Deutschland und der Mindestlohn. Analyse eines politischen Prozesses


Seminararbeit, 2018

35 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorie
2.1 Polity, Policy, Politics
2.2 Der Policy-Cycle
2.3 Mindestlohn

3. Mindestlohn in Deutschland
3.1 Einordnung in den Policy-Cycle
3.1.1 Problemdefinition und Agenda Setting
3.1.2 Politikformulierung und -implementierung
3.1.3 Politikevaluierung und -terminierung

4. Fazit

5. Anhang

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Das politische Dreieck

Tabelle 1: Analytische Dimensionen der Politik

Abbildung 2: Der Policy-Cycle

Tabelle 2: Phasen-Perspektiven der Politikentwicklung

Abbildung 3: Tarifbindung der Arbeitnehmer in Deutschland bis 2014 in Prozent

Abbildung 4: Entwicklung des Niedriglohnsektors in Deutschland von 1995 bis

Tabelle 3: Verteilung der Niedriglohnbeschäftigten im Jahr 2014 in Prozent

Abkürzungsverzeichnis

AEntG Arbeitnehmer-Entsendegesetz

BDA Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

BDI Bundesverband der Deutschen Industrie e.V.

CDU Christlich Demokratische Union

CSU Christlich Soziale Union

DGB Deutscher Gewerkschaftsbund

DIHK Deutscher Industrie- und Handelskammertag

ESC Europäische Sozialcharta

EU Europäische Union

FDP Freie Demokratische Partei

GG Grundgesetz

IAB Interactive Advertising Bureau

IG BCE Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie

IG Metall Industriegewerkschaft Metall

ILO International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation)

MiLoG Mindestlohngesetz

OECD Organisation for Economic Co-operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

SchwarzArbG Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschland

TAStG Tarifautonomiestärkungsgesetz

TVG Tarifvertragsgesetz

Ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft

ZDH Zentralverband des Deutschen Handwerks

1. Einleitung

Jüngst berichtete die Tagesschau, dass die Mindestlohnkommission die Anhebung des Mindest­lohns für die kommenden Jahre vorgeschlagen hat. So soll der Betrag 2019 von derzeit 8,85 Euro auf 9,19 Euro und im darauffolgenden Jahr 2020 auf 9,35 Euro pro Arbeitsstunde steigen. Diese geringe Anhebung der Lohnuntergrenze wird von den Linken, die gegenwärtig zwölf Euro fordern, stark kritisiert. (vgl. Tagesschau 2018b) Aber auch im Internet wird dieses Vorhaben kritisch diskutiert, so zum Beispiel in den Kommentaren der Nutzer des Onlineangebots der Tagesschau. Die Diskussion über die soziale Gerechtigkeit, speziell über einen Mindestverdienst für Arbeitnehmer, erhitzt die Gemüter. Jedoch polarisiert dieses Thema nicht erst seit heute. Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestags, einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ab Januar 2015 einzuführen, sollte in der Bundesrepublik Deutschland eine Armutsgrenze gezogen und die Diskussionen beigelegt werden. Allerdings waren nach dem Beschluss der Großen Koalition die Oppositionsparteien mit dem Gesetz nicht vollends zufrieden. (vgl. Deutscher Bundestag 2014a) Während es in Deutschland schon Jahre vor der Initiierung des Gesetzes immer wieder Diskurse über die Einführung einer solchen Lohnuntergrenze gab, wurde der Mindestlohn in anderen europäischen Ländern sowie in den Vereinigten Staaten von Amerika zumindest in Teilen eingeführt. (vgl. Schulten 2006: 14) Im Jahre 1908 wurde erstmals in Großbritannien eine gesetzliche Mindestlohnbestimmung beschlossen, die allerdings erst Ende der 1990er Jahre in einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn umgeformt wurde. Das Gleiche passierte, wenn auch früher und in einem kürzeren Zeitraum, in den USA. Bereits 1912 verabschiedete der Bundesstaat Massachusetts ein Mindestlohngesetz, ehe 1938 mit der Verabschiedung des Fair Labor Standards Act dieses auch national flächendeckend eingeführt wurde. Neben den USA und Großbritannien führten vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr Staaten einen nationalen gesetzlichen Mindestlohn ein, nachdem die Mindestlohnregelungen zuvor immer nur für bestimmte Branchen oder Berufsgruppen galten. (vgl. ebd.) So gab es auch in Deutschland über Jahrzehnte hinweg nur bestimmte Branchen, in denen Arbeitnehmer mit Hilfe von Gewerkschaften mit ihren Arbeitgebern einen Lohn aushandelten, Stichwort Tarifautonomie. Wie kam es jetzt aber in Deutschland zu einem Umdenken und einer Einführung des Mindestlohns? In dieser Arbeit soll dieser Frage nachgegangen werden: Wie kam der nationale gesetzliche Mindestlohn im politischen Prozess in Deutschland zustande? Es soll eine politikwissenschaftliche Untersuchung der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns stattfinden. Um den Verlauf dieser Einführung genauer betrachten zu können, soll das Modell des Policy-Cycle verwendet werden, welches versucht, die einzelnen Aspekte, wie beispielsweise die Problemstellung, die Auseinandersetzung im politischen Prozess und die Umsetzung des Gesetzes, in Phasen einzuteilen und so die Analyse des politischen Prozesses zu simplifizieren. In diesem wissenschaftlichen Beitrag soll zunächst auf das Modell des Policy-Cycle auf Basis der drei Politikdimensionen eingegangen werden, welches die darauffolgende Analyse der Mindestlohneinführung in Deutschland ermög­licht. Danach wird der Mindestlohn – sein Zweck sowie seine Nachteile und Vorzüge – objektiv erläutert. Für diese Arbeit werden Lehrbücher über die Policyanalyse herangezogen, vor allem „Politikfeldanalyse“ (2011) von Sonja Blum und Klaus Schubert und „Phasenmodelle und Politikprozesse“ (2014) von Werner Jann und Kai Wegrich. Für die Erläuterung des Mindestlohns in der Theorie und die anschließende Darstellung der Empirie im Policy-Cycle sind neben den Wahl- und Regierungsprogrammen der Parteien insbesondere „Mindestlohn – eine kritische Einordnung“ (2009) von Daniel Nermerich, „Arm trotz Arbeit? Zum Für und Wider von Mindestlöhnen“ (2011) von Barbara Reeb und Malte Krome sowie „Ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland“ (2014) von Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf zu nennen.

2. Theorie

Der Policy-Cycle, welcher für die Untersuchung des politischen Prozesses bezüglich des Mindestlohns in Deutschland als theoretische Grundlage dient, ist in fünf beziehungsweise sechs Phasen aufgeteilt, die im Folgenden dargestellt und erläutert werden. Zuvor soll aber auf die Politikdimensionen der Polity, Policy und Politics eingegangen werden, aus welchen der Cycle resultiert. Die Ausführungen zu den drei Dimensionen sollen zum Grundverständnis des politikwissenschaftlichen Vorgehens beitragen. Im Anschluss daran ist es noch von Nöten, das theoretische Verständnis für den Mindestlohn in einem kurzen Abriss zu Grunde zu legen, um zu verstehen, wie dieser funktioniert und welche Vor- und Nachteile die Einführung einer Lohnuntergrenze mit sich bringen könnten.

2.1 Polity, Policy, Politics

Neben dem Policy-Cycle gibt es noch weitere Ansätze beziehungsweise Theorien, welche zu analysieren versuchen, wie eine Policy im politischen Prozess zustande kommt und welche Personen und Gruppen Einfluss darauf nehmen. Diese Einwirkung der jeweiligen Protagonisten auf die Politik im politischen Prozess ist schon vielfach definiert worden. (vgl. Böhret/Jann/Kronenwett 1979: 1-3) So reichen die Definitionen von Politik als Mittel zum Zweck zur Machtdurchsetzung, über Politik als Kunst bis hin zur Politik als Komplexität aller sozialen Prozesse. Um nach vielen weiteren Politikdefinitionen die Phänomene der empirischen Wirklichkeit adäquat untersuchen zu können, wurden die drei Dimensionen der Politik eingeführt. Denn, so schreibt der Politikwissen­schaftler Thomas Meyer, „Politik findet im gleichzeitigen wirksam Werden dieser drei Dimensionen [Polity, Policy, Politics] statt“ (Meyer 2000: 55).

Abbildung 1: Das politische Dreieck

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Meyer 2000: 56.

Abbildung 1 versucht die drei Politikdimensionen und ihr Verhältnis zueinander graphisch zu erfassen. Bei den Dimensionen handelt es sich um die Polity (Form), die Policy (Inhalt) und die Politics (Prozess). Die Polity gibt die Formen vor, in denen die Politik abläuft. Sie zielt auf die staatliche Ordnung ab, in welcher politische Strukturen auf Basis gemeinsamer politischer Werte geschaffen werden. Inkludiert sind hierbei neben Gesetzen und Regeln auch Institutionen, wie beispielsweise das Parlament und die Gerichte. Die Dimension der Polity legt fest, welche der Institutionen mit welchen Kompetenzen am politischen Prozess teilnehmen, wie sie legitimiert sind und in welchem Grad sie an den politischen Entscheidungen beteiligt sind. Diese staatlichen Strukturen sind in der Verfassung des jeweiligen Staates fest- und niedergeschrieben und bilden so die Grundlage des politischen Gemeinwesens. (vgl. Böhret/Jann/Kronenwett 1979: 4 f.; Meyer 2000: 53; Patzelt 2013: 30) Die Policy dagegen betrifft die Inhalte der Politik. Akteure der politischen Arena versuchen durch ihre Inhalte, welche wiederum auf deren Werten und ideologischen Zielen basieren (sollten), ihre Interessen durchzusetzen und somit das Zusammenleben in einem Staat zu gestalten. Die Akteure gestalten und agieren nicht nur, sondern sie reagieren auch. Sie erkennen aktuelle Probleme und wollen diese, wieder unter der Rückbesinnung auf ihre Werte und Interessen, lösen. Es ist hierbei offensichtlich, dass sich die jeweiligen Werte, Interessen und Ziele der politischen Akteure voneinander unterscheiden. Es existieren unterschiedliche Politikpro­gramme der verschiedenen politischen Lager, die sich inhaltlich gegenüberstehen. Bezogen auf den Mindestlohn gibt es Parteien, die für eine Einführung des Mindestlohns mit Festsetzung von staatlicher Seite eintreten und andere, welche dieser Idee kritisch bis ablehnend gegenüberstehen und eine differente Vorstellung von einer Existenzsicherung der Arbeitnehmer haben.

Tabelle 1: Analytische Dimensionen der Politik

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Pelinka/Varwick 2004: 29.

Infolgedessen kommt es zu erwartenden Widersprüchen und Konflikten, welche dann im demokratischen politischen Prozess ausgehandelt werden. (vgl. Böhret/Jann/Kronenwett 1979: 5; Meyer 2000: 55; Patzelt 2013: 29) Der Begriff der Politics meint ebendiese politischen Prozesse, in denen „darum gerungen wird, bestimmte Inhalte allgemein verbindlich“ (Patzelt 2013: 29) zu machen. Zu nennen sind die Willensbildungs-, die Entscheidungsfindungs- und die Implementationsprozesse. In Ersterem wird diskutiert, welche Policy allgemein verbindlich umgesetzt werden soll, abhängig von den jeweiligen Überzeugungen und Ideologien der Akteure. Der zweite Prozess beinhaltet die genauen Beschlüsse und Regeln der Policy. Der Implementationsprozess beschreibt in der Folge die Umsetzung der konkreten Maßnahmen. In diesen genannten Prozessen versuchen die jeweiligen Akteure durch das Einsetzen von Machtressourcen zu einem Kompromiss oder Konsens zu gelangen. (vgl. Böhret/Jann/Kronenwett 1979: 5 f.; Meyer 2000: 55; Patzelt 2013: 29) Die Unterteilung in die drei Politikdimensionen soll die Analyse empirischer Sachverhalte erleichtern. Allerdings sind sie nicht komplett voneinander zu trennen. So bildet die Polity zunächst die konstitutionelle und institutionelle Grundlage für Policy und Politics. Darauf aufbauend verändert eine bestimmte Policy, welche innerhalb der Politics statt­findet, Gesetze, Regeln sowie Institutionen und formt im Endeffekt somit auch die anderen Dimensionen um. (vgl. Böhret/Jann/Kronenwett 1979: 7; Meyer 2000: 55 f.; Patzelt 2013: 28-30) Policy, Polity und Politics befinden sich mehr oder weniger in einem permanenten Veränderungsfluss. Eine einseitige Betrachtung der Politikdimensionen ist daher zu vermeiden, da diese offenkundig miteinander verschränkt und nicht trennscharf sind. Tabelle 1 zeigt eine Zusammenfassung der Dimensionen und ihrer Fragestellungen.

2.2 Der Policy-Cycle

Das Modell des Policy-Cycle, ein „heuristischer Orientierungsrahmen“ (Blum/Schubert 2011: 104), greift nun alle drei Dimensionen der Politik auf. Er stellt einen politischen Prozess (Politics) dar, welcher auf einer Grundordnung des Gemeinwesens fußt (Polity) und die Inhalte (Policies) als immanenten Teil des politischen Prozesses innerhalb politischer Systeme1 untersucht. Er ordnet die zu behandelnde Thematik, strukturiert diese und reduziert ihre Komplexität. (vgl. ebd.: 134) Abbildung 2 zeigt die verschiedenen Phasen des Modells: Problemdefinition – Agenda Setting – Politikformulierung – Politikimplementierung – Politikevaluierung. Erzielt die implementierte Policy einen erfolgreichen und gewünschten Effekt in der Realität, so stellt die Politikterminierung den Ausweg aus dem Politikzyklus dar.

Abbildung 2: Der Policy-Cycle

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Jann/Wegrich 2014: 106.

Problemwahrnehmung und Agenda Setting

Die Problemwahrnehmung, die erste Phase des Politikzyklus‘, setzt die Existenz eines politisch zu lösenden Problems voraus. Dieses wird als solches wahrgenommen, „wenn nach normativen Grundsätzen eine Differenz zwischen Ist-Zustand und Soll-Wert auftritt“ (Blum/Schuster 2011: 109). Wird das Problem als solches erkannt und von den politischen Akteuren definiert, artikulieren sie dieses nach außen in die Öffentlichkeit. (vgl. Jann/Wegrich 2014: 107) Erkennen Regierungen bestimmte Problemfelder nicht und beziehen sie nicht in ihre Überlegungen mit ein, können Inte­ressensgruppen oder andere politische Akteure auf bestimmte Problematiken hinweisen (issue raising). (vgl. Blum/Schubert 2011: 109) Um eine bestimmte Problemwahrnehmung zu erzeugen, können aber auch aktuelle Stimmungen in und außerhalb des politisch-administrativen Systems aufgefangen und zur Dramatisierung der Probleme von politischen Akteuren genutzt werden (framing). (vgl. Jann/Wegrich 2014: 107) Die Problemwahrnehmung im Phasenmodell impliziert, dass zuerst Probleme erkannt werden und dann mit Gegenmaßnahmen darauf reagiert wird. Oftmals existieren aber auch schon Lösungen für Probleme, die noch gar nicht aufgekommen, aber zu erwarten sind. So werden Pläne beziehungsweise Programme angefertigt, die zurückgehalten werden, um dann im passenden Moment reagieren zu können.2 (vgl. Blum/Schuster 2011: 110) In Demokratien findet die Problemwahrnehmung und die Auseinandersetzung damit in der Öffentlichkeit statt. (vgl. Jann/Wegrich 2014: 108) Die erkannten und zur Debatte stehenden Probleme werden in den Massenmedien diskutiert, wobei Experten über die bestimmten Themen informieren und Politiker dazu Stellung beziehen. (vgl. Blum/Schuster 2011: 111)

In der zweiten Phase, dem Agenda Setting, findet nun eine „Entöffentlichung“ (ebd.) der Diskussion statt. Nur noch wenige Akteure, wie Experten, Interessensgruppen und die Ministerialbürokratie, haben dann Einfluss auf das Agenda Setting. (vgl. Jann/Wegrich 2014: 108 f.) Diese Akteure des offiziell-politischen Raums entscheiden über die Handlungsrelevanz hinsichtlich der in der ersten Phase erkannten und artikulierten Probleme. (vgl. Blum/Schuster 2011: 111 f.) Die öffentliche Agenda wird von Cobb und Elder so definiert: „All issues that are commonly perceived by members of the political community as meriting public attention and as involving matters within the legitimate jurisdiction of existing governmental authority.“ (Cobb/Elder 1972: 85) Diese Definition lässt aber auch eine Nicht-Berücksichtigung der Probleme beim Agenda Setting zu, da nur die Sachfragen in die Agenda aufgenommen werden, welche der politischen Gemeinschaft als sinnvoll erscheinen. John Kingdon erklärt dies so:

„Out of the set of all conceivable subjects or problems to which officials could be paying attention, they do in fact seriously attend to some rather than others. So the agenda-setting process narrows this set of conceivable subjects to the set that actually becomes the focus of attention.“ (Kingdon 1984: 3 f.)

Howlett und Ramesh untersuchen mit insgesamt vier Typen des Agenda Settings, welche Themen aus welchen Gründen auf die Agenda gebracht werden. (vgl. Howlett/Ramesh 2003: 140) Explizit sind hier zwei der insgesamt vier Typen zu nennen, da diese den Einfluss der Öffentlichkeit auf das Agenda Setting beschreiben, während die anderen beiden die eben angesprochene Entöffentlichung aus der Sicht des Staates veranschaulichen. Bei dem Typus der Konsolidierung setzen die staatlichen Akteure ein Thema auf die Agenda, dessen Problemlösung sowieso schon eine hohe öffentliche Unterstützung in der Gesellschaft erfährt. (vgl. Blum/Schuster 2011: 113) Der zweite Typus entspricht der Input-Forderung nach Easton, bei welchem ein Thema beziehungsweise ein Problem von außen, von der Gesellschaft, an das politisch-administrative System herangetragen wird. Dieses wird dann vom politisch-administrativen System aufgenommen, da es unter der Bevölkerung eine hohe Popularität besitzt. (vgl. ebd.) Auf der anderen Seite besteht aber auch die Möglichkeit des politischen Systems die gesellschaftlichen Probleme systematisch zu ignorieren. (vgl. Jann/Wegrich 2014: 108) Auch diese Entscheidung stellt einen politischen Akt des Systems dar (non-decision). (vgl. Bachrach/Baratz 1977) Mit der Artikula­tion bestimmter Themen und Problematiken findet oftmals ein fließender Übergang zwischen der Problemwahrnehmung und dem Agenda Setting statt. In Bezug auf die Untersuchung des Mindestlohngesetzes in Deutschland wird diese Trennung ebenfalls nicht leicht zu vollziehen sein, da das Problem der geringen Einkommen in Teilen der deutschen Bevölkerung gleichsam ein Agenda Setting der Parteien und Gewerkschaften bedeutet.

Politikformulierung und Entscheidungsfindung

In der Phase der Politikformulierung erfolgt die Einschätzung der Problemsituation und die Formulierung der bestimmten Ziele und Mittel für die zu bearbeitende Problematik. (vgl. Blum/Schuster 2011: 116) Das Problem sollte in seiner ganzen Tragweite erkannt und aufgrund dessen detaillierte Problemlösungen erarbeitet werden. Eine fehlerhafte Einschätzung und Formulierung der Problematik führt nicht zu einer Problemreduktion und in der Folge zu keiner Verbesserung der Ausgangssituation. (vgl. ebd.) Findet keine erfolgreiche Formulierung und keine darauf basierende Implementierung statt, kommt es zu einer Reformulierung und Reimplementierung der Problemlösung. Die Phase der Politikformulierung öffnet sich nach außen und bezieht nicht nur die Volksvertreter, sondern auch Interessensverbände, Wirtschaftsunternehmen und Experten in die Formulierung einer Lösung mit ein. (vgl. Jann/Wegrich 2014: 113 f.) Dennoch obliegt den politischen Akteuren, also den Parlamentariern und den Regierungen, die federführende Funktion, da sich aus den Vorschlägen und Forderungen staatliche beziehungsweise parteiliche Programme entwickeln. In der logischen Folge werden die jeweiligen ausgearbeiteten politischen Programme nicht Eins zu Eins nach dem politischen Diskurs übernommen. Da es in den seltensten Fällen die eine richtige Lösung gibt, wird zwischen den verschiedenen Diskussionsparteien (Parteien, Interessensverbände, Experten) ein Mittelweg aus den unterschiedlichen Handlungsalternativen auf formellen und informellen Wegen erarbeitet und somit ein Kompromiss geschlossen. (vgl. Blum/Schuster 2011: 117 f.; Jann/Wegrich 2014: 110) Zur Beantwortung der Forschungsfrage sollen die verschiedenen Positionen der Parteien und Gewerkschaften mit ihren jeweiligen Forderungen untersucht und anhand des aktuellen Mindestlohngesetzes erfasst werden, welche Diskussionspartei sich am ehesten durchsetzen konnte. Bei der darauffolgenden Entscheidungsfindung wird über die Politikformulierung entschieden, welche sich zuvor als konsensgebundene Handlungsalternative herausgebildet hat. Diese Entscheidung obliegt allerdings wiederum nur den politischen Akteuren im politisch-administrativen System. (vgl. Blum/Schuster 2011: 120 f.) Letztendlich trifft die Entscheidung über die Gesetze das deutsche Parlament: der Deutsche Bundestag. Um es mit den Worten von Howlett, Ramesh und Perl auf den Punkt zu bringen: „When it comes time to decide on adopting a particular option, the relevant group of policy actors is almost invariably restricted to those with the authority to make binding public decisions.“ (Howlett/Ramesh/Perl 2009: 140) Bei Abstimmungen über Ge­setzesanträge kann es zu positiven oder negativen Entscheidungen kommen. (vgl. ebd.: 139) Eine positive Entscheidung sorgt im besten Falle für eine Veränderung der Ausgangslage. Eine negative Entscheidung hingegen lehnt die ausgearbeitete Policy ab und führt zu keiner Änderung des Status Quo. Wird eine positive Entscheidung für die erarbeitete Handlungsalternative gefällt, geht der Zyklus in die nächste Phase über: die Politikimplementierung.

Politikimplementierung

In der Phase der Implementierung werden die konkreten Maßnahmen um- und durchgesetzt. (vgl. Blum/Schuster 2011: 125) Dieser Teil des Politikzyklus‘ entscheidet über den Erfolg oder Misserfolg eines konkreten politischen Inhalts. (vgl. Jann/Wegrich 2014: 114) Die auf dem Papier erarbeiteten Gesetze und Regulationen werden nun in der Praxis angewendet, wobei es jedoch zur Ineffizienz bei der Durchsetzung der von der parlamentarisch festgesetzten Politik durch die Verwaltung kommen kann. Oftmals werden die politischen Programme unzureichend oder gar nicht umgesetzt. (vgl. Blum/Schuster 2011: 125 f.) Dies hängt vor allem damit zusammen, dass „häufig eine Lücke zwischen den ursprünglichen politischen Zielen und der realen administrativen Praxis aufklafft“ (ebd.: 128). Der Staat versucht die Wirkung des Programms durch Policy-Instrumente zu gewährleisten. Hierbei stehen ihnen verschiedene Arten von Instrumenten zur Verfügung: regulative Instrumente (Gebote, Verbote, Genehmigungspflichten), finanzielle Instrumente (positive/negative Anreize, Leistungs- und Unterstützungsprogramme) und Informationsinstrumente (Aufklärung, Werbung). (vgl. Jann/Wegrich 2014: 115 f.) Während regulative Instrumente einen Kontrollmechanismus darstellen, werden finanzielle Anreize oft ausgenutzt. Vielerorts kommt es deshalb zur Mittelverschwendung und Ineffizienz. Infolge der nicht funktionierenden Programmdurchsetzung muss die Phase der Implementierung genauestens untersucht werden.3 Sind die Umsetzungsfehler der Handlungsstrategie gefunden, so muss die Policy nach der anschließenden Bewertung (Evaluierungsphase) eventuell nochmals formuliert werden (Reformulierung). Erneute Reformulierungen finden beispielsweise im aktuellen Mindest­lohngesetz permanent von Seiten der Mindestlohnkommission statt, da die Höhe des Mindestlohns pro Stunde an die Lohnentwicklung angepasst werden muss.

Evaluierung und Terminierung

Die Evaluierung entscheidet im Anschluss an die Implementierung über die Neuformulierung der Policy oder über die Beendigung des Politikprozesses. (vgl. Blum/Schuster 2011: 129) Die Evaluation ist „im Kern die Prüfung der Effektivität und Effizienz sowie der Wirkungsbedingungen politischer Maßnahmen und Programme“ (Jänicke/Kunig/Stitzel 2003: 64). Die Effektivität und Effizienz der jeweiligen Programme werden anhand formulierter Kriterien untersucht. Dabei kann es sich beispielsweise um die Höhe der Kosten oder den Grad der Zielerreichung handeln. (vgl. Blum/Schuster 2011: 131) Es werden die Resultate und tatsächlichen Wirkungen der Policy erfasst und geben dem politisch-administrativen System die Möglichkeit Kenntnisse über die konkreten Folgen seines Handelns zu gewinnen, daraus zu lernen und die politischen Programme zu verbessern. (vgl. ebd.: 130) Fällt die Bewertung positiv aus, kann der Kreislauf des Policy-Cycle beendet werden. Fällt die Bewertung allerdings negativ aus, kommt es zur Wiederholung einzelner Phasen im Politikzyklus. Eine erneute Problemdefinition oder eine Umformulierung der konkreten Policy wären die Folge. Die Beendigung eines Prozesses ist oftmals allein nicht nur die Folge einer positiven Beurteilung. Eine Politikterminierung kann auch erfolgen, wenn die zu überarbeitende Policy aus finanziellen oder ideologischen Gründen nicht gelöst werden soll.

Tabelle 2 zeigt nochmals eine Zusammenfassung der Phasen des Policy-Cycle Modells ohne die abschließende Politikterminierung.

[...]


1 Die politischen Problemlösungsprozesse finden in einem politischen System statt. Eine Darstellung über die Funktionsweise des politischen Systems entwickelte in den 1960er Jahren der Politikwissenschaftler David Easton. Diese Darstellung gilt als Ausgangsschema für die Policyanalyse. Genauer nachzulesen in: Gellner, Winand/Hammer, Eva-Maria (2010): Policyforschung, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH.

2 Blum und Schuster nehmen hier Bezug zum Garbage-Can Modell von Cohen, March und Olsen (1972).

3 Zur genauen Untersuchung der Implementierungsphase gibt es zwei Ansätze: den Top-Down-Ansatz und der Bottom-Up-Ansatz. Ersterer untersucht die Umsetzung der festgelegten Ziele durch die unterschiedlichen Instanzen von oben nach unten. Letzterer untersucht das Vorgehen auf der administrativen Ebene, welche Probleme und Schwierigkeiten es bei dem Umsetzungsprozess der Policy gibt (von unten nach oben). (vgl. Blum/Schuster 2011: 126-128; Jann/Wegrich 2014: 115-117)

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Deutschland und der Mindestlohn. Analyse eines politischen Prozesses
Hochschule
Universität Passau
Veranstaltung
Policyanalyse - Theoretische und empirische Überlegungen
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
35
Katalognummer
V540647
ISBN (eBook)
9783346171382
ISBN (Buch)
9783346171399
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mindestlohn, Deutschland, Politischer Prozess, Policy, Policy-Cycle, Polity, Politics, Politisches Dreieck
Arbeit zitieren
Markus Schäfer (Autor:in), 2018, Deutschland und der Mindestlohn. Analyse eines politischen Prozesses, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/540647

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