Ein Außenseiter unter Außenseitern? Pier Paolo Pasolinis "Accattone" (1961) und die formale Inszenierung des Außenseiters


Hausarbeit, 2016

15 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Historischer Kontext des italienischen Neorealismus und seine Bedeutung für die Filmgeschichte

III. Pasolini und der italienische Neorealismus
i. Accattone – ein neorealistischer Film?
ii. Pasolini und die Sehnsucht nach Wahrheit

IV. Analyse – Accattone: Ein Außenseiter unter Außenseitern

V. Fazit

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Das Ende des zweiten Weltkrieges führte einen wichtigen Umbruch in der gesellschaftlichen Sinnproduktion herbei. Diese grundlegende, sinnstrukturelle Veränderung wird auch in der italienischen Filmgeschichte reflektiert. Das Ende des Krieges ist gleichzeitig die Geburt einer neuen filmhistorischen Bewegung: des italienischen Neorealismus.1 Inhaltlich befasst sich diese neue Strömung mit Themen, die während des vorangegangenen Faschismus ignoriert und als nicht filmwürdig erachtet wurden.

Während des Faschismus dominieren zwei Filmproduktionsformen die italienische Filmlandschaft, ähnlich wie im nationalsozialistischen Deutschland: der faschistische Propagandafilm mit seiner Indoktrinationsfunktion sowie seichte Unterhaltungsfilme mit ihrer Eskapismusfunktion, auch telefoni bianchi genannt.2 Der neorealistische Film hingegen befasst sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und all ihren Komplikationen und Vielschichtigkeiten. Der vorangegangene Krieg, die Hässlichkeit seiner Hinterlassenschaft, der soziale Abgrund, die Armut, die Randexistenz ganzer Bevölkerungsschichten, der tägliche Kampf ums Überleben – das sind die Themen, denen sich die Regisseure neorealistischer Filme widmen.

Aus diesem Konglomerat an Themenkomplexen des neorealistischen Films habe ich das damit verwandte Thema des Außenseiters und der Nichtzugehörigkeit gewählt, auf das ich mich im Rahmen dieser Arbeit fokussiere. Exemplarisch am Film Accattone von Pier Paolo Pasolini aus dem Jahr 1961 werde ich aufzeigen, inwiefern Accattones innere Entfremdung zu seiner Umwelt formal inszeniert wird. Dabei werde ich mehrere Szenen heranziehen und diese auf den folgenden Ebenen untersuchen: Kameraeinstellung, Perspektive, Figurenkonstellation, Bildkomposition, Motivik, Licht, Ton, Farbgestaltung, Kostüm und Montage.

Bevor ich mich der Filmanalyse unter diesem konkreten Gesichtspunkt widme, vertiefe ich den historischen Kontext des italienischen Neorealismus und seinen humanistischen Anspruch sowie dessen revolutionäre Kraft und Bedeutung innerhalb der Filmgeschichte. Dabei werde ich auch auf die für die neorealistischen Filme typischen formalen Stilmittel eingehen. Im nächsten Schritt skizziere ich kurz Pasolinis Beziehung zur Bewegung des italienischen Neorealismus sowie sein Menschenbild und gehe auf anti-kanonische Merkmale im Film Accattone ein.

II. Historischer Kontext des italienischen Neorealismus und seine Bedeutung für die Filmgeschichte

Der vor-neorealistische Film basiert auf einem Filmverständnis, das die Stabilisierung des gesellschaftlichen Sinnhaushalts zu seiner Maxime erhebt. In dieser Art von Film wird der Mangel an Perspektive, an konkret erfahrbarem Zusammenhang und an utopischem Potenzial in der Realität kompensiert. Das geschieht beispielweise durch hermetisch abgeschlossene Geschichten, zusammenhängende Sinneinheiten, eine durchgängige Logik in den Ereignisketten, Schematismus und einer gewissen Stereotypik der Figuren.3

In den dreißiger Jahren expandiert die italienische Filmindustrie durch gezielte Filmförderung, die Gründung international bedeutsamer Filmfestspiele (z.B. in Venedig), die Etablierung von Filmhochschulen sowie durch die 1937 erbaute Filmstadt Cinecittà. Trotz staatlicher Zensur und Kontrolle konnten sich zu Zeiten des Faschismus in Italien auch unabhängige, nonkonformistische Filmproduktionsfirmen und Filmzeitschriften entfalten, die erheblich auf die Entstehung der Ästhetik und des moralischen Anspruchs des Neorealismus einwirkten.

Bedeutsam für die Entstehung des italienischen Neorealismus als konkrete filmhistorische Bewegung ist eine in Italien seit 1935 herrschende Kultur- und Literaturdebatte, die einen neuen Realismus zum Gegenstand hatte. Eine praktische Umsetzung der Ergebnisse dieser lebhaften Auseinandersetzungen im Film fand sich erstmals in Viscontis Osse ssione (1942), De Sicas I bambini ci guardano (1943) und Blasettis Quattro passi tra le nuvole (1942).4 Als Anregung diente auch der französische poetische Realismus aus den 30er Jahren, mit Jean Renoir als prägendster Regisseur.5 Von enormer Bedeutung für die Entstehung des italienischen Neorealismus war auch die Resistenza; der Kampf gegen den Faschismus und die Sehnsucht nach einer politischen und kulturellen Erneuerung.

Nach Ende des zweiten Weltkrieges, dem offiziellen Beginn des neorealistischen Films, waren der neuen Strömung zwei Thematiken inhärent: Der vorangegangene Krieg und die damit einhergehende Widerstandsbewegung sowie die Gegenwart mit ihren gesellschaftlichen Problemen.

Folgende ästhetische und narrative Merkmale kennzeichnen den italienischen Neorealismus: Der Verzicht auf fiktive Erzählungen und heldenhafte Protagonisten, dafür der Fokus auf die soziale Alltagswirklichkeit und die darin enthaltene Historizität. Das Thema des einfachen Menschen und seines Lebens im Nachkriegsitalien erhält im neorealistischen Film eine fast erhabene Dimension, die das Normale ins Spektakuläre erhebt. Dabei wird alles Hässliche niemals extrahiert oder euphemisiert. Weiterhin ist ein dokumentarischer Stil kennzeichnend, mit langen Einstellungen, welche dem vom Krieg entmündigten Zuschauer seine Selbstständigkeit zurückgeben, indem sie zulassen, dass es seiner alleinigen Entscheidung unterliegt, an welcher Stelle des kinematographischen Bildes sein Blick verweilt. Das revolutionäre am italienischen Neorealismus ist, dass es nicht mehr Geschichten konstruiert, wie das Hollywood Kino des „continuity editing“ oder den Zuschauer politisch manipuliert, wie das russische Montagekino. Die humanistische und wertvolle Aufgabe des Neorealismus ist die Erfassung der Signifikanz der Wirklichkeit.6

Der Anspruch an eine realistische, unprätentiöse Wirklichkeitsdarstellung im Film ist derart präsent, dass weitestgehend auf Berufsschauspieler, Studioaufnahmen und künstliche Beleuchtung verzichtet wird, mit dem Ziel, so viel Authentizität wie nur möglich zu wahren.7 Zudem drehten viele Regisseure ohne festes Drehbuch und ohne vorher verfasste Dialoge, um eine größtmögliche Unmittelbarkeit und realitätsnahe Willkür zu wahren, allen voran Luchino Visconti in La terra trema. 8 Der neorealistische Film enthält auch eine außergewöhnliche körperliche Komponente, eine starke Sinnlichkeit, die bis dato nicht derart erfahrbar gewesen ist.

Eine weitere wichtige Rolle spielt das soziale Milieu, in das die Figuren eingebunden sind. Charakterisiert wird es nicht nur durch lange Kamerafahrten, die viel von der Landschaft zeigen- auch die Sprache der Figuren, oftmals dialektaler Natur und deren Art sich zu bewegen, sind entscheidende Merkmale der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, die im neorealistischen Film thematisiert werden.

Abgelehnt wurde eine lineare Erzählweise, das heißt die Konstruktion einer Geschichte gebunden an die herkömmlichen Regeln der Narration. Mit dem Ziel durch den Film der Wirklichkeit so nah wie möglich zu kommen, ist die Filmhandlung, wie auch das reale Leben, teilweise willkürlich, verworren und mit vielen Nebensträngen durchzogen. Die Grundlage für die Geschichte (wenn überhaupt eine vorhanden war) sollte dem Rohmaterial des Alltagserlebens entstammen: aus Zeitungsberichten, eigenen Erlebnissen oder Tagesereignissen.9 Durch eine unkonventionelle Dramaturgie und Erzählstruktur sollte die innere Logik der Erzählung aufgebrochen werden. Dies geschah in Form des episodischen Prinzips, bei dem einzelne Teilhandlungen unverbunden nebeneinander bestehen bleiben. Dem Fragment sollte wieder dessen Bedeutung und damit die einhergehende Tiefe zurückerstattet werden.10 Realisiert wurde dieser Anspruch z.B. durch Montageverfahren, welche keine Spannung erzeugen und zahlreiche Einstellungen, welche die Narration nicht unterstützen. Es wurde viel Raum gelassen für Nebensächlichkeiten und zufällige Begebenheiten, ohne Symbolcharakter oder Entschlüsselungsfunktion.

Die Filme des Neorealismus verfolgten das Ziel, alle bis dato existierenden Schemata zu durchbrechen und jegliche filmische Regeln zu missachten. Laut dem Drehbuchautor und Theoretiker Cesare Zavattini (*1902 - †1989) sind diese nämlich im Grunde eine Kodifizierung von Schranken, die gesprengt werden müssen, was nur durch eine wahrhaftige Nähe des Films zur Wirklichkeit geschehen kann.11

Es sollte ein vollkommener Neuanfang im italienischen Film gewagt werden – eine Befreiung von den Schrecken und Zwängen des zweiten Weltkrieges und eine neue, spürbare Nähe zum Menschen. Dieser neue Film sollte den Konventionen nicht folgen sowie anti-rhetorisch, schmucklos und wahr sein.12 Zavattini schreibt über den neorealistischen Film, dass die darin wiedergespiegelte Alltagswirklichkeit von keinerlei Banalität zeugt – sondern im Gegenteil, dass jeder Augenblick reich und mit gesellschaftlicher Verantwortung beladen ist.13

III. Pasolini und der italienische Neorealismus

i. Accattone – ein neorealistischer Film?

Pasolini stand der Bewegung des italienischen Neorealismus, insbesondere der neorealistischen Literaturbewegung, durchaus kritisch gegenüber.14 Außerdem verachtete er Grenzen und Einschränkungen jeder Art.15 Tatsächlich sind in seinen Filmen daher oftmals anti-neorealistische Tendenzen erkennbar. Neorealistische Filme orientieren sich an einer offenen Episodik, einer naturalistischen Sentimentalität sowie an einem populistischen Optimismus. Pasolinis Werke orientieren sich kaum an diesen Charakteristika. Zusätzlich dazu ist bei Accattone eine starke mythisierende Tendenz in der Bildästhetik erkennbar, was ebenfalls nicht typisch für die neorealistische Bewegung war. Wolfram Schütte beschreibt diese mit den folgenden Worten:

„Die Ästhetik Accattones orientiert sich […] an der drastischen Realistik und Monumentalität des ersten Renaissance-Malers Masaccio, an der „sakralen“ Einfachheit Dreyers, […] an dem protestantischen Barock Bachs und der katholischen […] Form der Passion, welche Accattones Weg in Tod und Erlösung von den weltlichen Übeln einer dantesken Hölle der Existenz zu einer exemplarischen Folge von Stationen immer tieferen Leidens […] verdichten.“16

Weitere anti-kanonische Merkmale im Film Accattone sind beispielsweise die Synchronisation von Stimmen und die musikalische Untermalung des Geschehens. Pasolini selbst betrachtet seinen ersten Film als postneorealistisch. Seiner Meinung nach war der Neorealismus in Italien der filmische Ausdruck des Wiederstandes gegen den Krieg und Accattone entstand „[…] zu einer Zeit, als der Neorealismus tot war.“17 Dennoch wird Pasolinis Regiedebüt aufgrund inhaltlicher und formaler Kriterien als Spätwerk des italienischen Neorealismus in dessen Kanon aufgenommen.18

[...]


1 Vgl. Engell, Lorenz: Im Bergwerk der Wirklichkeit, in: Sinn und Industrie, Frankfurt/ New York, 1992, S. 160.

2 Vgl. ebd.

3 Vgl. Engell, Lorenz: Im Bergwerk der Wirklichkeit, in: Sinn und Industrie, Frankfurt/ New York, 1992, S. 163f.

4 Vgl. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=7595, (Zugriff am 04.10.2016).

5 Vgl. Engell, Lorenz: Im Bergwerk der Wirklichkeit, in: Sinn und Industrie, Frankfurt/ New York, 1992, S. 166.

6 Vgl. Groß, Bernhard: Pier Paolo Pasolini – Figurationen des Sprechens, Traversen Bd. 9, Berlin, 2008, S. 190.

7 Vgl. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=7595, (Zugriff am 04.10.2016).

8 Vgl. Engell, Lorenz: Im Bergwerk der Wirklichkeit, in: Sinn und Industrie, Frankfurt/ New York, 1992, S. 176.

9 Vgl. ebd. S. 174.

10 Vgl. ebd. S. 175.

11 Vgl. Zavattini, Cesare: Einige Gedanken zum Film, in: Kotulla, Theodor (Hrsg.): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente, Bd. 2: 1945 bis heute, München, 1964, S. 23 f.

12 Vgl. Engell, Lorenz: Im Bergwerk der Wirklichkeit, in: Sinn und Industrie, Frankfurt, New York 1992, S. 162.

13 Vgl. Zavattini, Cesare: Einige Gedanken zum Film, in: Kotulla, Theodor (Hrsg.): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente, Bd. 2: 1945 bis heute, München, 1964, S. 2.

14 Vgl. Parigi, Stefanie: Pier Paolo Pasolini – Accattone, Universale Film, Torino, 2008, S. 30 ff.

15 Vgl. Witte, Karsten: Die Körper des Ketzers. Pier Paolo Pasolini, Traversen Band 4, 1998, Berlin, S. 39.

16 Schütte, Wolfram: Accattone. 1961, in Pier Paolo Pasolini, Reihe Film 12 (Hrsgb. W.Jansen, Peter/ Schütte, Wofram), München, 1977, S. 106.

17 Interview mit Jon Halliday in: Pasolini über Pasolini. Im Gespräch mit Jon Halliday, Wien/ Bozen, 1995.

18 Vgl. Glasenapp, Jörn: Abschied vom Aktionsbild. Der italienische Neorealismus und das Kino der Moderne, München, 2013, S. 52.

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Details

Titel
Ein Außenseiter unter Außenseitern? Pier Paolo Pasolinis "Accattone" (1961) und die formale Inszenierung des Außenseiters
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
15
Katalognummer
V540707
ISBN (eBook)
9783346171580
ISBN (Buch)
9783346171597
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pier Paolo Pasolini, Accattone, Inszenierung des Außenseiters, Italienischer Neorealismus
Arbeit zitieren
Giulia Friedrich (Autor:in), 2016, Ein Außenseiter unter Außenseitern? Pier Paolo Pasolinis "Accattone" (1961) und die formale Inszenierung des Außenseiters, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/540707

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