Vermeidung von Präsentismus und Pandemieplanung im Unternehmen. Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter schützen und gleichzeitig Personalausfälle verringern


Fachbuch, 2020

104 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Abstract

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Präsentismus
2.1 Definitionen und Abgrenzung
2.2 Forschungsstand
2.3 Entwicklung der Fragestellung (Verhalten im Krankheitsfall)

3 Betriebliche Pandemieplanung
3.1 Definitionen und Abgrenzung
3.2 Forschungsstand
3.3 Präzisierung der Fragestellung (Verhalten bei Pandemie)

4 Methode

5 Ergebnisse
5.1 Präsentismus als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses bei Krankheit
5.2 Entscheidungsverhalten bei Influenzapandemie

6 Diskussion und Interpretation
6.1 Der Präsentismus in den Zeiten einer Pandemie
6.2 Thesenorientierte Einschätzung der Ergebnisse zur Einflussnahme
6.3 Ausblick und Empfehlung

7 Fazit
7.1 Handlungsbedarf
7.2 Forschungsbedarf

8 Literaturverzeichnis

9 Anlage

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Zusammenfassung

Beschäftigte, die trotz Erkrankung der Arbeit nachgehen, gefährden mitunter ihre Gesundheit und die ihrer Kollegen, aber auch das Betriebsgeschehen. Dieses als „Präsentismus“ bezeichnete Verhalten sollte betrieblich durch Prävention und Intervention vermieden werden. In den Zeiten einer Pandemie indes gilt es, unter dem Druck hoher Personalausfälle, die Arbeitsbereitschaft der Beschäftigten zu erhöhen. Ziel dieser Arbeit ist es, zu ermitteln, in welchem Verhältnis die Möglichkeiten der betrieblichen Einflussnahme auf das Entscheidungsverhalten von Beschäftigten bei Krankheit zu einer Einflussnahme auf die voraussichtliche Arbeitsbereitschaft bei Pandemie stehen und ob ein Zielkonflikt besteht. Hierfür wurde auf Grundlage bestehender Reviews eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Es kann ermittelt werden, dass eine Vielzahl von Faktoren und Barrieren Präsentismus und Arbeitsbereitschaft beeinflussen. Arbeitsbezogene Faktoren, eine häusliche Betreuungserfordernis, der individuelle Gesundheitszustand sowie die jeweilige Gesundheitskompetenz stechen dabei in ihrer Bedeutung hervor. Weitere Forschung ist nötig, um die Wirkung verhaltensbeeinflussender Interventionen zu prüfen. Im Ergebnis der Gegenüberstellung aller Faktoren ist aber bereits festzuhalten, dass Präsentismus vermieden und die voraussichtliche Arbeitsbereitschaft im Pandemiefall erhöht werden kann. Zwischen beiden Zielsetzungen existieren keine erkennbaren Zielkonflikte, sondern Synergiepotenziale, die eine betriebliche Pandemieplanung ergänzen können. Dennoch müssen hohe Personalausfälle eingeplant und Anstrengungen unternommen werden, das Potenzial der „Unentschlossenen“ zu einer grundsätzlichen Arbeitsbereitschaft hin zu entwickeln. Eine achtsame Unternehmenskultur, die auch für eine Bindung der Beschäftigten sorgt, kann diese Vorhaben unterstützen.

Wenn bei bestimmten Begriffen, die sich auf Personengruppen beziehen, nur die männliche Form gewählt wurde, so ist dies nicht geschlechtsspezifisch gemeint, sondern geschah ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.

Abstract

Employees who go to work while ill endanger not only their own health and that of their colleagues, but also the orderly and efficient running of their company or business. Prevention and intervention should be used in companies to prevent this phenomenon, known as presenteeism. During a pandemic, it is important to raise employees’willingness to work in the face of the pressure caused by high rates of absenteeism due to sickness. The purpose of this thesis is to determine what relationship exists between, on the one hand, a company’s possible means of influencing the decision-making behaviour of its employees in the event of illness and, on the other hand, influencing their probable willingness to work in the event of a pandemic—and whether there is a conflict of interests. To this end, systematic literature research on the basis of existing reviews was carried out. It emerges that a multiplicity of factors and barriers influence presenteeism and the willingness to work. Work-related factors, the need to care for a dependant at home, an individual’s general state of health and respective health literacy all play a prominent role. Further research is required to investigate the effect of behaviour-influencing intervention measures. However, following a comparison of all the factors under consideration, it can be concluded that it is possible to prevent presenteeism and increase employees’probable willingness to work in the event of a pandemic. There are no perceptible conflicts of interests between the two objectives, but rather potential synergy effects that can complement a company’s pandemic planning. However, it is necessary to plan for high staff shortages and make an effort to develop the potential of the“undecided” towards a general willingness to work. A corporate culture of care and attentiveness, which also promotes employee loyalty, can serve to support this effort.

Abkürzungsverzeichnis

BAG Bundesamt für Gesundheit (Schweiz: Anm. d. Verf.)

BAuA Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin

BBK Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe

BIBB Bundesinstitut für Berufsbildung

DAK Deutsche Angestellten-Krankenkasse

DGB Deutscher Gewerkschaftsbund

EPPM Extended Parallel Process Model

GKV Gesetzliche Krankenversicherung

GMK Gesundheitsministerkonferenz der Länder

GMP engl.: good manufacturing practice

H1N1 Subtyp des Influenzavirus

HCW engl.: health care workers

IMWF Institut für Management- und Wirtschaftsforschung GmbH

PMT Protection Motivation Theory

RKI Robert Koch-Institut

SARS engl.: severe acute respiratory syndrome

WHO Weltgesundheitsorganisation

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Etappen von Arbeitsfähigkeit auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

Abbildung 2: Schematischer Verlauf einer Pandemiewelle mit Auswirkungen auf den Personalausfall

Abbildung 3: Vereinfachte Darstellung der Theorie der Schutzmotivation nach Rogers (1983)

Abbildung 4: Extended Parallel Process Model nach Barnett et al. (2009)

Abbildung 5: Anwesenheitsmodell nach Oppolzer (2010, S. 186)

Abbildung 6: The model of illness flexibility

Abbildung 7: Präsentismusmodell nach Aronsson & Gustafsson

Abbildung 8: Dynamisches Modell nach Johns

Abbildung 9: Wirk- und Handlungsmodell nach Hägerbäumer

Abbildung 10: Entscheidungsmodell nach Gerich (2014)

Abbildung 11: Makro-Mikro-Makro-Erklärungsmodell nach Sinß (2015)

Abbildung 12: Unterschiedliche Effekte und Effektstärken auf Arbeitsbereitschaft; oben bei Verpflichtung, unten ohne Verpflichtung

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Zur Literaturrecherche verwendete Suchsyntax

Tabelle 2: Zur Literaturrecherche verwendete Datenbanken und Suchmaschinen

Tabelle 3: Suchreihenfolge und Ergebnisanzahl der Literaturrecherche

Tabelle 4: Ermittelte Determinanten für Präsentismus (mehrseitig)

Tabelle 5: Ermittelte Determinanten für die Arbeitsbereitschaft bei Pandemie (mehrseitig)

Tabelle 6: Verhältnis ausgewählter Determinanten zueinander

1 Einleitung

„Wo die Arbeitgeber früher fürchteten, dass Beschäftigte unter Berufung auf eine Krankheit der Arbeit fernbleiben, obwohl sie gar nicht krank sind, müssen sie heute damit rechnen, dass die Beschäftigten zur Arbeit kommen, auch wenn sie krank sind“ (Peters, 2011, S. 119)

„Nicht Absentismus, sondern Präsentismus bildet die zentrale Herausforderung Betrieblicher Gesundheitspolitik“ (Badura, 2013, S. 11)

Eine im Jahr 2014 veröffentlichte Pressemitteilung der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) alarmiert: „Die Mehrheit der Arbeitnehmer zwischen 25 und 40 Jahren geht auch krank zur Arbeit“ (DAK-Gesundheit, 2014). Eine von der DAK beauftragte bundesweite Forsa-Umfrage unter 3.200 Männern und Frauen konnte bei letztlich 2.655 Beschäftigten erheben, dass bis zu 60% der befragten Arbeitnehmer trotz Krankheit zwischen drei und 20 Tagen im Jahr gearbeitet hatten und Präsentismus, also eben diese „ Anwesenheit am Arbeitsplatz trotz Krankheit “ demnach ein „weit verbreitetes Phänomen“ sei.

Stellvertretend für viele weitere und zumeist auch sehr ähnliche Meldungen dieser Art, lässt bereits schon diese Mitteilung ein Kernproblem der heutigen Präsentismus-Debatte erkennen. Eine Formulierung wie „Fast zwei Drittel schleppen sich mit Gesundheitsproblemen ins Büro, in die Werkstatt oder an andere Arbeitsplätze“ (ebd.) impliziert, dass Präsentismus eine grundsätzlich zu behebende Fehlentwicklung darstellt. Dass dies nicht grundsätzlich so ist, war eines von mehreren bedeutsamen Ergebnissen des von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) 2010 in Auftrag gegebenen Reviews zum Stand der Forschung zu Präsentismus (Steinke & Badura, 2011, S. 24 & S. 107). Die Autoren des Reviews weisen darauf hin, dass je nach Verständnis und Definition von Präsentismus dieser nicht unbedingt eine Fehlentwicklung sei, weil er in Anbetracht der zunehmenden Krankheits-Chronifizierung der Bevölkerung ohnehin eher „die Regel als die Ausnahme darstellt“1. Darüber hinaus gibt es nach den Autoren zumindest Hinweise dafür, dass insbesondere bei psychischen Erkrankungen und Rücken­beschwerden ein Arbeiten trotz Krankheit auch salutogene Effekte hat, der Krankheitsverlauf also positiv beeinflusst wird (ebd., S. 77f).

Steinke und Badura weisen aber auch auf weitere, grundlegendere Probleme bei der Erstellung ihres Reviews hin. Durch das Fehlen eines allgemeingültigen Konzeptes von Präsentismus existieren unterschiedliche Verständnisse und folglich auch unterschiedliche Definitionen von Präsentismus (ebd., S. 101-102). Aus diesem Umstand heraus resultieren wiederum diverse Instrumente zur Erhebung, Messung und zur Feststellung des Ausmaßes von Präsentismus (ebd., S. 102-103; vgl. aber auch z. B. Amler, 2016). Die unterschiedlichen Verständnisse, Definitionen und letztlich Messungen von Präsentismus erschweren in der Folge den Vergleich von Forschungsergebnissen und bedingen diesbezüglich stets einer besonderen Sorgfalt.

Konsens besteht indes dahingehend, dass Präsentismus Folgen hat. Zum einen (belegbar auch negative2 ) Folgen für die Gesundheit der „Präsentisten3 “ (man denke zunächst einmal „nur“ an die Chronifizierung von Erkrankungen), zum anderen aber möglicherweise (häufig) auch für die Kollegen (man denke etwa an die Ansteckungsgefahr im Falle von Präsentismus bei Grippeerkrankungen). Vor allem aber kostet der Präsentismus den Unternehmen Geld, und zwar mehr Geld, als der Absentismus (die krankheitsbedingte Abwesenheit vom Arbeitsplatz). Die Unternehmen wissen zwar in aller Regel die Kosten durch Absentismus recht exakt einzuschätzen, da der Absentismus jedoch nur einen Bruchteil der entgangenen Arbeitsleistung darstellt, sind die tatsächlichen Kosten, die durch die Summe von Absentismus und Präsentismus entstehen, ungleich schwerer zu bestimmen4 (vgl. auch das „Eisbergmodell“ bei Badura, 2013, S. 11). Der „Nicht-Sichtbarkeit von Gesundheit“, „ein grundsätzliches Dilemma des betrieblichen Gesundheitsmanagements“ (Ulich & Wülser, 2015, S. 144), kommt hier in Form eines regelmäßig anzunehmenden Produktivitätsverlustes der „Präsentisten“ eine große Bedeutung zu.

Die Kosten des Präsentismus durch anteilig entgangene Produktivität variieren zwischen verschiedenen Studien. Baase (2007) z. B. kann in einer oftmals zitierten amerikanischen Studie nachweisen, dass die Kosten durch Präsentismus mit 6771$ pro Beschäftigtem und Jahr deutlich höher sind, als die durch Absentismus in Höhe von 661$. Goetzel et al. (2004) beziffern die durch Präsentismus verursachten gesundheitsbezogenen Gesamtkosten für amerikanische Unternehmen auf 19 bis 60%, je nach betrachtetem Krankheitsbild. Und Fissler und Krause etwa kommen in einer deutschen Studie zum Ergebnis, dass die in einem Unternehmen durch Absentismus und Präsentismus entstandenen Produktivitätsverluste zu 70% (16 von 21 Tagen pro Jahr und Mitarbeiter) durch den Präsentismus zu erklären sind (2010, S. 422). Steinke und Badura kommen in ihrem Review zu dem Schluss, dass trotz heterogener Studienlage, es zumindest als „gesichert angesehen werden“ kann, dass die Kosten durch Präsentismus mindestens so hoch wie die des Absentismus sind und „sehr wahrscheinlich“ auch darüber liegen (2011, S. 110).

Betriebe scheinen demnach gut beraten, Präsentismus zu erkennen, ihn zu vermeiden und (falls zutreffend) zu reduzieren, aber ihm auch präventiv zu begegnen. Hierauf begründet sich die Intention einer ersten wissenschaftlichen Teilfragestellung dieser Arbeit. Es gilt zu ermitteln, mit welchen Maßnahmen eine Einflussnahme auf das Präsentismusverhalten von Beschäftigten m öglich und von welchen Faktoren dieses abhängig ist. Eine damit einhergehende Betrachtung der Ursachen von Präsentismus ist hierfür unabdingbar. Der Fokus der wissenschaftlichen Darstellung soll aber konkret auf der Darstellung von Erklärungs- und Entscheidungsmodellen liegen.

Die Beantwortung der Fragestellung erfolgt vorrangig aus der Arbeitgeberperspektive für große und mittlere deutsche Industrieunternehmen. Der Titel dieser Arbeit, „Der Präsentismus in den Zeiten der Cholera“, ist hierbei mehr als eine Wortspielerei mit einem Klassiker der Weltliteratur5. Er verdeutlicht auf prägnante Weise den Kontext, in welchem das Thema dieser Arbeit, der Präsentismus, betrachtet wird. Es stellt sich die Frage, ob die zu recherchierenden Maßnahmen zur Vermeidung von Präsentismus nicht andere betriebliche Bemühungen einer Entscheidungsbeeinflussung von Beschäftigten zeitweise konterkarieren. Im Falle einer Pandemie6 nämlich, soll ein (im Idealfall zuvor erstellter) betrieblicher Pandemieplan7 unter anderem dafür Sorge tragen, Arbeitsbereitschaft und Anwesenheit der Beschäftigten in dieser Zeit zu fördern und zu erhöhen. Es ist nachvollziehbar, dass gerade in Situationen mit hohem Arbeitsvolumen und gleichzeitig hohem (und z. B. bei einer Grippepandemie voraussichtlich steigendem) Personalausfall die Aufrechterhaltung eines Betriebes nur so gewährleistet werden kann. Es gilt also auch zu ermitteln, mit welchen Maßnahmen bei Beschäftigten eine Einflussnahme auf das Entscheidungsverhalten zur Arbeitsbereitschaft unter der Annahme einer Pandemie m öglich und von welchen Faktoren wiederum dieses abhängig ist (zweite Teilfragestellung). Dabei werden mit höherer Wahrscheinlichkeit (wenn überhaupt) nur große und mittlere Unternehmen über einen betrieblichen Pandemieplan verfügen8. Außerdem sind es auch mit höherer Wahrscheinlichkeit Unternehmen dieser Größe, die in der Zwangslage sein könnten, trotz Pandemie, produzieren „zu müssen“, wie etwa Pharmahersteller9. Speziell für diese stellt die für andere Betriebe sonst grundsätzliche Möglichkeit einer temporären Betriebsschließung keine Option dar.

Zusammengeführt lautet die wissenschaftliche Kernfrage dieser Arbeit, in welchem Verhältnis die betrieblichen Möglichkeiten der Einflussnahme auf das tatsächliche Präsentismusverhalten von Beschäftigten („Präsentismus vermeiden“) zu einer betrieblichen Pandemieplanung stehen. Betriebliche Pandemieplanung im Kontext dieser Fragestellung wird verstanden als die betriebliche Einflussnahme auf das voraussichtliche Entscheidungsverhalten von Beschäftigten für oder gegen eine Arbeitsaufnahme zu Zeiten einer Pandemie („Arbeitsbereitschaft erhöhen“). Es gilt zu ermitteln, ob hier ein Zielkonflikt existiert und welche Implikationen sich für die betriebliche Pandemieplanung aus der Beantwortung der Fragen ergeben.

Zur Beantwortung der Fragestellung wurde eine systematische Literaturrecherche für den Suchzeitraum von 2010 bis 2016 durchgeführt. Ausführlich dargestellt wird die Methode im 4. Kapitel. Zuvor werden im 2. und 3. Kapitel der theoretische Hintergrund und Forschungsstand zu Präsentismus einerseits und betrieblicher Pandemieplanung andererseits dargelegt. Ferner werden Modelle zur Erklärung des Verhaltens von Beschäftigten bei Pandemien erläutert. Das 5. Kapitel listet die Ergebnisse der Literaturrecherche auf, so dass diese im anschließenden 6. Kapitel in Bezug zum theoretischen Hintergrund entsprechend interpretiert und diskutiert werden können. Ein Fazit findet sich im 7. Kapitel.

2 Präsentismus

Bei der Ausarbeitung des theoretischen Hintergrundes zu dieser Arbeit geht es im vorliegenden 2. Kapitel „Präsentismus“ zunächst um die Darstellung einer für diese Arbeit gültigen Gebrauchsdefinition und eine klare Abgrenzung zu anderen Definitionen von Präsentismus (Kap. 2.1). Im Anschluss folgt eine Präsentation des Forschungsstandes, unterteilt in Prävalenz und Bedeutung, Einfluss- und Bestimmungsfaktoren von Präsentismus sowie seinen Folgen (Kap. 2.2). Das Kapitel schließt mit der Entwicklung einer ersten Teilfragestellung (Kap. 2.3).

2.1 Definitionen und Abgrenzung

Liest man die Zusammenfassung des 2010 von Gary Johns publizierten Reviews „Presenteeism in the workplace“, so kommt seine präferierte Definition von Präsentismus mit „Presenteeism refers to attending work while ill“ augenscheinlich recht unspektakulär daher (Johns, 2010, S. 519). Die hinter dieser Definition steckende Komplexität der Präsentismusdebatte verschweigt freilich auch Johns im weiteren Verlauf („What Is Presenteeism?“) nicht, wenn er neun gängige Definitionen von Präsentismus zitiert, die unterschiedlicher nicht sein könnten (ebd., S. 520f).

Allen Definitionen ist jedoch gemein, dass es im Kern um die physische Anwesenheit eines Beschäftigten am Arbeitsplatz geht. Einige Definitionen kennzeichnen Präsentismus als etwas Gutes, im Sinne einer Teilhabe an der Arbeit anstelle von Krankmeldung (vgl. Smith, 1970), andere hingegen als Fehlverhalten, weil ein schlechter Gesundheitszustand nicht durch Absentismus angezeigt wird (vgl. Kivimäki et al., 2005). Weitere Definitionen wiederum unterstreichen den Widerspruch, trotz Krankheit arbeiten zu gehen, so etwa beispielhaft „going to work in spite of illness“ (Johansson & Lundberg, 2004, S. 1857; vgl. auch Aronsson, Gustafsson & Dallner, 2000, S. 504) und nicht wenige andere Definitionen greifen den Aspekt des Produktivitätsverlustes auf, wie etwa „Health-related productivity losses (…) because of illness“ (vgl. Turpin et al., 2004, S. 1123).

Eine leicht nachzuvollziehende Differenzierung innerhalb der Diskussion darüber, was nun Präsentismus ist, nehmen Steinke & Badura in ihrem Präsentismus-Review vor (2011, S. 15ff). Auch diese Autoren konnten viele unterschiedliche Definitionen von Präsentismus identifizieren, deren konzeptionelle Ansätze sich aber weitestgehend in zwei „Hauptstränge“ unterteilen lassen. Ein einheitliches Konzept und folglich eine allgemein akzeptierte Definition von Präsentismus gibt es indes weder in der Wissenschaft (Steinke & Badura 2011, S. 15), noch in der Praxis (vgl. Jungreuthmayer, 2011)10.

Die erste und maßgeblich europäische Sichtweise auf Präsentismus stellt das Verhalten des Beschäftigten, trotz Krankheit zur Arbeit zu kommen, in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses („The act of presenteeism“, Johns, 2010, S. 522). Diese stark skandinavisch dominierte Konzeption von Präsentismus findet sich auch in oben stehender Definition von Aronsson et al. (2000) wieder und entspricht zumeist auch deutschen Definitionen, etwa der häufig zitierten Definition von Schmidt & Schröder: „Das Verhalten, sich bei einer Erkrankung nicht krankzumelden, sondern arbeiten zu gehen, wird als -Präsentismus- bezeichnet.“ (2010, S. 93). Hier ist kritisch anzumerken, dass ein solches Verhalten sehr oft negativ assoziiert wird, dies aber nicht zwangsläufig so sein muss (s.o.; Steinke & Badura, 2011, S. 24).

Eine zweite Sichtweise auf Präsentismus erfolgt, zumeist aus US-amerikanischer Forschungsrichtung, auf den Aspekt des mit Präsentismus einhergehenden und vor allem durch chronische Erkrankungen entstehenden Produktivitätsverlustes („Productivity loss ascribed to presenteeism“, Johns, 2010, S. 522), oben dargestellt durch die beispielhafte Definition von Turpin et al. (2004). Badura & Steinke kommen in ihrem Review zu dem Schluss, dass diese enge Sichtweise auf Präsentismus (chronische Erkrankungen, Produktivitätsverlust), ungeachtet ihrer bisherigen Ergebnisse, dennoch als „erheblicher Schwachpunkt dieser Forschungslinie“ zu bezeichnen sei (2011, S. 20). Die regelmäßige Außerachtlassung von Ursachen bei dieser Sichtweise auf Präsentismus erschwert jegliche Korrektur, da hierfür eine Kenntnis über Ursachen und Determinanten unabdingbar ist (ebd., S. 25). Auch Johns sieht Probleme dahingehend, Präsentismus nur in der entgangenen Produktivität zu sehen und damit Ursache und Wirkung zu vermischen (2011, S. 521). Präsentismus wäre in der Folge, organisational betrachtet, automatisch negativ behaftet. Eine solche Definition von Präsentismus würde aber außer Acht lassen, dass produktivitätsgeminderte Präsentisten zunächst einmal sicherlich immer noch produktiver sind als Absentisten.

Innerhalb dieser Arbeit folgt der Verfasser zur Beantwortung seiner wissenschaftlichen Fragestellung ausdrücklich der ersten, der europäischen Sichtweise von Präsentismus, dem Verhalten von Beschäftigten trotz Erkrankung den Arbeitsplatz aufzusuchen. Die wirtschaftlichen Konsequenzen für die Betriebe werden zwar unberücksichtigt bleiben, sie sind aber zweifelsohne anzuerkennen, da sie aus Sicht der Arbeitgeber sowohl „Grund zur Sorge“ als auch „Anlass zum Handeln“ sein sollten. Eine künstliche Trennung beider Präsentismusstränge ist aufgrund vorhandener Schnittmengen ohnehin weder sinnvoll (Steinke & Badura, 2011, S. 25) noch dann legitim, wenn der „act of presenteeism“ den „productivity loss ascribed to presenteeism“ gar bedingt11.

Betrachtet man Gesundheit und Krankheit nicht als dichotome Größen, sondern als Pole eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums, so sind auf diesem drei erwähnenswerte Stufen von Arbeitsfähigkeit denkbar (Abb. 1). Charakterisiert Punkt A einen Zustand absoluter Gesundheit, dann steht Punkt D für einen Zustand schwerer Krankheit, der als solcher objektiv nicht nur bestätigt werden kann, sondern subjektiv auch als erkrankt und stark leistungsgemindert empfunden wird (Oppolzer, 2010, S. 176f). Punkt B steht für das Auftreten erster Befindlichkeitsstörungen, wohingegen Punkt C den Zeitpunkt markiert, an welchem aufgrund eben dieser professionelle (ärztliche) Hilfe in Anspruch genommen wird (die Lage von B und C ist nur exemplarisch und kann variieren). Anhand dieser vier Markierungen ergeben sich drei Stufen der Arbeitsfähigkeit. Stufe „a“ umfasst die „zweifellos Gesunden“, Stufe „b“ umfasst den Zustand „relativer Krankheit bzw. bedingter Gesundheit“ („Grauzone“ / „bedingt legitime Kranke“) und Stufe „c“ umfasst die behandlungsbedürftigen und leistungsgeminderten Erkrankten. In Bezug zu Präsentismus erstreckt sich der zweite Präsentismusstrang mit Blick auf Produktivitätseinbußen auf alle Erkrankten der Bereiche „b“ und „c“. Der erste Präsentismusstrang hingegen ist selektiver, wenn er das Verhalten, trotz Krankheit, zur Arbeit zu gehen, qualitativ dahingehend konkretisiert, dass eine Krankmeldung legitim gewesen wäre (nur Bereich „c“).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Etappen von Arbeitsfähigkeit auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum (nach: Oppolzer, 2010, S. 176)

Dementsprechend wird Präsentismus im Sinne dieser Arbeit verstanden als das beobachtbare Verhalten von Beschäftigten trotz Krankheit, die ein Fehlen legitimiert hätte, zur Arbeit zu gehen (analog zu Aronsson et al., 2000, S. 504 oder Bergström et al., 2009a, S. 631). Johansson & Lundberg (2004) oder auch Ulich & Wülser (2015) definieren ebenso, schließen aber auch andere Beeinträchtigungen („experiencing other events“) neben der Krankheit mit ein (etwa Kinderbetreuung). Dem wird diese Arbeit nicht entsprechen können.

Abschließend ist anzumerken, dass diese Auffassung von Präsentismus mit der Annahme verbunden sein könnte, dass Präsentismus mit einer bewussten Entscheidung einhergeht. Dem ist jedoch nur so, wenn eine solche Entscheidung auch getroffen werden kann: „Leichtere gesundheitliche Beschwerden oder Beeinträchtigungen, wie Kopfschmerzen, Erkältungen, Müdigkeit/Depression, Verdauungsprobleme und Arthritis (…) sind typisch für das Phänomen des Präsentismus. Bei schweren gesundheitlichen Problemen, beispielsweise einem Beinbruch, Herzinfarkt oder schwerer Depression erübrigt sich die Frage nach dem Besuch der Arbeit.“ (Weiherl, Emmermacher & Kemter, 2007, S. 312f).

2.2 Forschungsstand

2.2.1 Prävalenz und Ausmaß von Präsentismus

Eine Vielzahl von Untersuchungen bzw. Befragungen geben Auskunft über die Prävalenz von Präsentismus, entsprechend der oben genannten Definition, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen. Die Ergebnisse variieren stark in Abhängigkeit der verwendeten Fragestellung zur Erfassung dieses Verhaltens. Das praktische Forschungsproblem der Krankheitsdiagnose, denn eine Erkrankung muss ja vorliegen, um Präsentismus zeigen zu können, wird gelöst, indem man „es den Arbeitnehmern überlässt zu sagen, ob sie an einem bestimmten Tag „krank“ zur Arbeit gegangen sind“ (Preisendörfer, 2010, S. 402). Gemäß dieser einfachen Operationalisierung geben im Schnitt zwei Drittel der Beschäftigten an, binnen der letzten zwölf Monate wenigstens einmal krank zur Arbeit gegangen zu seien (etwa Aronsson & Gustafsson, 2005; DGB, 2009; Schmidt & Schröder, 2010).

Vorsicht scheint geboten bei der Interpretation derartiger Prävalenzen. Johns weist auf unerklärbare Unterschiede in der Prävalenz von Präsentismus in zwei aufeinanderfolgenden Studien von Aronsson hin (2010, S. 522). Waren es in der früheren Studie von Aronsson et al. (2000) 37% der Beschäftigten, die Präsentismus zeigten, sind es in einer späteren Studie von Aronsson & Gustafsson (2005) 53% der Befragten. Die Diskrepanz zu den im Absatz zuvor genannten rund zwei Dritteln ergibt sich aus dem Umstand, dass für Johns Präsentismus erst bei mehr als einem Ereignis pro Jahr vorliegt12. So unterschiedlich die Konzepte und Definitionen für Präsentismus sind, so unterschiedlich sind auch deren Erhebungs- und Messinstrumente und auch die wissenschaftliche Festsetzung von Messmarken.

Im Rahmen der GKV-Monitor Befragung 2003 gaben 71% der Befragten an, „es sei im letzten Jahr vorgekommen, dass sie zur Arbeit gegangen sind, obwohl sie sich richtig krank gefühlt haben“ (Zok, 2004, S. 252). Ferner gaben 62% an, zur Genesung bis zum Wochenende gewartet zu haben und 30% sogar gegen ärztlichen Rat der Arbeit nachgegangen zu sein. Vier Jahre später wurde diese Befragung wiederholt. Zu diesem Zeitpunkt gaben 62% der Befragten an, trotz Krankheit arbeiten gegangen zu sein (Zok, 2008b, S. 128f). Der Anteil derer, die dieses Verhalten auch gegen ärztlichen Rat zeigten, betrug nun 33% (Zok, 2008a, S. 4). Bei erneuter Befragung im Jahr 2009 gaben wieder 71% der Beschäftigten an, Präsentismus gezeigt zu haben, jedoch wurde die Fragestellung verändert und die attributive Formulierung „richtig krank“ hin zu „(…) , obwohl sie sich krank gefühlt haben“ gestrichen (Schmidt & Schröder, 2010, S. 95). Diese Verallgemeinerung widerspricht einer Ergebnisfeststellung des Reviews von Steinke & Badura, wonach Fragestellungen dieser Art möglichst zu konkretisieren seien, etwa in Form von Formulierungen wie „gegen ärztlichen Rat“ (2011, S. 28).

Den Benefit von Konkretisierung und Differenzierung zeigt beispielhaft der „DGB-Index Gute Arbeit“ von 2009. Hier konnte für Präsentismus eine Prävalenz von 78% erhoben werden, jedoch reduziert sich dieser auf 50%, wenn Präsentismus als mindestens zweimaliges Ereignis binnen der letzten zwölf Monate betrachtet wird (DGB, 2009, S. 19f). Wird darüberhinaus gezielt danach gefragt, ob das Verhalten gegen ärztlichen Rat erfolgte, zeigten (nur noch) 17% der Befragten mindestens zwei Präsentismusereignisse an13. Ganz ähnliche Ergebnisse lieferten die Befragungen des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann-Stiftung 2007 und 2008. Hier lag die Präsentismusrate bei 46% bzw. 42% (zweimal oder öfter in zwölf Monaten) und bei 14% bzw. 11%, wenn nach „gegen den Rat des Arztes“ gefragt wurde (Vogt, Badura & Hollmann, 2009, S. 190).

Einen anderen Ansatz der Datenerhebung verfolgte die „BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung“ 2011/2012. Hier wurde nach der Anzahl von Präsentismus- und Absentismustagen gefragt. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass sich beide Phänomene nicht gegenseitig ausschließen (Oldenburg, 2010, S. 136f). 36% der Befragten gaben an, binnen der letzten zwölf Monate je mindestens einmal Absentismus und Präsentismus gezeigt zu haben, 21% gingen bei Krankheit immer arbeiten, 16% blieben im Krankheitsfall hingegen stets zu Hause. Ergebnisse einer Quotenstichprobe unterstreichen diese Beziehung von Präsentismus und Absentismus zueinander (Preisendörfer, 2010, S. 406). Bei paralleler Erhebung beider Phänomene fällt auch auf, dass sich diese nicht immer alternativ zueinander verhalten: „Während z. B. (…) Angst vor Arbeitslosigkeit Präsentismus erhöht, trägt sie umgekehrt nicht dazu bei, dass Absentismus (…) sinkt. Der Effekt der Angst vor Arbeitslosigkeit ist beim Absentismus nicht negativ, sondern signifikant positiv“ (ebd.). Demnach wäre Präsentismus mehr als nur das Gegenteil von Absentismus.

Es bleibt festzuhalten, dass Präsentismus zweifelsohne eine häufige Verhaltensweise zu sein scheint, deren konkrete Prävalenz vielleicht nicht „kriegsentscheidend“ ist, aber Anlass genug bietet, sich mit seinen Determinanten und Folgen zu beschäftigen.

2.2.2 Ursachen, Gründe, Motive und Einflussfaktoren für / von Präsentismus

Die beiden bisher zitierten Reviews stellen auch einen breiten Überblick über die Determinanten für Präsentismus dar. Aufgrund ihrer Bedeutung innerhalb deutscher (Steinke & Badura) und internationaler (Johns) Literatur zu Präsentismus mögen beide an dieser Stelle der Arbeit als Fundament der Darstellung dienen. Die Leistung des Verfassers hierbei ist weniger eine repetitive „Nacherzählung“ ihrer Inhalte als vielmehr ihre systematische Zusammenführung.

Steinke & Badura nehmen eine Aufteilung der Einflussfaktoren für Präsentismus in die Kategorien persönliche, arbeits- und organisationsbedingte sowie strukturelle Faktoren (auch Umwelt) vor (2011, S. 54). Sie betonen jedoch, dass eine Zuordnung der einzelnen Faktoren zu einer Kategorie nicht immer eindeutig möglich ist und aufgrund komplexer Zusammenhänge der einzelnen Faktoren auch nicht immer sinnvoll erscheint. Johns verweist auf die Hypothese der Substitution, nach der anzunehmen ist, dass die Faktoren, die Absentismus einschränken, Präsentismus erhöhen und umgekehrt (Johns, 2010, S. 524). Ausgehend von dieser Annahme, ginge dies damit einher, dass beide Phänomene sich eine Schnittmenge gleicher Ursachen teilen und der Kontext darüber entscheidet, welches Verhalten ausgeführt wird. Johns differenziert die Ursachen in betriebliche Richtlinien, Arbeitsmerkmale und Kultur.

Hinsichtlich des Alters gibt es wenige Erkenntnisse (Steinke & Badura, 2011, S. 54). Einzelne Befragungen deuten darauf hin, dass Jüngere häufiger als Ältere Präsentismus zeigen. Johns (2010) macht zum Alter keine direkten Aussagen.

Beim Geschlecht ist die Datenlage zwar besser, aber widersprüchlich. Frauen zeigen mehr Präsentismus als Männer und das über alle Altersklassen hinweg und auch gegen ärztlichen Rat (Steinke & Badura, 2011, S. 59f). Andere Studien kommen zu entgegengesetzten Ergebnissen. Die Studienlage deutet daraufhin, dass das genderspezifische Präsentismusverhalten vom beruflichen Status und von den Arbeits- und Organisationsbedingungen abhängig ist. Johns kommt zu dem Schluss, dass Frauen möglicherweise mehr Präsentismus aufzeigen als Männer, bezeichnet die Studienlage aber ebenfalls als inkonsistent (2010, S. 536). Inkonsistente Ergebnisse gibt es auch für den Beziehungsstatus (Steinke & Badura, 2011, S. 60). Johns berücksichtigt diesen in seinem Review nicht (Johns, 2010).

Zwischen Präsentisten und Nicht-Präsentisten gibt es signifikante Unterschiede im Gesundheitszustand (Steinke & Badura, 2011, 60f). Ein schlechter Gesundheitszustand geht mit Präsentismus einher und zwischen Präsentismus und Absentismus besteht ein Zusammenhang. Dieser äußert sich darin, dass hohe Präsentismusraten mit (späteren) hohen Absentismusraten einhergehen. Johns geht in seinem Review nicht im Kontext Präsentismus-beeinflussender Faktoren auf den Gesundheitszustand ein, sondern erst später im Rahmen einer modellhaften Erklärung14 von Präsentismus und Absentismus (Johns, 2010, S. 531f).

Ein schwach negativer Zusammenhang kann zwischen Einkommen und Präsentismus aufgezeigt werden, je geringer das Einkommen, desto stärker der Präsentismus (Steinke & Badura, 2011, S. 61). Darüberhinaus gibt es starke Beweise dafür, dass höhere Einkommen mit geringeren Absentismusraten einhergehen (Johns, 2010, S. 524). Johns fasst zusammen, dass es derart starke Beweise für einen Zusammenhang zwischen Präsentismus und Einkommen aber nicht gäbe, allemal Hinweise, die aber nicht in allen Studien replizierbar seien. Von Bedeutung ist auch die Rolle der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall15. Eine (in Dauer und / oder Umfang) restriktive Entgeltfortzahlung führt zu geringerem Absentismus und höherem Präsentismus (ebd., S. 525). Hier sind es vor allem gering verdienende Frauen, die Präsentismus ausüben (etwa um Krankentage für den Fall aufzusparen, dass die eigenen Kinder erkranken und eine häusliche Betreuung notwendig wird).

Ein weiterer Faktor findet unter dem Begriff „ individual boundarylessness “ in der Literatur Berücksichtigung und meint den Aspekt der Grenzenlosigkeit, das „nicht Nein sagen können“ von Beschäftigten. Dieses Persönlichkeitsmerkmal korreliert stark mit Präsentismus (Steinke & Badura, 2011, S. 61f). In diesem Kontext weisen beide Reviews darauf hin, dass auch das Ausmaß des psychologischen Vertrages (in Ergänzung zum arbeitsrechtlichen Vertrag) über den Umfang von Präsentismus entscheidet. Das dies nicht zwangsläufig schlecht sein muss, bringt Johns mit „Incorporating both personality and work attitudes into the study of presenteeism allows for the consideration of‘‘good presenteeism’’by those who are conscientious or satisfied with their jobs“ zum Ausdruck (Johns, 2010, S. 536). Hiervon abzugrenzen ist das noch relativ junge Phänomen der indirekten Steuerung und interessierten Selbstgefährdung, welches, das ist zumindest anzunehmen, mit Präsentismus einhergehen kann (Peters, 2011, S. 105ff; Steinke & Badura, 2011, S. 62).

Befragt man die Beschäftigten nach den Gründen für ihren Präsentismus, so sind maßgeblich Pflichtbewusstsein und Loyalität als Hauptgründe identifizierbar. Neben Angaben wie „weil sonst Arbeit liegen bleibt“ (Steinke & Badura, 2011, S. 62f) sind es bei ausländischen Erhebungen auch häufig Gründe wie fehlende Ersetzbarkeit und Fairness gegenüber Kollegen (Johns, 2010, S. 527). Insbesondere auch Gruppenarbeit und Teamwork sind mit Präsentismus assoziiert.

Arbeitsplatzunsicherheit ist der am häufigsten diskutierte Einflussfaktor für Präsentismus. Er wird in Befragungen stets in nennenswertem Anteil als Grund für Präsentismus genannt, eindeutige empirische Beweise gibt es indes nicht (Steinke & Badura, 2011, S. 63f). Ein Zusammenhang wird angenommen, in der Forschung jedoch allzu oft aus Forschungserkenntnissen im Kontext von Absentismus hergeleitet16, so z. B. die Zunahme von Absentismus bei Beschäftigten ab dem Zeitpunkt, an dem zuvor befristete Arbeitsverträge entfristet wurden (Johns, 2010, S. 525). Daraus lässt sich zumindest ableiten, dass Absentismus vorher vermutlich gemieden und dafür mehr Präsentismus gezeigt wurde. Die meisten Studien zeigen indes allerdings (nur) einen Anstieg von Absentismus bei Arbeitsplatzunsicherheit, etwa im Kontext von Stellenabbau (ebd.).

Personenbezogene Dienstleistungen allgemein und Tätigkeiten in Bildungssektor und Gesundheitswesen gehen mit höheren Präsentismusraten einher (Johns, 2010, S. 527; Steinke & Badura, 2011, S. 65). Mehrere Studien attestieren dies auch speziell für den Beruf des Arztes. Als Gründe hierfür führen die Autoren die Arbeit mit anderen (abhängigen) Menschen, besonders in diesen Arbeitsbereichen steigende Arbeitsbelastungen und Umstrukturierungen sowie den damit einhergehenden Stress an. Auch die an den jeweiligen Beruf gestellten Anforderungen, sowie die Anforderungen „an einen selbst“ sind Gründe für höheren Präsentismus.

Je größer das Unternehmen (Unternehmensgröße), desto höher das Ausmaß für Präsentismus. Für diese Hypothese kann das Review von Steinke & Badura eine Studie präsentieren (2011, S. 68). Johns macht hierzu keine Angaben (2010).

Zahlreiche Erkenntnisse gibt es bei der Arbeitsorganisation. Vollzeittätigkeit, regelmäßige Mehrarbeit und eine empfundene Diskrepanz zwischen gewünschter und tatsächlicher Arbeitszeit gehen, wenn auch die Kausalzusammenhänge nicht geklärt sind, mit hohem Präsentismus einher (Steinke & Badura, 2011, S. 68). Auch grundsätzlich hohe Jobanforderungen gehen mit steigendem Präsentismus einher (Johns, 2010, S. 526). Dies ist auch deshalb erwähnenswert, weil hohe Jobanforderungen für Absentismus (im Gegensatz zu Präsentismus) positive und negative Korrelationen aufweisen. Die Möglichkeit, sich seine Arbeit an seine Leistungs­fähigkeit anzupassen, („ adjustment latitude “) erhöht die Wahrscheinlichkeit für Präsentismus (im Sinne von „sich Zeit nehmen können“, statt krank zu sein); ist die Anpassbarkeit nicht oder nur in geringem Ausmaß möglich, erhöht dies die Chance für Absentismus (Steinke & Badura, 2011, S. 68)17. Johns ergänzt, dies sei auch kontextabhängig und etwa davon abhängig, ob man z. B. bei einer Telefonhotline oder in einer Kinderintensivstation arbeitet (2010, S. 526).

Strenge Regelungen zum Umgang mit Krankmeldungen (als Ausdruck organisationalen Umganges mit Präsentismus) erhöhen in der Folge Präsentismus. (Steinke & Badura, 2011, S. 69). Der betriebliche Umgang mit Präsentismus, etwa das Betreiben eines Anwesenheitsmanagements und die Art und Bedeutung von Krankenrückkehrgesprächen, hat Einfluss auf den Präsentismus. Ist etwa die Anzahl an Krankheitsepisoden und nicht die tatsächliche unterjährige Dauer der Krankmeldungen Anlass für ein Gespräch mit dem Vorgesetzten, so hat dies steigenden Präsentismus zur Folge. Diese „trigger points“ haben auf Präsentismus eine stimulierende Wirkung, etwa in Form vorschneller Rückkehr aus der Krankheit oder der Vermeidung von entsprechend zu vielen Krankheitsphasen (Johns, 2010, S. 525).

Zu guter Letzt gehen beide Reviews auf die Faktoren Kultur und Führung ein. Positive Betriebsklimata senken das Risiko für Präsentismus, „schlechte“ Betriebskulturen erhöhen es (Johns, 2010, S. 528; Steinke & Badura, 2011, S. 69). Eine Wirkung der Führung, insbesondere des Führungsstils, wird angenommen, jedoch gibt es keine statistisch signifikanten Studienergebnisse für diese Annahme.

2.2.3 Folgen von Präsentismus

Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnt, sind negative Folgen durch Präsentismus für Beschäftigte und Unternehmen unbestreitbar. Auch die Tatsache, dass den Unternehmen durch Präsentismus Kosten entstehen, wurde bereits einleitend genannt. Aus diesem Grund, und weil die durch Präsentismus resultierenden Produktivitätsverluste in dieser Arbeit nicht den Schwerpunkt bilden (s. Kapitel 2.1, Definition und Abgrenzung), soll an dieser Stelle auf diesen Aspekt nicht vertiefend eingegangen werden18.

Die bisherigen aus Studien gewonnen Erkenntnisse weisen daraufhin, dass Präsentismus für die Beschäftigten nicht nur mit einer Reduzierung der Leistungsfähigkeit einhergeht, sondern auch das Fehler- und Unfallrisiko erhöht (Ulich & Nido, 2014, S. 188). Ebenfalls zu berücksichtigen ist sowohl die Gefahr einer Übertragung von infektiösen Erkrankungen auf Kollegen, als auch, bei ausbleibender Ausheilung, eine Chronifizierung der eigenen Erkrankung durch Verschleppen der Krankheitslast.

In diesem Kontext immer wieder zitiert, wird eine Studie von Kivimäki et al. (2005) aus Daten der Whitehall-II-Erhebungen. Demnach haben Präsentisten ein zweifach höheres Risiko für eine schwere koronare Herz-Kreislauferkrankung („follow-up“). Diese Schlussfolgerung kommt dadurch zustande, dass man den beobachteten Personen (Beschäftigte mit schlechtem Gesundheitszustand als „baseline“), die in den letzten drei Jahren keine Krankmeldung vorwiesen, Präsentismus unterstellte. Gesundheitliche Folgen dieser Art durch Präsentismus scheinen jedoch erst später aufzutreten und nicht so kurzfristig sicht- und messbar zu sein (ebd.; Westerlund et al., 2009).

Dass gegenwärtiger Präsentismus in der Zukunft nicht nur mit einer schlechteren gesundheitlichen Selbsteinschätzung einhergeht (Bergström, Bodin, Hagberg, Lindh, Aronsson & Josephson, 2009), sondern auch mit einem späteren Absentismus in höherem Umfang („Langzeitkrank“), kann anhand von zwei regelmäßig zitierten Studien belegt werden (Bergström et al., 2009a; Hansen & Andersen 2009). Diese Ergebnisse dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie ebenfalls bereits einleitend erwähnt, dass Präsentismus in bestimmten Situationen mehr salutogene als pathogene Effekte für das betroffene Individuum haben kann (vgl. Steinke & Badura, 2011, S. 77f). Kontagiöse Erkrankungen sind hiermit zweifelsohne dahingehend ausgeschlossen, als dass eine Ansteckungsgefahr für Dritte besteht.

2.3 Entwicklung der Fragestellung (Verhalten im Krankheitsfall)

Das Verhalten von Beschäftigten im Krankheitsfall ihrer Arbeit nachzugehen, obwohl eine Krankmeldung angezeigt und legitim gewesen wäre, ist aus unternehmerischer Sicht ein Tatbestand, den es aus mehren Gründen zu vermeiden gilt. Hier spielen neben der Produktivitätsdebatte aus Sicht des Verfassers vor allem die Aspekte der Fehler- und Unfallrisiken, der (ggf. Ansteckungs-)Gefahr für Dritte und der daraus resultierenden Fürsorgepflicht des Arbeitgebers eine gravierende Rolle19. Der bereits genannte Gedanke, dass Präsentisten immer noch produktiver seien als Absentisten, ist in diesem Zusammenhang nicht zielführend und gemäß den zuvor dargestellten (Langzeit)Folgen von Präsentismus zu kurz gedacht. Dies bedeutet nicht, den Aspekt des „good presenteeism“ (Johns, 2010, S. 536) außer Acht zu lassen. Er bedarf aber insofern keiner primären Berücksichtigung, weil er, falls er zutreffend ist, kein zu korrigierendes Fehlverhalten darstellt.

Die erste wissenschaftliche Teilfragestellung dieser Arbeit lautet dementsprechend, mit welchen Maßnahmen eine Einflussnahme auf das Präsentismusverhalten von Beschäftigten möglich und von welchen Faktoren dieses abhängig ist? Welche Maßnahmen der Einflussnahme auf Präsentismus (entsprechend der in dieser Arbeit gültigen Definition) lassen sich direkt recherchieren und welche lassen sich indirekt, über eine Recherche von Erklärungs- und Entscheidungsmodellen für Präsentismus, (heuristisch) herleiten?

Die Beantwortung dieser Fragestellung ist auch deshalb von großem Interesse, weil Interventionen in beiden zuvor genannten Reviews nicht Gegenstand deren Darstellung waren.

3 Betriebliche Pandemieplanung

In diesem Kapitel erfolgt die Verknüpfung zweier Themen, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, Präsentismus und betriebliche Pandemieplanung. Hierzu sind zunächst Begriffsbestimmungen und notwendige Abgrenzungen notwendig. Im Anschluss folgen ein kurzer Abriss über den Forschungsstand nach der Influenzapandemie 2009 sowie die Darstellung eines Modells zur Erklärung des Entscheidungsverhaltens von Beschäftigten im Pandemiefall. Das Kapitel schließt mit der Präzisierung der wissenschaftlichen Fragestellung und der Überleitung in den Methodenteil.

3.1 Definitionen und Abgrenzung

Eine Pandemie meint das stark gehäufte Vorkommen einer (infektiösen) Erkrankung über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Sie wird ausgelöst durch einen Erreger, gegen welchen es in der Bevölkerung keine oder nur unzureichende Immunität gibt und welcher sich leicht von Mensch zu Mensch überträgt, was seine Ausbreitung erst ermöglicht (Bundesamt für Gesundheit BAG, 2015, S. 7). Während Erkrankungen wie Tuberkulose oder Malaria seltener geworden sind oder sich auf Länder der Dritten Welt beschränken, treten andere, wie die Cholera, nur noch in Zusammenhang mit Katastrophen auf20. Nur wenige Infektionskrankheiten, wie die Grippe bzw. Influenza21, treten auch in den hochentwickelten, europäischen Staaten auf (Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe BBK, 2010, S. 11). Grippe- bzw. Influenzawellen gibt es jedes Jahr und allein in Deutschland sterben jährlich bis zu 15.000 Menschen an ihr (zumeist Ältere oder chronisch Erkrankte)22.

Unregelmäßig, in nicht vorhersehbaren Zeitabständen und zuvor unbekanntem Ausmaß, treten große Grippewellen, sogenannte Influenzapandemien auf, die mit deutlich höheren Infektions- und / oder Todesraten einhergehen. So starben an der „Spanischen Grippe“ 1918 bis zu 50 Millionen und an der „Asiatischen Grippe“ 1957 und der „Hongkong-Grippe“ 1968 noch je bis zu 1,5 Millionen Menschen (und entsprechend den Fallzahlen nicht nur Ältere und Erkrankte) (BBK, 2010, S. 11). Die jüngste Pandemie, die „Schweinegrippe“ 2009 mit dem Erreger A/H1N1, verlief unerwartet mild und forderte mit „nur“ ca. 18.000 Todesopfern unwesentlich mehr Todesopfer als die saisonale Grippewelle.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterteilt den Verlauf einer Pandemie in mehrere Phasen (vgl. BBK, 2010, S. 19f; Gesundheitsministerkonferenz der Länder GMK, 2016, S. 6). Unterschieden wird in Phasen vor der Pandemie (interpandemische und präpandemische Phasen, entspr. den Phasen 1-5 der WHO), die Phase der eigentlichen Pandemie (WHO-Phase 6) und die Phasen nach der Pandemie (postpandemische und wieder interpandemische Phase). Eine besondere Bedeutung im Kontext dieser Arbeit kommt der interpandemischen Phase, der Phase zwischen zwei Pandemien zu, weil diese dafür zu nutzen ist, Pandemieplanungen anzustrengen, eben vor Eintritt eines neuen Pandemiefalles.

Erste Pandemieplanungen waren die Folge einer Aufforderung der WHO nach den Erfahrungen mit dem sich rasant verbreitenden SARS-Virus (severe acute respiratory syndrome: schweres akutes Atemwegssyndrom) im Jahr 1999. Es gilt seitdem auf internationaler wie auf nationaler Ebene, in Kommunen und in Betrieben, Pläne aufzustellen, die regeln sollen, wie auf diese „Bedrohungen“ zu reagieren ist (BBK, 2010, S. 4f). Eine betriebliche Pandemieplanung meint dementsprechend die betriebliche Vorsorge für diesen Fall und seine Bewältigung. Sie verfolgt im Kern zwei Hauptziele, a) das Infektionsrisiko am Arbeitsplatz zu minimieren und b) die betriebliche Infrastruktur (das wirtschaftliche Überleben) aufrechtzuerhalten (GMK, 2016, S. 8f).

Zur betrieblichen Infrastruktur zählt auch das einsatzfähige Personal und um dieses und dessen Verhalten geht es im Kern dieser Arbeit. Insofern erfolgt hier deutlich eine Abgrenzung zum Thema „Infektionsrisiko am Arbeitsplatz“, aber nicht ohne anzumerken, dass a) zweifelsohne b) beeinflusst und umgekehrt. Ferner ist anzumerken, dass mit betrieblicher Pandemieplanung in Deutschland immer Vorkehrungen bei Influenza gemeint sind. Zum einen beruhen betrieblichen Pandemiepläne deutscher Unternehmen (nun jüngst) auf dieser einzigen praktischen Erfahrung der „Schweinegrippe“ (GMK, 2016, S. 6; IMWF Institut für Management- und Wirtschaftsforschung GmbH, 2010, S. 3; RKI, 2016, 2016, S. 66), zum anderen ist die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Influenza am höchsten und etwa eine Cholerapandemie nicht ohne weiteres in Europa vorstellbar. Diesem Umstand wurde in Deutschland 2011 auch mit der Zusammenlegung zweier Gremien, der Expertengruppe Pandemieplanung und der Influenzakommission für den Pandemiefall, Rechnung getragen (RKI, 2016, S. 7).

3.2 Forschungsstand

3.2.1 Erkenntnisse und Ableitungen aus der Influenza-Pandemie

Der unerwartet milde Verlauf der sogenannten „Schweinegrippe“ 2009 war für viele Unternehmen eine Chance, ihre betrieblichen Pandemiepläne zu testen und weiterzuentwickeln (IMWF, 2010, S. 3f). Die Anzahl der Betriebe mit einer Pandemieplanung hat sich Befragungen nach durch die Schweinegrippe von 50% auf 69% erhöht (ebd., S. 6). Pandemiepläne haben u. a. zum Ziel, reaktive und proaktive Maßnahmen für den möglichen (und gleichzeitigen) Ausfall vieler Mitarbeiter zu entwickeln und die Arbeitsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft der Belegschaft zu erhöhen. Die anzunehmende Personalausfallquote ergibt sich dabei nicht nur aus den Erkrankten selbst, sondern darüberhinaus auch aus Personen, die aus anderen Gründen ausfallen, wie etwa wegen der häuslichen Pflege erkrankter Dritter, Kinderbetreuung oder aus Angst vor Ansteckung (Abb. 2). Der ansonsten übliche Krankenstand addiert sich zusätzlich hinzu. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der totale Personalausfall deutlich über der reinen Erkrankungsrate liegt und mehrere Wochen anhält (BBK, 2010, S. 16).

Schätzungen zufolge ist bei schweren Pandemien mit Erkrankungsraten um die 25% zu rechnen (BAG, 2015, S. 8). Aufgrund oben beispielhaft genannter Gründe kann der tatsächliche Personalausfall bis zu 40% der Belegschaft ausmachen. Insbesondere Mitarbeiter, die sich bedroht fühlen, erscheinen möglicherweise nicht zur Arbeit23. Dies wird auch deshalb problematisch sein, weil nach Ansicht von betrieblichen Experten ein hoher Krankenstand schätzungsweise nur in 20% aller Fälle durch Kollegen kompensierbar sein wird (IMWF, 2010, S. 7). Daher ist es im Rahmen der spezifischen betrieblichen Pandemieplanung essenziell, alle innerbetrieblichen Funktionen zu analysieren, einen Maßnahmenkatalog der wichtigsten Prozesse und (falls zutreffend) Produkte zu erstellen sowie die Auswirkungen eines hohen Personalausfalles festzustellen bzw. abzuschätzen.

[...]


1 vgl. auch Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu „Gesundheit und Krankheit im Alter“. Aufgerufen am 07.12.2016 von http://www.gbe-bund.de/pdf/Gesundh_Krankh_Alter.pdf

2 vgl. z. B. Kivimäki et al., 2005; Bergström, Bodin, Hagberg, Aronsson & Josephson, 2009

3 Personen, die das Verhalten des Präsentismus zeigen (im Gegensatz zu Nicht-Präsentisten)

4 was wiederum auch mit den uneinheitlichen Definitionen und Messinstrumenten zusammenhängt

5 Gabriel Garcia Marquez: Die Liebe in den Zeiten der Cholera (1985)

6 „Als Pandemie wird eine Infektionskrankheit bezeichnet, die sich zeitlich begrenzt aber nicht lokal begrenzt über fast die gesamte Erde ausdehnt.“ Aufgerufen am 07.12.2016 von http://www.uniklinikum-saarland.de/fileadmin/UKS/Aktuelles/Zeitschrift_UKS_Report/Medizinlexikon/Meizinlexikon_ab_2005/Pandemie_myriad.pdf

7 vgl. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), 2010

8 in kleinen Betrieben ist eine Planung auch unweit schwerer, weil bei geringer Mitarbeiterzahl aufgrund der „Dominanz des Zufalls“ z. B. nicht vorherzusagen ist, ob überhaupt mit Ersatzpersonal gerechnet werden kann (vgl. BBK, 2010, S. 14)

9 bei denen darüberhinaus aufgrund spezieller Hygienevorgaben bei der Produktion ein besonders sensibler Umgang mit dem Thema Präsentismus im Kontext von Infektionskrankheiten zu erwarten ist

10 Jungreuthmayer lieferte 2011 mit 18 teilstrukturierten Interviews unter deutschen Experten des betrieblichen Gesundheits- und Personalmanagements hierfür Indizien in der Art, dass Präsentismus, wenn er überhaupt begrifflich bekannt war, dann doch zumindest unterschiedlich definiert wurde.

11 für Hinweise hierzu vgl. Pohling, Buruck, Jungbauer & Leiter, 2015

12 International hat sich dies auch als Standard durchgesetzt (Steinke & Badura, 2011, S. 27)

13 Auch hier scheint aber Vorsicht dahingehend geboten, dass eine Formulierung, wie „gegen ärztlichen Rat“, voraussetzt, dass dieser auch konsultiert wurde. Dies könnte eine falsch-negativ veränderte Darstellung der tatsächlichen Prävalenz zur Folge haben.

14 Das Modell findet später in der Ergebnisdarstellung Berücksichtigung.

15 Nahezu alle Studien beschäftigen sich mit abhängig Beschäftigten, eine Gruppe, für die die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall eine große Bedeutung hat. Es ist aber zu berücksichtigen, dass nicht in allen Ländern eine Entgeltfortzahlung in der Art und dem Umfang erfolgt, wie in Deutschland. Für die Gruppe der Selbstständigen zeigt der Gesundheitsmonitor 2009 auf, dass diese seltener krank arbeiten, möglicherweise aufgrund ihres größeren Handlungsspielraumes bei der Gestaltung ihrer Arbeit (Vogt et al., 2009, S. 191).

16 „Inferences about presenteeism from absenteeism patterns, characteristic of the downsizing and job permanency literature, should be avoided (…)“ Johns, 2010, S. 528

17 Dies scheint nicht für das Arbeitstempo zu gelten. Eine Unmöglichkeit der Einflussnahme hat hier eine Zunahme von Präsentismus zur Folge (Johns, 2010, S. 526). Dies ist möglicherweise etwa mit dem bei Akkordarbeit typischen Lohndruck verbunden.

18 zur Vertiefung siehe Steinke & Badura, 2011, S. 78ff

19 Entsprechend der §§617-619 BGB und beispielhaft der Arbeitsstättenverordnung, dem Arbeitsschutz- und dem Arbeitssicherheitsgesetz. Der Arbeitgeber ist demnach gehalten, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die jeden Beschäftigten vor Gefahren für Leib, Leben und Gesundheit schützen.

20 so gab es nach den Erdbeben in Haiti 2010 geschätzt 7.000 Cholera-Tote

21 die Begriffe Grippe und Influenza meinen das gleiche und werden völlig synonym verwendet

22 „Influenzawellen können von Saison zu Saison in ihrer Stärke erheblich variieren (…)“ (Robert Koch Institut RKI, 2010, S. 12)

23 gleichzeitig weisen Studien aber auch auf eine höhere Compliance der Beschäftigten während einer Pandemie hin, erklärbar durch eben diese Bedrohungswahrnehmung und der Suche nach Schutz (RKI, 2016, S. 76)

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Vermeidung von Präsentismus und Pandemieplanung im Unternehmen. Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter schützen und gleichzeitig Personalausfälle verringern
Autor
Jahr
2020
Seiten
104
Katalognummer
V541262
ISBN (eBook)
9783963560842
ISBN (Buch)
9783963560859
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Krankheit, Krankschreibung, Arbeitsfähigkeit, Grippewelle, Influenza, Präsentismus, Pandemieplanung, Pandemie, Arbeitsbereitschaft, willingness, ability
Arbeit zitieren
Benjamin Graaf (Autor:in), 2020, Vermeidung von Präsentismus und Pandemieplanung im Unternehmen. Wie Unternehmen ihre Mitarbeiter schützen und gleichzeitig Personalausfälle verringern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/541262

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