Literarische Bezüge in "Lucía y el sexo". Realismo mágico und Surrealismus in Julio Medems Werk


Hausarbeit, 2016

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Zielsetzung der Hausarbeit

2. Realismo Mágico
2.1 Begriffserklärung
2.2 Realismo Mágico in Lucía y el sexo
2.2.1 Narration
2.2.2 Mise-en-scène
2.2.3 Kamera und Montage

3. Surrealismus
3.1 Begriffserklärung
3.2 Surrealistische Bezüge im vorliegenden Film
3.2.1 Narration
3.2.2 Mise-en-scène
3.2.3 Kamera und Montage

4. Fazit

5. Bibliographie

6. Filmographie

1. Zielsetzung der Hausarbeit

Julio Medem – einer der bekanntesten zeitgenössischen Regisseure Spaniens – zeichnet sich als Filmemacher durch eine spezielle Handschrift aus, für welche vor allem ein hohes Maß an Autoreferenzialität und Medienreflexivität konstitutiv ist. Nicht nur der autobiographische Hintergrund Medems, die immer wiederkehrenden Motive und Thematiken seines Kinos sowie tiefgehende Gedanken zum filmischen Medium werden dabei reflektiert, sondern auch das Medium der Literatur hat eine starke – sowohl explizite, als auch implizite – Präsenz in seinem Werk. Bereits die Biographie des Regisseurs macht diese Tatsache deutlich, da sich Medem schon immer intensiv mit LiteraturundFilm auseinandergesetzt hat und deshalb auch selbst schreibt. „So lehnte es Medem bisher auch immer ab, ein fremdes Drehbuch zu verfilmen, und bezeichnet sich selbst häufig eher als Drehbuchautor denn als Regisseur.“ (Bochnig 2005: 18).

Besonders inLucía y el sexo(Julio Medem, ES 2001), mit dem er endgültig internationale Aufmerksamkeit erlangte, nimmt Literarizität durch die Rolle des Schriftstellers Lorenzo, den Einfluss seines Schreibens auf den gesamten Verlauf des Films und die damit einhergehende Vermischung von Fiktion/Literatur und 'Realität' eine wesentliche, reflexive Funktion ein. Medem sieht dabei das Sujet der Sexualität stark verwoben mit dieser literarischen Thematik:

Die Grundlage für die spätere (sexuelle) Beziehung zwischen den Figuren bildet somit das intime Verhältnis zwischen Leser und Autor, das Medem wie folgt beschreibt: '[D]ie Beeinflusste und der Beeinflussende oder die Realität und die Fiktion… In der Beziehung zwischen dem, der Fiktion erschafft und dem, der sie emp- fängt, besteht einem Abkommen gleich ein extrem enges Intimitätsverhältnis.'. (Bochnig 2005: 76–77)

Lucía y el sexoist nicht nur deshalb von besonderem Interesse, da er sich explizit mit dem Thema der Schriftlichkeit beschäftigt, sondern auch, da er die Komplexität der vorangehenden Werke noch steigert und viele bisher verwendeten filmischen Motive in gewisser Weise in sich vereint.

Die Verschränkung von Film und Literatur inLucía y el sexosoll hinsichtlich zweier literarischer Strömungen genauer untersucht werden, die besonders oft in einem Atemzug mit Medems Filmen genannt werden, deren Unterscheidung in vielen Schriften zu seinem Oeuvre meist jedoch nicht eindeutig ist oder gar nicht stattfindet. Es handelt sich um denRealismo Mágicound den Surrealismus, die beide als zentrale Tendenzen die spanischsprachige Literaturgeschichte geprägt haben.

Ziel dieser Hausarbeit ist es, herauszufinden, inwiefern Medems Werk Analogien zu diesen Strömungen aufweist und folglich festzustellen, ob es sich lediglich um Parallelen bzw. referentielle Bezüge handelt oder ob dabei eine Analogie besonders hervorsticht. Dazu sollen beide Begriffe

erklärt, für den Rahmen dieser Arbeit eingegrenzt und voneinander unterschieden werden, um vor diesem Hintergrund am Beispiel vonLucía y el sexoliterarische Referenzen bezüglich beider Gattungen aufzuzeigen.

2. Realismo Mágico

2.1 Begriffserklärung

Der Begriff des Magischen Realismus lässt sich auf das 1925 durch den Kunstkritiker Franz Roh veröffentlichte Buch über den deutschen Post-Expressionismus zurückverfolgen und wurde ungefähr 20 Jahre später durch den venezolanischen Schriftsteller Arturo Uslar Pietri im Kontext der spanischsprachigen Literatur übernommen (vgl. Llarena 1997: 22 f.). Schließlich entwickelte sich der Realismo Mágico in Lateinamerika in eine spezifische Richtung, die nicht mehr viel mit dem europäischen Vorreiter gemeinsam hat (vgl. Scheffel 1990: 60) und sich zunehmend als iberoamerikanischer Ausdruck kultureller Identität manifestierte, wobei auch einige spanische und angelsächsische Werke den Stilistiken dieser literarischen Gattung entsprechen (vgl. Cascón Becerra o.J.: 116 f.). In dieser Arbeit wird – aufgrund der Fokussierung auf die spanischsprachige Literatur – der BegriffRealismo Mágicoverwendet. Cascón Becerra weist in seinem Artikel über das Verhältnis zwischen dem Realismo Mágico und dem spanischsprachigen Kino auf die „dificultad para definir un término que abarca el arte, la literatura y el cine“ (Cascón Becerra o.J.:

113) hin, die sich auch in den unzähligen Versuchen der (Literatur-)Wissenschaft widerspiegelt, den Realismo Mágico theoretisch greifbar zu machen.1Eine zunächst oft unklare Unterscheidung ist die Abgrenzung des Realismo Mágico zum Realismo Fantástico oder schlichtweg zum Fantastischen.

Si bien lo fantástico y el Realismo Mágico nos hablan de dos planos de la realidad, lo natural y lo sobrenatural, lo racional y lo irracional, en el Realismo Mágico cambia la forma en que ambos planos se relacionan entre sí, del modo que dentro del Realismo Mágico hay una especial armonía entre ambos. (Cascón Becerra o.J.: 115)

Wie durch diese Erklärung anklingt, handelt es sich vereinfacht beim Realismo Mágico nicht um die Konstruktion einer magischen Fantasiewelt, sondern das Magische wird als Teil der realen Welt selbst verstanden. Gerade diese Harmonie kann bereits als Ausgangspunkt für die in diesem Rahmen wichtigste Abgrenzung gesehen werden, d.h., die begriffliche Trennung von Realismo Mágico und Surrealismo, die im dritten Kapitel durch die Definition des Surrealismus präzisiert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, soll hier auf genauere literaturhistorische Hintergründe über die Entstehung dieser Strömung verzichtet werden. Der Schwerpunkt liegt auf einer knappen Begriffserklärung und

-abgrenzung, durch die die wichtigsten bzw. meist genannten Charakteristika ersichtlich werden, die sowohl auf die Literatur als auch auf den Film bezogen werden können.

wird.

Cascón Becerra (o.J.: 115 f.) zählt in seinem Artikel die wichtigsten Merkmale auf, die sowohl für den Realismo Mágico in der Literatur als auch für das Kino charakteristisch sind und die im Folgenden von ihm übernommen werden. Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei einem dieser Aspekte um magische – oder als magisch wahrgenommene – Elemente, welche innerhalb der Diegese nie erklärt werden und folglich eher intuitiver Natur sind. Das (Über-)Sinnliche ist damit Teil der Realitätswahrnehmung und steht nicht mit ihr im Konflikt oder Kontrast. Aus alltäglichen und gewöhnlichen Situationen können so auch metaphysische bzw. magische Erfahrungen hervorgehen. Ein weiteres Merkmal ist die Deformierung von Zeit und eine zyklische, nicht lineare Zeitwahrnehmung, wodurch sich die Gegenwart häufig wiederholt oder der Vergangenheit ähnelt. Nicht nur die Zeit-, sondern auch die Raumwahrnehmung gehört zu den erwähnenswerten Charakteristika. Der Raum wird oft als „mínimo y vital“ (Cascón Becerra o.J.: 116) beschrieben und dynamisiert die Handlung wie eine Art Antriebsfaktor. Er wird dabei nicht extern, sondern durch eine meist interne Fokalisierung wahrgenommen. Außerdem sind die Reisen der Protagonisten hier meist nicht physischer Natur, sondern Raum und Zeit verändern sich in ihren Gedanken oder Traumzuständen, was auch mit der Begrenztheit des Raumes übereinstimmt (vgl. Cascón Becerra o.J.: 116).

Davon abgesehen ist die Identifizierung mit der lateinamerikanischen Identität fernab vom europäischen Kontext ebenfalls ein wichtiges Kennzeichen, welches auch die Tatsache begründet, dass der Realismo Mágico trotz seiner europäischen 'Wurzeln' oft als genuin iberoamerikanische Literaturströmung beschrieben wurde (vgl. Llarena 1997: 24 f.). Diemestizajewird passend zum literaturhistorischen Hintergrund, der das literarische Vorbild aus Europa nach Südamerika überträgt, selbst zum kulturellen Wesen dieser Gattung. Die prähispanischen Mythologien und Weltbilder, die das Magische per se als Teil der Realität implizieren, sind demnach auch signifikante Thematiken im Realismo Mágico (vgl. Cascón Becerra o.J.: 115).

2.2 Realismo Mágico in Lucía y el sexo

2.2.1 Narration

Die Option, die Lorenzo in sein Buch einbaut – und Julio Medem in seinen Film – und die ein zyklisches Moment der Narration ausmacht, ist das Springen in Löcher, durch welches den Protagonisten die Möglichkeit 'gegeben' wird, den Verlauf der Geschichte zu verändern, indem sie ab der Mitte neu beginnen. Diese Eigenschaft erinnert nicht nur an die Zirkularität in der Literatur

des Realismo Mágico, sondern ist auch eine von zahlreichen Reflexionen der Filmgeschichte, da andere populäre Filme wie beispielsweiseLola rennt(Tom Tykwer, DE 1998) ebenfalls mit einer ähnlichen Option, die Diegese zu verändern, spielen. Abgesehen von der dadurch entstehenden Zirkularität handelt es sich bei diesem Umstand zweifellos um ein magisches Element, welches innerhalb der Figurenwelt akzeptiert und nicht hinterfragt wird, was ebenfalls typisch für den Realismo Mágico ist. Überdies „fällt schließlich auch der Film […] am Ende in ein Loch und taucht wieder mitten in der eigenen Geschichte auf“ (Bochnig 2005: 84 f.), was den zirkulären Charakter und damit auch die Assoziation des Realismo Mágico gleichsam doppelt reflektiert.

Generell spricht auch die zunehmende, zeitlich-narratologische Non-Linearität im Film für einen Vergleich zum Realismo Mágico. Durch die zyklische Natur der Geschichte und die Abwesenheit einer chronologischen Zeitlichkeit wird die filmische Zeit ebenfalls eher als zyklisch wahrgenommen und klassische Dichotomien wie Zukunft und Vergangenheit relativieren oder gleichen sich gegenseitig, wie es – wie bereits erwähnt – in der Literatur des Realismo Mágico oft zu beobachten ist. So wird beispielsweise der totgeglaubte Lorenzo, eventuell durch Lucías Fallen in ein Loch, wieder 'zum Leben erweckt', bzw. wird nun klar, dass Lorenzo den schweren Unfall überlebt hat, was Lucía nicht ahnt, da sie den Polizisten zu Beginn des Films am Telefon nicht ausreden lässt und wir somit nicht erfahren, welche Information er ihr tatsächlich vermittelt. Auch die Parallelen zwischen dem Ursprung und dem vermeintlichen Ende der Geschichte lassen auf diese Relativierung und Zirkularität schließen. „Während die Geschichte also – chronologisch betrachtet – mit der Zeugung von Luna auf der Insel beginnt, kehrt sie mit Lucías Flucht auf die Insel wieder an ihren Ursprungsort zurück“ (Bochnig 2005: 74). Diese Tatsache entspricht der Aussage aller Filme von Medem, dass ein Ende gleichzeitig auch ein neuer Anfang ist und umgekehrt, wodurch eine lineare Auffassung von Zeit keinerlei Gültigkeit erlangt (vgl. Bochnig 2005: 87).

Ein weiteres Zeichen für diese Relativierung ist die permanente Verschränkung von Realität und Imagination im Schreiben Lorenzos, durch welche ein Schwebezustand zwischen diesen beiden Polen erreicht wird. Durch diesen Umstand lässt sich nicht mehr eindeutig erkennen, ob Lorenzo die Ereignisse niederschreibt, die ihm zuvor tatsächlich widerfahren sind, seit er von seiner Tochter weiß, oder ob die Dinge passieren,weiler sie niedergeschrieben hat – genauso wenig lässt sich eindeutig sagen, was lediglich in seiner Fantasie und was tatsächlich geschieht.

Dieses Vermischen von filmischer Realität und Fantasie erinnert auch an eine „realidad que es síntesis de dos mundos separados pero no enfrentados“ (Cascón Becerra o.J.: 115), wie es in Bezug

auf den Realismo Mágico formuliert wird. Jedoch ist fraglich, ob sich diese Synthese mit dem zunehmenden Ineinanderfließen beider Ebenen nicht doch in eine eher surrealistisch anmutende Dominanz des Imaginären oder Traumartigen entwickelt, wie im nächsten Kapitel ausgeführt wird. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als handele es sich in der Tat um eine physische Reise vom urbanen Raum Madrids auf die Insel, kann man folglich nie mit Sicherheit wissen, ob diese Geschehnisse wirklich stattfinden, oder ob sich nicht doch alles nur auf mentaler Ebene, also in Lorenzos Gedanken, abspielt und seinem Buch entspringt. Dass es hierbei nicht um eine physische, sondern ausschließlich um eine mentale Reise geht, wie es oft zum Realismo Mágico konstatiert wird, lässt sich jedoch nicht mit Gewissheit bestätigen. Mit dem Aspekt des minimalen Raumes könnte man das Geschehen in jedem Fall in Verbindung bringen, zumal sich die Sequenzen in Madrid auf wenige Orte beschränken und eine Insel, die hier zudem als intim-familiärer Ort inszeniert wird, per se immer einen begrenzten Raum darstellt. Auch die zirkuläre Bewegung der Protagonisten, die immer wieder zum Ausgangspunkt der Geschichte zurückzuführen scheint, da sie auf der Flucht vor der Vergangenheit mit genau dieser konfrontiert werden, suggeriert die Idee, dass diese die einzig mögliche Raumbewegung ist und bestätigt im weiteren Sinne dieses Prinzip der Begrenztheit ebenfalls. Darüber hinaus scheint der 'Raum' tatsächlich eine lebensnotwendige oder zumindest einflussreiche Dynamik zu besitzen, da die Insel als Schauplatz beispielsweise permanent mit den Vorgängen in Zusammenhang gebracht wird, zur Zugkraft für Lucías Flucht wird und letztendlich den Raum für das Verständnis der Ereignisse und die Zusammenführung der Protagonisten bietet. Im Kontrast dazu fungiert die Stadt als urbanes Setting für hauptsächlich negative Ereignisse und Gefühle2, während die Insel ausschließlich positive Wirkung auf die Geschichte ausübt.3Generell wird die Insel nicht nur implizit, sondern auch explizit sowohl durch Carlos, als auch durch Lorenzo als magischer Ort beschrieben (vgl. TC 00:39:00; TC 01:06:53). Dies wird auch auf Tonebene unterstrichen, indem beispielsweise zu Beginn des Films dissonante Töne mit beunruhigender Wirkung als Hintergrundmusik eingesetzt werden, welche mit der ersten Weißblende erlischt, die die Ankunft auf der Insel und damit den Ortswechsel markiert. So lässt sich in der Tat der Eindruck gewinnen, dass der Aspekt des Raumes mehr als nur ein passiver Hintergrundfaktor ist, wie es auch im Hinblick auf den Realismo Mágico geschildert wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2 Ausnahme bildet hier der Flashback über das Kennenlernen und die Liebe zwischen Lucía und Lorenzo, was ebenfalls in Madrid stattfand und positiv konnotiert ist.
3 Lorenzo erzählt Luna zwar von einer imaginären Insel, die jedoch einige Parallelen zur im Film gezeigten Insel aufweist, z.B. durch die Löcher, von denen er spricht.

Medem beschreibt die im Film namenlose Insel als einen Ort voller Magie: die Insel hat keine Verbindung zum Meeresgrund, weshalb sie bei starkem Seegang schwankt wie der Boden eines Schiffes. Das Meer zwischen Festland und Insel kann dabei als eine Art Grenze angesehen werden, hinter der alles Negative und Belastende zurückbleibt. (Bochnig 2005: 83)

Genauso wenig wie die Funktion der Löcher innerhalb der Geschichte werden diese Eigenarten der Insel, geschweige denn ihr Name, und ihre Auswirkung auf die Bewohner hinterfragt. Ihre metaphysische/magische Typisierung wird also wie im Realismo Mágico als natürlich hingenommen.

In Bezug auf den Ton als filmisches Parameter ist vor allem das LiedUn rayo de solzu erwähnen, da es das Geschehen gewissermaßen doppelt kreisförmig begleitet, zumal es einerseits in mehreren Situationen von Lucía gesungen oder gesummt wird und außerdem das Symbol der Sonne bereits im Namen trägt (vgl. Strigl 2007: 204). Zum ersten Mal singt Lucía das Lied in der Dusche, nachdem sie Lorenzo kennengelernt hat (vgl. TC 00.24:45). Beim zweiten Mal steht sie singend am Fenster, während Lorenzo am Computer seine neue Geschichte schreibt, wobei ihr Gesicht durch das helle Sonnenlicht kaum noch zu sehen ist (vgl. TC 00:36:06). Beim dritten Mal hört man sie das Lied zuerst aus dem Off singen, während sie den Sonnenuntergang aus ihrem Zimmer in Elenas Gästehaus erblickt (vgl. TC 00:42:32). Gleichzeitig fungiert dieser Gesang als Übergang zur nächsten Einstellung, in der sie nun in Elenas Küche steht – ebenfalls am Fenster – und singend im Bild zu sehen ist. Auch hier wird ihr Gesicht hell beleuchtet und auch hier setzt sich Elena an den Computer und schreibt in ihrem Blog über Lucías Gesang, was eine klare Parallele zur zweiten Szene bildet, in der Lucía dieses Lied singt, während Lorenzo schreibt. Diese Analogien auf narrativer Ebene akzentuieren die Zirkularität als elementare Eigenschaft der Geschichte und inszenieren zugleich Lucía als eine Art Inspirationsquelle für das Schreiben beider Protagonisten. Der TerminusUn rayo de solin Assoziation mit dem Namen Lucía, der – abgeleitet vom Verblucir

– für scheinen oder leuchten steht, bekräftigt diese Interpretationsmöglichkeit und verbindet die Protagonistin direkt mit dem Symbol der Sonne, welches im nächsten Kapitel genauer erläutert wird. Am Ende des Films wird das Lied erneut von Lucía gesummt, als sie zusammen mit Lorenzo glücklich am Fenster im Sonnenlicht steht (vgl. TC 01:59:51).

Auch auf Dialogebene finden sich zahlreiche Wiederholungen, die der zyklischen Struktur entsprechen. So macht Elena Lucía darauf aufmerksam, sie sei „la mejor cocinera de la isla“ (TC 00:42:03), was daran erinnert, dass sie Lorenzo Jahre zuvor – also im ersten Flashback – erzählt hat, sie sei „una de las mejores Paelleras de todo el Mediterráneo (TC 00:13:45). Eine solche Wiederholung lässt sich auch beobachten, als Elena Lucía die ausgedruckte Erzählung zeigt, die ihr

noch unbekannter Chatpartner – Lorenzo – zur Konsolation für sie verfasst hat (vgl. TC 01:19:57). Elena wiederholt vor Lucía teilweise die gleichen Worte, mit denen ihr Lorenzo die Erzähung erklärt hat: „Es un cuento lleno de ventajas porque al final habrá un agujero, por donde te puedas escapar hasta la mitad del cuento, para cambiarte el rumbo“ (TC 01:38:55). Am Ende des Films werden Lorenzos Worte erneut durch ein Voice-Over wiederholt, wobei der Film selbst zur Mitte zurückgekehrt zu sein scheint, zu einem Zeitpunkt, an dem alle Figuren glücklich sind (vgl. TC 01:58:50). Die Wiederholungen unterstreichen also nicht nur die komplexe Verbindung der einzelnen Figuren zueinander, sondern auch das zirkuläre Ineinanderfließen der Erzählebenen.

Auch wenn die Geschichte des vorliegenden Films selbst sehr wenig mitCien años de soledadvon García Márquezeinem der berühmtesten Werke des Realismo Mágico – gemeinsam hat, lässt sich generell in der Verknüpfung von alltäglichen und übersinnlichen Elementen sowie in der zyklischen Wahrnehmung eine grundlegende, strukturelle Gemeinsamkeit erkennen: „Es scheint […] als ob sich die Zeit im Kreise drehe. Charaktereigenschaften und Ereignisse, die bereits aufgetreten sind, stellen sich erneut ein“ (Meyer-Minnemann 2012: 303).

2.2.2 Mise-en-scène

Die zyklische Zeitwahrnehmung findet sich auch in signifikanten Symbolen der Mise-en-scène wieder, dazu zählen insbesondere die Sonne und der Mond. Beide Sinnbilder sind für Medem typische, bedeutungsgeladene Leitmotive, die sein gesamtes Œuvre durchziehen, wodurch sich auf doppelter Ebene ein 'Kreislauf' ergibt, d.h., sowohl innerhalb vonLucía y el sexoim Speziellen als auch innerhalb von Medems Gesamtwerk. In Bezug auf den vorliegenden Film lässt sich eine Vielzahl von Bedeutungen dieser beiden Symbole erkennen. Rein geometrisch betrachtet handelt es sich bei beiden Motiven – wie auch bei den narrativ bedeutsamen Löchern – um eine Kreisform, da die Sonne per se eine runde Erscheinungsform hat und der Mond nie als Sichel oder Halbkreis, sondern immer im Zustand des Vollmonds auftritt, was bereits auf eine zeitliche Gleichmäßigkeit im Sinne eines Zyklus hinweist. Auf interpretatorischer Ebene kann man ebenso postulieren, dass beide Phänomene abwechselnd für den Tagesrhythmus verantwortlich sind und somit buchstäblich den Kreislauf der Zeit darstellen. Das sieht man unter anderem in der Szene, in der kurz vor Sonnenuntergang sowohl die Sonne als auch der Mond am Himmel zu sehen sind, der die Sonne ablösen wird, weshalb Lucía noch einmal tief durchatmet und die Sonne fokussiert (vgl. TC 00:08:17–00:08:35). Durch den bereits erwähnten Kontrast der nächtlichen Ereignisse und derjenigen, die von Sonnenlicht begleitet werden, besonders von dem extrem hellen Sonnenlicht auf

der Insel, gewinnen beide Faktoren durch den Schein des Einwirkens auf die Geschehnisse eine magische Reminiszenz. Wie bereits im Hinblick auf die Narration angedeutet wurde, hat Lucía sowohl hinsichtlich ihres Namens, als auch in Bezug auf die Bildebene eine besondere Verbindung zum Symbol der Sonne, zum Beispiel wendet sie sich mehrmals vom Mond zur Sonne hin ab, auch wenn es sich nur um eine aufgemalte Sonne auf ihrer Nachttischlampe handelt (vgl. TC 00:08:30; TC 00:08:44). Zudem erfährt man durch einen Dialog mit Carlos ihre Vorliebe für Sonnenlicht gegenüber der Dunkelheit, wobei hier die Dunkelheit unter Wasser gemeint ist: „Es que yo prefiero el aire...el aire libre y el sol“ (TC 00:38:23). Diese Szenen deuten darauf hin, dass die Sonne eher für die Gegenwart und der Mond für die Vergangenheit stehen könnte, von der sich Lucía gerne abwenden möchte (vgl. Bochnig 2005: 83). Außerdem wird die Protagonistin meist in traurigen Momenten vom Mond begleitet (vgl. TC 01:41:15; TC 00:05:58), wohingegen die Sonne als Symbol der Hoffnung eingesetzt wird. „Der Mond kann darüber hinaus auch als eine Art unsichtbare Kraft angesehen werden, welche die Figuren zusammenhält und ihr Schicksal bestimmt“ (Bochnig 2005: 84), da er nicht nur alle Protagonisten begleitet, sondern auch auf signifikante Weise mit den Geschehnissen in Verbindung steht. Ausgangspunkt hierfür ist die Vollmondnacht, in der Elena und Lorenzo ihre Tochter Luna zeugen, von der Lorenzo erst Jahre später erfahren soll, wodurch die Kehrtwende der Geschichte und der Beziehung zu Lucía ihren Lauf nimmt. Bezeichnend ist auch der Name der Tochter, die nicht nur explizit nach dem Mond, sondern damit auch als symbolisches Komplementärstück zu ihrem Vater benannt ist, daLunaMond undLorenzoumgangssprachlich Sonne bedeutet. Gerade dadurch, dass dem Vollmond eine entscheidende Bedeutung für den Anfang der Geschichte beigemessen wird, kündigt sich in diesem Symbol der zirkuläre Charakter des gesamten Films bereits wie eine Mise en abyme an. Die sich abwechselnde Präsenz beider Symbole durch die gesamte Geschichte hinweg entspricht dem Ineinanderfließen von Vergangenheit und Zukunft im Realismo Mágico, da der Mond immer wiederkehrt, so wie die Figuren schließlich auch von der Vergangenheit eingeholt werden bzw. sich dieser stellen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Auch zahlreiche Spiegelungen prägen den vorliegenden Film und lassen sich mit Borges als Vorreiter des Realismo Mágico assoziieren, bei dem Spiegelungen – vor allem im Sinne einer Mise en abyme – eine wichtige Rolle spielen.4Zum Beispiel in El Aleph, einer seiner erfolgreichsten Erzählungen, handelt es sich um das Faszinosum der Unendlichkeit des Universums als magisches,

4 Da das Werk von Borges von vielen verschiedenen Einflüssen geprägt ist und oft über seine vollständige Zugehörigkeit zum Realismo Mágico debattiert wird, wenngleich seine Bedeutung in diesem Zusammenhang dennoch oft hervorgehoben wird, soll in diesem Rahmen von Borges alsVorreitergesprochen werden, wohingegen García Márquez als exemplarischer Vertreter der Strömung thematisiert wird.

unerklärliches Element der Realität, welches gewissermaßen durch unendliche Spiegelungen eines Punktes dargestellt wird (vgl. Borges 1998). Borges thematisiert demnach nicht nur Spiegelungen im wörtlichen5, sondern auch im übertragenen Sinne, wobei man Widerspiegelungen eines Sachverhaltes immer auch als Teil einer zyklischen Weltsicht begreifen kann.

Lucía spiegelt sich beispielsweise auf dem Weg von Madrid auf die Insel im Zugfenster, wodurch sich ihr Abbild mit dem Sonnenaufgang überschneidet (vgl. TC 00:07:13), was den positiven Einfluss der Sonne auf die Protagonistin und die Verbundenheit zu diesem magisch erscheinenden Naturphänomen bildlich ausdrückt. Außerdem spiegelt sie sich nackt im schwarzen Bildschirm auf Lorenzos Computer, was nahelegt, dass sie und die körperlich-sexuelle Beziehung zu ihr eine Inspiration für Lorenzos Schaffen darstellen, zumal der Bildschirm zu diesem Zeitpunkt noch schwarz ist (vgl. TC 00:24:32). Im Weiteren spiegeln sich Lorenzo und Lucía ebenfalls in diesem Bildschirm auf den Buchstaben seines neuen Romans, was sie bildlich zum Teil dieses Texts werden lässt und wodurch auch die voranschreitende Vermischung von Lorenzos Fantasie und Realität suggeriert wird, zumal die Protagonistin seines Textes vorgibt, aus Malta zu sein, wie Lucía kurz nach ihrer Ankunft auf der Insel (vgl. TC 00:35:52; TC 00:10:15). Auch Elena spiegelt sich in dem Bildschirm ihres Computers in der Szene, in der sie in ihrem Forum über „Lucía, un rayo de sol“ (TC 00:43:12) schreibt, wodurch die im vorangehenden Kapitel bezüglich Lucías Gesangs erwähnten Parallelen beider Szenen erweitert werden und die Verbindung der Geschichten von Elena und Lucía bereits in dieser Spiegelung verbildlicht wird. Beachtet man das Detail, dass der erste Teil von Medems Drehbuch zum vorliegenden Film zunächst den TitelLucía, un rayo de soltrug (vgl. Medem 2001: 2 f.), erhält diese Spiegelung eine noch konkretere Bedeutung, da sie Elena als Teil dieser Fiktion und gleichzeitig als Verfasserin des Titels reflektiert und damit ebenfalls die Grenzen zwischen filmischer Realität und Imagination, Autor und Leser hinterfragt, was wiederum die zyklische Struktur des Films bestätigt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Literarische Bezüge in "Lucía y el sexo". Realismo mágico und Surrealismus in Julio Medems Werk
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
24
Katalognummer
V541855
ISBN (eBook)
9783346159588
ISBN (Buch)
9783346159595
Sprache
Deutsch
Schlagworte
bezüge, julio, literarische, lucía, medems, realismo, surrealismus, werk
Arbeit zitieren
Janina Isabel Weida (Autor:in), 2016, Literarische Bezüge in "Lucía y el sexo". Realismo mágico und Surrealismus in Julio Medems Werk, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/541855

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