die Richtungen akustischer Zeichen wahrzunehmen, also Geräusche lokalisieren zu können. Die Fähigkeit, Entfernungen von Geräuschen zu einem selbst einzuschätzen, wird mit dem Begriff Zeit-Raum-Differenzierung beschrieben. Somit ermöglicht eine präzise Hörfähigkeit beispielsweise die Distanz von einem Klingelball einzuschätzen, der aus verschiedenen Entfernungen auf einen zurollt, um ihn im richtigen Moment zu stoppen.

Diese genannten Indikatoren sind bedeutend zur Entwicklung der Ohr-Hand-Koordination und der Raumwahrnehmung.

2.3.3 Raumwahrnehmung

Raumwahrnehmung umfasst die Leistungen der verschiedenen Sinneskanäle. Wesentlich sind die motorische und die kinästhetische Wahrnehmung, die uns durch die Bewegung zu einem Objekt und die daraus erfolgte Muskelanspannung ein Gefühl der zurückgelegten Entfernung vermitteln.23 Es werde „durch Abschätzen von Entfernungen möglich, Objekte im Raum zu lokalisieren und zueinander in räumliche Beziehung zu setzen.

Es entsteht ein adäquat strukturierter Raum, der einen Vergleich zwischen Objekten zulässt“.24

Bedeutend ist auch die akustische Wahrnehmung, die uns Informationen über die Größe, Beschaffenheit und Entfernung des Objekts vermittelt.25 Weitere Informationen zur Raumwahrnehmung liefert die visuelle Wahrnehmung. Durch die fehlende visuelle Wahrnehmung eignen sich blinde Kinder den Raum in einem anderen Prozess an, da die „intermodale Verknüpfung von Sehen und Kinästhetik“ fehlt.26 Das bedeutet, dass die Informationen aus dem kinästhetischen Wahrnehmungsbereich nicht mit den visuellen Informationen verknüpft werden können. Dies hat zur Folge, dass blinde Kinder den Raum durch alltägliche Erfahrungen kennenlernen.

Um sich im Raum orientieren zu können, ist es notwendig, ein Körperschema zu entwickeln. Dadurch erhält man eine Vorstellung vom eigenen Körper, seinem Volumen und seiner Position im Raum. Weiterhin benötigt man ein Verständnis davon, wie sich der eigene Körper zu einem Objekt im Raum verhält und welche Relationen zwischen den Objekten untereinander bestehen.

Dadurch, dass blinde und stark sehbeeinträchtigte Kinder den Raum lediglich anhand eines Modells kennenlernen (vier Seiten, Boden, Decke), erfordert es eine hohe kognitive Transferfähigkeit, diese Informationen für die eigene räumliche Orientierung und das Verständnis räumlicher Beziehungen zu nutzen. Während ein sehendes Kind den Raum, seine eigene Position darin sowie die Objekte mit einem Blick simultan erfassen kann, nimmt ein blindes oder stark sehbeeinträchtigtes Kind diese Dinge sukzessiv, also zeitlich versetzt wahr. Es muss die Informationen, die es nach und nach sammelt, in eine simultane Vorstellung umwandeln, was eine hohe kognitive Leistung erfordert und oftmals überfordernd sein kann.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Zusammenwirken aller Sinnesleistungen das fehlende oder stark eingeschränkte Sehvermögen kompensieren kann. Dies ist möglich, indem die Wahrnehmungsbereiche gefördert werden, vielfältige sinnliche Erfahrungen ermöglicht werden und das Kind zur selbstständigen Exploration seiner Umgebung animiert wird.

Die Ergebnisse der Hirnforschungsstudie hinsichtlich der Anpassung des Hörzentrums an die Blindheit manifestieren meine These und mein Vorhaben, bei den Wahrnehmungsangeboten in meiner Praxiseinrichtung den Schwerpunkt auf akustische Sinnesreize zu legen.

3. Praktische Umsetzung

3.1 Bedingungsanalyse

Die J.-A.-Z.-Schule ist seit 1806 die erste deutsche Blindenschule in Berlin. Beschult werden hier Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ sowie mit Mehrfachbehinderungen von der vorschulischen Betreuung bis zum Abitur in Kooperation mit der benachbarten F.-Oberschule. Den Schülern soll zu „größtmöglicher individueller Unabhängigkeit“27 verholfen werden.

Die ergänzende Förderung und Betreuung der J.-A.-Z.-Schule zielt darauf, die Unterrichtsinhalte mit den individuellen Lernzielen zu verbinden. Die Kinder sollen beim Erlangen von Selbstständigkeit und beim Erwerb von Sozialkompetenzen sowie ihrem Wissenserwerb unterstützt werden und es soll ihnen differenziertes Wahrnehmen und Handeln ermöglicht werden. Dabei gilt es, die individuellen Lebenssituationen und Entwicklungsziele sowie den Bildungsstand und den Förderbedarf zu berücksichtigen. Das Team der ergänzenden Förderung und Betreuung besteht aus Facherzieherinnen, Heilpädagoginnen und Betreuer*innen. Dort sind sechs Erzieherinnen mit langjähriger Berufserfahrung tätig. Zum Schuljahr 2019/2020 kamen zwei neue Erzieherinnen sowie eine Auszubildende im ersten berufsbegleitenden Ausbildungsahr zur Erzieherin dazu. Unterstützt wurde das Team während meiner Praxisphase von drei Erzieherpraktikanten*innen, die ihr Wahlpraktikum im letzten Ausbildungsjahr absolvierten.

3.2 Situationsanalyse

Im Zeitraum meines Praktikums bestand meine Hortgruppe aus sieben Kindern, davon drei Jungen und vier Mädchen, mit verschiedenen Nationalitäten im Alter von sieben bis elf Jahren. Zwei der Kinder sind deutscher Herkunft, wohingegen die anderen Kinder aus Syrien, Saudi-Arabien und Afghanistan stammen, als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, aber sich inzwischen gut auf Deutsch verständigen können.

Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit meinem Facharbeitsthema habe ich mich auf drei Kinder aus meiner Hortgruppe konzentriert.

M. ist ein syrisches Mädchen im Alter von zehn Jahren und in den ersten Kindheitsjahren erblindet. Bei ihr wurde neben der gesetzlichen Blindheit eine beidseitige Vorderabschnittsdysgenesie diagnostiziert. Eine Dysgenesie bezeichnet eine erblich bedingte Fehlbildung eines Organteils28, was bedeutet, dass die erworbene Blindheit von M. darauf zurückzuführen ist. M. hat nahezu kein Restsehvermögen und orientiert sich überwiegend taktil und akustisch mit und ohne Langstock. Trotz ihres Langstocks läuft sie vorzugsweise in Begleitung von sehenden Erwachsenen oder anderen Kindern mit Restsehvermögen. Allein bewältigt sie Wegstrecken eher unsicher und langsam.

H. ist ein achtjähriges Mädchen aus Afghanistan, welches mit ihrer Familie im Alter von drei Jahren nach Deutschland gekommen ist und hier die Diagnose einer Netzhautdystrophie erhalten hat. Darunter versteht man einen erblich bedingten Gendefekt, der sich durch Fehlbildungen am Auge äußert und zur Erblindung von H. geführt hat. Dennoch ist H. dazu in der Lage, bei normalem Tageslicht weißes Licht zu fixieren und zu verfolgen, außerdem erkennt sie stark kontrastreiche Figuren. H. orientiert sich hauptsächlich taktil und akustisch und wendet Schutztechniken an, mit denen sie sich mit Bedacht und Vorsicht orientiert. H. und M. nehmen beide an den Einzelunterrichtsstunden des Orientierungs- und Mobilitätstrainings mit dem Langstock teil.

J. ist ein siebenjähriger Junge aus Afghanistan. Auch er kam vor einigen Jahren als Flüchtling mit seiner Familie nach Deutschland. Er hat eine Fehlbildung am rechten Auge, was zu einer Erblindung geführt hat. Dinge betrachtet er nah vor seinem anderen nahezu gesunden Auge, aber er kann aus der Distanz vieles nicht erfassen. Es gelingt ihm dadurch eher schwer, sich einen Überblick über Gegebenheiten zu verschaffen, wie beispielsweise die Lokalisierung des Mittagessens auf dem Tisch. Sein Restsehvermögen nutzt J. gut zur Orientierung; er ist sehr bewegungsfreudig und geschickt. Beim Fußballspielen zeigen sich bei J. Schwierigkeiten bei der Augen-Fuß-Koordination. Während ihm das Treffen des Klingelfußballs gut gelingt, fällt ihm das Zielen des Balls auf das Tor eher schwer. Bei dem Spielen auf dem Fußballfeld ist das Klingeln des Fußballs unterstützend für J. bei der Orientierung.

3.3 Praktische Durchführung

3.3.1 Erwerb und Festigung basaler Kulturtechniken

Meine ersten praktischen Tätigkeiten führte ich prozessorientiert im Rahmen von alltagsbegleitenden Handlungen und verbalen Anweisungen beziehungsweise Hilfestellungen durch. Im Zeitraum des gesamten Praktikums achtete ich darauf, den Kindern, insbesondere M. und H., durch die regelmäßige Verwendung richtungsweisender Begriffe wie „links“, „rechts“, „geradeaus“, „rückwärts“ basale Kulturtechniken näherzubringen und diese zu festigen. Anfangs unterstützte ich diese Methode durch sanfte, richtungsweisende Berührungen, um den Kindern den Zusammenhang zwischen den basalen Bezeichnungen und der Richtung zu verdeutlichen. Je nach Situation ersetzte ich Berührungen durch akustische Signale aus der entsprechenden Richtung wie zum Beispiel durch Klatschen, den Einsatz meiner Stimme oder durch das Klimpern meines Schlüssels. Weiterhin arbeitete ich mit den Kindern daran, sich nach bestimmten Richtungen 90° (nach links oder rechts), 180° (einmal umdrehen) und 360° (einmal vollständig drehen) auszurichten. Hierfür erhielt ich hilfreiche Methoden von der Mobilitätslehrerin Frau G., mit der ich ein Interview zu O&M durchführte. Sie gab mir den Tipp, dass blinden Kindern Drehungen leichter fallen, wenn sie dabei je eine Vierteldrehung mit ihren Füßen machen. Das heißt, dass sie beispielsweise ihren rechten Fuß nach rechts außen drehen und den linken Fuß daneben stellen und ihren Körper somit möglichst exakt ausrichten. Dies ist besonders wichtig, wenn man Kinder mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit zum Beispiel dazu auffordert, nach rechts zu gehen. Diese Techniken habe ich auch in begleiteter Fortbewegung mit den Kindern geübt, sobald wir die Richtung geändert haben. Hierbei war es wichtig, exakte Drehungen durchzuführen, damit die Kinder ihre Füße nach der O&M-Technik ausrichten und die Richtungsänderung bewusst miterleben. Unklare Richtungsänderungen im Bogen schaffen Verwirrung und Orientierungslosigkeit.

Als weitere Methode zur Unterstützung der Kinder bei der Orientierung erwiesen sich Hinweise zur Bodenstruktur, die je nach Beschaffenheit unterschiedlich klingt. Besonders die blinden Kinder mit dem Langstock erhielten von mir solche Hinweise, um sich auf Wegstrecken besser zurechtzufinden. Ich nutzte möglichst viele 1:1-Situationen, in denen ich mit dem jeweiligen Kind bewusst den Unterschied zwischen den Bodenklängen heraushören und erklären konnte. Das Kind sollte hören lernen, wann es vom Mittelweg abweicht und auf anderem Boden in mögliche Gefahrenbereiche läuft. Das ist besonders im Schulgebäude und auf dem Schulhof wichtig, da Kinder hier häufig vom Weg abweichen und gegen eine Wand oder ins Gebüsch laufen. Weiterhin sollte das Heraushören der verschiedenen Bodenstrukturen trainiert werden, damit die Kinder bei der zukünftigen Bewältigung von Wegstrecken auf Gehwegen oder an Stationen des öffentlichen Nahverkehrs die Übergänge hören und spüren. Da ich hierbei das Ziel verfolgte, dass die Kinder sich bei Wegstrecken konzentrieren und sich nicht auf die Anwesenheit ihrer sehenden Begleiter verlassen, habe ich dies im Vorfeld stets mit den Kindern kommuniziert und die Kinder bewusst nicht gewarnt, wenn sie dabei waren, den Weg zu verlassen und ins Gebüsch zu laufen. Da sie den Langstock als Unterstützung haben, werden dadurch rechtzeitig Gefahren und körperliche Verletzungen verhindert.

[...]


1 Gruber, Hildegard; Hammer, Andrea: Ich sehe anders. Medizinische, psychologische und pädagogische Grundlagen der Blindheit und Sehbehinderung bei Kindern. 2. Auflage, Edition Bentheim, Würzburg, 2002.

2 Vgl. Simm, Michael (2020): Der Sehsinn – (K)ein selbstverständliches Wunder. Im Internet unter: https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/sehen/sehen-kein-selbstverstaendliches-wunder (zuletzt aufgerufen am 03.01.2020).

3 PRO RETINA Deutschland e. V. (2020): Hirnforschung: Blinde Menschen hören präziser - Studie zeigt Hintergründe. Im Internet unter: https://www.pro-retina.de/newsletter/2019/hirnforschung-blinde-menschen-hoeren-praeziser-studie-zeigt-hintergruende (zuletzt aufgerufen am 03.01.2020).

4 Vgl. Onmeda-Ärzteteam (o.V.): Gesichtsfeldausfall. Im Internet unter: https://www.beobachter.ch/gesundheit/symptom/gesichtsfeldausfall (zuletzt aufgerufen am 12.10.2019).

5 Vgl. Praetor Intermedia UG (o.V.) (2013): Bildung | UN-Behindertenrechtskonvention. Im Internet unter: https://www.behindertenrechtskonvention.info/bildung-3907/ (zuletzt aufgerufen am 12.10.2019).

6 Vgl. Walthes, Renate (2014): Einführung in die Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung. 3. überarbeitete Auflage, Ernst Reinhardt Verlag München Basel: UTB, München, S. 177.

7 Vgl. Walthes, 2014, S. 175.

8 Vgl. Walthes, 2014, S. 178.

9 Vgl. Gruber/Hammer, 2000, S. 163.

10 Vgl. Gruber/Hammer, 2000, S. 163.

11 Vgl. Gruber/Hammer, 2000, S. 161.

12 Vgl. Schweizer, Ellen; Zimmermann, Steffen: Klicksonar (aktive bildgebende Echoortung) | Anderes Sehen e.V. zur Förderung blinder Kinder. Im Internet unter: https://www.anderes-sehen.de/akustische-orientierung-mobilitat/aktive-echoortung-flash-sonar/ (zuletzt aufgerufen am 12.10.2019).

13 Schweizer, Ellen; Zimmermann, Steffen: Orientierung & Mobilität | Anderes Sehen e.V. zur Förderung blinder Kinder. Im Internet unter: https://www.anderes-sehen.de/akustische-orientierung-mobilitat/ (zuletzt aufgerufen am 12.10.2019), zitiert nach Hefter, Thomas und Götz, Konrad, Institut für sozial-ökologische Forschung.

14 Vgl. Walthes, 2014, S. 20.

15 Walthes, 2014, S. 25.

16 Vgl. Walthes, 2014, S. 25.

17 Walthes, 2014, S. 49.

18 Vgl. Gruber/Hammer, 2000, S. 114.

19 Arbeitskreis auditive Wahrnehmung Stuttgart (o.V.): Auditive Wahrnehmung. Im Internet unter: http://www.ak-aw.de/auditiveWahrnehmung (zuletzt aufgerufen am 02.12.2019).

20 Vgl. ebd.

21 Vgl. Gruber/Hammer, 2000, S. 114.

22 PRO RETINA Deutschland e. V. (2020): Hirnforschung. Blinde Menschen hören präziser – Studie zeigt Hintergründe. Im Internet unter https://www.pro-retina.de/newsletter/2019/hirnforschung-blinde-menschen-hoeren-praeziser-studie-zeigt-hintergruende (zuletzt aufgerufen am 03.01.2020).

23 Vgl. Gruber/Hammer, 2000, S. 118.

24 Gruber/Hammer, 2000, S. 118, zitiert nach Brand et. al. 1995, S. 54.

25 Vgl. Gruber/Hammer, 2000, S. 118.

26 Gruber/Hammer, 2000, S. 118.

27 Zeune-Schule.de (o.V.): Lernen Sie uns kennen. Im Internet unter: https://www.zeune-schule.de/lernen-sie-uns-kennen/ (zuletzt aufgerufen am 13.02.2020).

28 Vgl. Konradin Medien GmbH; Leinfelden-Echterdingen (2020): Dysgenesie. Aus dem Gesundheitslexikon. Im Internet unter: https://www.wissen.de/medizin/dysgenesie (zuletzt aufgerufen am 12.02.2020).

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Förderung der Orientierung und Mobilität bei Kindern im Grundschulalter mit Förderbedarf im Bereich "Sehen" durch Wahrnehmungsangebote
Untertitel
Akustische Sinnesreize sind besonders wirksam zur Förderung der Orientierung und Mobilität bei Kindern mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit
Note
0,7
Autor
Jahr
2020
Seiten
45
Katalognummer
V542738
ISBN (eBook)
9783346218254
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Blindheit, Sehbeeinträchtigung, Sehen, O&M, Orientierung, Mobilität
Arbeit zitieren
Linda Welschinger (Autor:in), 2020, Förderung der Orientierung und Mobilität bei Kindern im Grundschulalter mit Förderbedarf im Bereich "Sehen" durch Wahrnehmungsangebote, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/542738

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