Die anachronistische Raumvorstellung in Tapisserien um 1500 bis 1530


Seminararbeit, 2020

38 Seiten, Note: 2


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1.EINFÜHRUNG

2. Die Tapisserienserie „ Das herrschaftliche Leben “ (1520)
2.1 Millefleurs Tapisserien

3. Die Chaumont Tapisserienserie (1510) und ikonographische Vorläufer

4. Die Tapisserienserie „ Die Geschichte von Lérian et Lauréolle“ (1528)

5. CONCLUSIO

6. LITERATURVERZEICHNIS

7. ABBILDUNSVERZEICHNIS

1. EINFÜHRUNG

In seinem Aufsatz “T extile Bildräume: Anitke/Neuzeit“ versucht Tristan Weddigen sich anhand von Tapisserien vom dominanten kunstgeschichtlichen Diskurs, welcher die Kunst und ihrer Interpretation fernab der Materialität der Kunstwerke betrachtet, zu lösen und auf eine „ medial vielfältige Kunstgeschichte “ aufmerksam zu machen. Trotz der gängigen Ausschreibung des Materials aus der Geschichte der neuzeitlichen Kunst, verweist die Vielzahl an Tapisserien aus dieser Zeit und deren Wirkungsmacht auf eine andere Lebens- und Bilderwelt, welche dieser entmaterialisierten Vorstellung von Kunst widerspricht.

In seiner Auseinandersetzung mit Tapisserien aus der Zeit um 1520 verweist Weddigen auf die Existenz mehrerer paralleler Erzählungen der Kunst der Renaissance. Diese Überlegung bezieht sich nicht nur auf die Einbeziehung des Materials in die Interpretation der frühneuzeitlichen Kunst, sondern auch auf die anachronistische Raumwirkung der Tapisserien, die sich nicht an der Tiefenwirkung und Erfindung der Zentralperspektive orientierte. Weddigen bezeichnet diesen Anachronismus als medienspezifisch und analysiert die Raumvorstellung am Beispiel von (spät)mittelalterlichen nordalpinen Tapisserien (Verduren) und italienischen Groteskenteppichen der Renaissance. Dabei suggeriert er eine Umschreibung der Kunstgeschichte aus der Sicht der behandelten Fallbeispiele und der in ihnen vorkommenden anachronistischen Raumkonstruktion. Zudem betonen die folgenden Beispiele wie das Haptische, also das Material des Kunstwerks und das körperliche Erlebnis des Betrachters auch Teil der damaligen Kunstrezeption waren.1

In dieser Seminararbeit werden, ausgehend von Weddigens Beispiel der Cluny Tapisserienserie, die ikonographische Tradition der anachronistischen Raumkonstruktion (im französischen Raum) angesprochen und weitere Tapisserien die eine stilitische Ähnlichkeit aufweisen und um die gleiche Zeit entstanden sind, vorgestellt. Schließlich wird anhand von der „ Lérian et Lauréolle“ Tapisserienserie die Wirkungsmacht der anachronistischen Darstellung und das Zusammenspiel der Tapisserien mit anderen Medien analysiert.

2. Die Tapisserienserie „Das herrschaftliche Leben“

Das erste Fallbeispiel dem wir uns widmen und an dem sich die textile Raumvorstellung nachvollzeihen lässt, ist eine Tapisserienserie aus dem frühen 16.Jahrhundert, welche sich am Vorbild spätmittelalterlicher flämischer Wandteppiche orientiert. Bei der Tapisserienserie, die Weddigen zur Illustration der nordalpinen Raumwirkung untersuchte handelt es sich um eine sechsteilige Tapisserieserie, genannt „ Das herrschaftliche Leben“(La tenture de la Vie Seigneuriale), welche, wie der Titel bereits suggeriert, Szenen aus dem Leben des Adels zeigt. So sehen wir Darstellungen von Aktivitäten die man allgemein mit der Hofkultur assoziierte, wie z.B einen Edelmann mit einem Adler auf seinem Arm und in Begleitung eines Pagen(Abb.1). Dem folgen die Darstellung einer Stickerin, die von einem Edelmann angesprochen wird(Abb.2) und die Darstellung einer Zusammenkunft von edel gekleideten Damen und Herren, die freizeitlichen Aktivitäten in der Natur nachgehen (Abb.3).

Obwohl die Literatur mit dem der Tapisserienserie 1914 vergebenen Titel versucht hat deren Darstellungen zu deuten, scheint dies wohl nicht ausreichend zu sein, wie Laura Weigert anmerkte. Dabei gilt es eine bestimmtere Deutung und historisch spezifische Funktion der Tapisserien auszumachen. Vielmehr stehen diese Tapisserien in Verbindung zu anderen Werken des Mittelalters und der Renaissance, welche die Rezeption dieser Werke maßgeblich beeinflussten.2

Die wahrscheinlich in Brüssel gewirkten Tapisserien befinden sich heute im Mittelaltermuseum Cluny in Paris (Musee National du Moyes Age- Therms du Cluny in Paris). Das Museum hatte bereits 1852 die Tapisserien von einem privaten Sammler abgekauft, wobei keine weiteren Angaben zu den Auftraggebern oder der Entstehung der Tapisserien bekannt sind. Die Tapisserien zeichnen sich durch einen reich geblümten Hintergrund aus, auf dem scheinbar willkürlich angeordnete Figuren zu sehen sind, die kaum Bezug zueinander haben. Das Verhältnis von Hintergrund und Figuren lässt die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Das „ unendliche Blumenparadies “, wie es Weddigen bezeichnet, bot dem Betrachter ein immersives Erlebnis, da solche Tapisserien ganze Wände eines Zimmers einkleideten.3 Laura Weigert verbindet dieses Phänomen mit dem damaligen Liebesdiskurs und argumentierte, dass die Cluny Tapisserien den Betrachter zu einer historisch spezifischen Betrachtung einladen. Sogar die Eigenheiten der Darstellung, die man früher als fehlerhaft bezeichnet hätte, tragen zu dieser historischen Betrachtung bei und beeinflussen die Wahrnehmung des Betrachters. Daher ist für das Verständnis der Cluny Serie die ursprüngliche Funktion der Tapisserien äußerst wichtig. Leider wurde in der theoretischen Auseinandersetzung mit Tapisserien die Besonderheit des Mediums vernachlässigt und auch in der Deutung der Werke ausgelassen, da man sich vielmehr mit dem Dargestellten im Sinne der Bilder befasste. Zudem hat auch die Musealisierung der Tapisserien deren ursprüngliche Ausstellung außer Acht gelassen und führte zum Verlust der eigentlichen Wirkungsmacht der Tapisserien und deren Dekontextualisierung. Historisch gesehen haben die Tapisserien ganze Räume bedeckt.4 Sie dienten ursprünglich zur Isolation und zum Wärmeschutz und hatten einen dekorativen und praktischen Charakter, waren aber auch kostbare und repräsentative Gegenstände, welche Teil öffentlicher Zeremonien und besonderer Anlässe waren.5

Die Cluny Tapisserienserie entsammt einer Zeit zu welcher Tapisserien als architektonische Rahmung verstand wurden und eine architektonische Funktion hatten. Sie wurden nicht einzeln, sondern als eine Einheit aufgefasst und bildeten ganze Räume, sog. chambres, wo sich der Adel zurückziehen oder mit anderen Adeligen treffen, nachdenken und austauschen konnte. Passend zu den Tapisserien gab es auch Vorhänge und Möbelbezüge, die Teil der Dekoration für den alltäglichen Gebrauch waren. Aus schriftlichen Quellen dieser Zeit wird ersichtlich, dass die Tapisserien nicht nur als Dekoration, sondern als Raum-schaffendes Medium verstanden wurden bzw. dass sie nicht nur Räume einkleideten, sondern sie auch erzeugten und neue Räume hervorbrachten.6

Tapisserienserien wie die Cluny Serie wurden aufgrund ihrer Thematik als „c hambres d’amour“ d.h Zimmer der Liebe bezeichnet. Um die damalige Vorstellung von Liebe verstehen zu können, müssen wir uns der Tradition der Hofkultur widmen, dessen Ursprung in der Liebeslyrik des 12.Jhs zu finden ist. Allgemein zeichnet sich die Liebeslyrik durch die Begierde des lyrischen Ichs aus, meistens einer männlichen Person, eines adeligen Ritters, dessen Liebe unerwIdert ist. Es geht weniger um die Handlung, sondern vielmehr um den Gefühlszustand des Protagonisten, des Sängers oder des Schriftstellers. Der Zustand des Begehrens, die Suche nach Liebe, der Versuch der Eroberung, das Ausdrücken der Gefühle werden geschildert und wurden in ihrer Reinheit betont.7 Die höfische Liebe war äußerst ideologisch und von Konventionen und Regeln geprägt. Bücher wie Der Rosenroman von Guillame de Lorris, Das Buch von der Stadt der Frauen von Christine de Pizan oder Das Gefängnis der Liebe von Diego de San Pedro waren beliebte Werke, welche die höfische Vorstellung von Liebe maßgeblich geprägt haben und in verschiedenen Medien wie Manuskripten, Holzschnitten oder Tapisserien aufgegriffen wurden. Die Mehrheit höfischer Darstellungen richtet sich an literarischen Quellen des Mittelalters, verbindet aber diese mit zahlreichen Allegorien oder christlichen und religiösen Anspielungen.8

In der höfischen Tradition war der Garten ein Ort, an dem man zusammengefunden hat, bekannt auch als „ locus amoenus “—ein Ort des Liebens und Begehrens. Jedoch suggeriert hier der Begriff der Liebe etwas Allgemeines, nämlich den Zustand des Liebens, der durch das Dasein im Garten manifestiert wird. Während der dargestellte Garten der Cluny Serie das Gefühl der Liebe und Kontemplation anregte, haben die dargestellten Figuren die verschiedenen Stadien der Liebe symbolisiert: wie z.B die Darstellung der Dame(Abb.), die vom Adeligen besungen wird und dessen Lebensfaden sie ähnlich einer Schicksalsgöttin in ihrer Hand hält, symbolisiert die Eroberung und das Liebesgeständnis. Die Tapisserie mit der badenden Dame(Abb.4,) soll den Betrachter an die Schönheit seiner Liebe erinnern und war vermutlich das zentrale Objekt der Tapisserienserie. Der Spaziergang (Abb.5)symbolisiert die Stadien der Verlobung und Hochzeit. Die Stickerin (Abb.2), welche die Initiale Christi in den Kissenbezug einstickt, erinnert mit ihrer Frömmigkeit an die Gottesmutter und symbolisiert die Keuschheit und die Reinheit der Liebe. Die Jagd(Abb.1) zeigt einen Edelmann mit einem Adler auf seiner Hand, was manchen Annahmen nach als Triumph der Liebe über die Feigheit gedeutet werden kann.9 Wichtig und auffallend in Zusammenhang mit diesen Tapisserien ist, dass es keine bestimmte Reihenfolge der Darstellungen oder eine vorgegebene Lesart gibt. Vielmehr werden Anhaltspunkte und bestimmte Momente gezeigt, die einen Gefühlszustand oder ein Erlebnis beim Betrachter auslösen sollen. Dadurch wird der persönliche Bezug des Betrachters zum Werk hervorgehoben, da er selbst die Erzählung erschaffen kann.

Die einzelnen Darstellungen der Cluny Serie nehmen meistens auch Bezug auf ikonographische Vorbilder und andere bildliche oder schriftliche Quellen— z.B können wir Die badende Dame (Abb.4) mit dem Thema Die Susanna und den beiden Alten oder Batseba im Bade assoziieren. Die Tapisserie Die Spinnerin (Abb.6) kann Erzählungen wie die von Tristan und Isolde in Erinnerung rufen. Nicht nur dass die Beweglichkeit des Mediums eine festgelegte Anordnung ablehnte, sondern sich auch die dargestellten Figuren wehren, zum Teil einer vorbestimmten Erzählung zu werden, nicht nur im Kontext der Tapisserien, sondern auch als Teil neuer Erzählungen mit welchen man sie assoziieren könnte. Da sich die Figuren kaum aufeinander beziehen, fällt es uns schwer eine Abfolge der Tapisserien festzulegen, da kein Zusammenhang für uns ersichtlich ist. Dies wurde der Herstellungstechnik zugeschrieben, weil die Weberinnen mithilfe von Kartons die Figuren beliebig einsetzen und mehrfach wiedergeben konnten. Im Falle der Cluny Serie ist diese angeblich fehlerhafte Darstellungsart jedoch gewollt und diente der damaligen Wahrnehmung.10

Die Cluny Tapisserien zeigen Aktivitäten wie Jagen, Beschenken, Spazieren und Weben, die allgemein beliebte Motive höfischer Tapisserien waren und sich daher wiederholt auf anderen Tapisserien finden lassen, wie z.B an der Musizierende Dame des Anger Museums (Abb.7) oder dem Spaziergang des Art Institute Chicago (Abb.8) Wie Weigert anmerkt, erinnert die Wiederholung der Figuren der Cluny Serie und deren scheinbar willkürliche Anordnung an den Aufbau der höfischen Liebeslyrik des 12.Jahrhunderts., die sich durch eine begrenzte Anzahl an Motiven auszeichnete, die auch einzeln eingesetzt und hauptsächlich in verschiedenen Variationen gereiht bzw. wiederholt wurden. Die Liebeslyrik, sowie die Cluny Tapisserien sollen als ein Geschehen oder Performance verstanden werden, die als Mittel zur Kommunikation dienten und die BetrachterInnen/LeserInnen zum Austausch anregen sollten. Die Auswahl bestimmter Darstellungen der Cluny Serie konnte beim Betrachter das Gefühl der Liebe z.B durch eine interaktive Handlung wie etwa das Vortragen eines Liebesgedichts hervorrufen. Zudem konnte der Betrachter bei den Tapisserien immer eine neue Anordnung finden, mit dem Zusammenhang spielen, den literarischen Kontext ändern und konnten somit eine Vielzahl an potentiellen Bedeutungen erschließen. Genau diese Möglichkeit spiegelt sich auch in der Darstellung der Figuren, mit denen sich der Betrachter nicht ganz identifizieren bzw. sich in sie hineinversetzen kann. Die Figuren der Cluny Serie nehmen keine Rücksicht auf den Betrachter, auch wenn es z.B den Anschein hat, als würde sich ihm die badende Schönheit präsentieren, fällt ihr Blick weder auf den Betrachter noch auf eine andere Figur der restlichen Tapisserien. Die Figuren regen zum Kommunizieren und Nachdenken an, kommunizieren aber nicht gegenseitig und beziehen sich auch nicht explizit auf den Betrachter. Auch der Hintergrund entzieht sich dem Miteinbezug des Betrachters. Es scheint, dass dabei die Wirkung der Tapisserie eine größere Rolle spielte als ihre Darstellungsweise. Der Hintergrund stellt die Dreidimensionalität der Figuren in Frage und verursacht das Oszillieren zwischen der Materialität und der Darstellung, wie man zB. in der Tapisserie des adeligen Jägers erkennen kann(Abb.1). So kann man die Feder, die am oberen Teil seines Hutes herausragt, auch als Teil des Hintergrunds sehen, wobei sie mit ihrer Form den Flügeln des Adlers ähnelt. Die Eigenschaft der Tapisserie ihre Materialität bzw. ihre textile Grenzen auszustellen, hindert den Betrachter daran die Tapisserie zu seinem Objekt zu machen oder sich vollständig ihrer Welt zu nähren. Wie Weddigen betont, offenbart sich die Selbstreflexion des Mediums an der Figur der Stickerin, die einen geblümten Kissenbezug stickt und dadurch den Hintergrund der Tapisserie selbst wiederholt. Auf der Tapisserie „ Der Spaziergang “ hält die Dame links in ihrer Hand einen Blumenstrauß, der eigentlich die Fortsetzung des blumenübersäten Hintergrunds ist.11

Das Wesentliche dabei ist, dass die Tapisserien ihre Materialität nicht negieren. Im Gegenteil, sie zeigen sie und verweisen immer auf ihre physische Präsenz im Raum, sodass der Betrachter ständig daran erinnert wird. Obwohl die Tapisserien den Betrachter zu bestimmten Gefühlszuständen anregen oder ein bestimmtes Erlebnis in ihm erwecken, verwehren sie ihm, das Dargestellte zu besitzen, da er trotz der immersiven Erfahrung mit der textilen Grenze der Darstellung konfrontiert wird. So kann er den Garten der Tapisserie bewundern, aber nie die dargestellte Welt betreten. Während sich für Weddigen in dieser Selbstbehauptung und Selbstreflexivität die medienspezifische Darstellung der Tapisserie offenbart, verbindet Weigert dieses Phänomen mit einer im 16.Jahrhundert schwindenden Hofkultur. Der Adel hatte keinen gesellschaftlichen Einfluss mehr und durch den neu gewonnenen Reichtum der Bourgeoisie waren Kostbarkeiten wie Tapisserien, Schmuck oder illuminierte Manuskripte auch einer größeren Kundschaft verfügbar. Obwohl die Cluny Tapisserien Motive zeigen, die sich eindeutig mit der Hofkultur verbinden lassen, ist es unklar ob die Auftraggeber Adelige waren.

Das Nicht-Einbeziehen des Betrachter konnte demnach dazu gedient haben, den Hof als einen fiktiven und idealen Ort zu etablieren, was v.a in Bezug auf die Darstellung des Gartens nachvollziehbar ist. Der Garten wird zu einem außergewöhnlichen Ort, an welchem man Liebe erleben kann. Die neuen gesellschaftlichen Klassen, die sich an dem Glanz der damaligen Hofkultur inspirierten, hatten keine Landstücke oder Knechte mehr, die für sie arbeiteten. Somit hat die Natur in der Cluny Serie Ähnlichkeit zu früheren Darstellungen von Landarbeitern, insofern das beide dem mächtigen Adel untergeordnet waren. Zudem wurde der dargestellte Garten zweimal entfremdet: erstens durch das Zähmen der Natur in Form eines Gartens und zweitens durch die Darstellung auf einem luxuriösen Medium bzw.der Tapisserie, weshalb auch der Betrachter fern von dieser verlorenen Idylle positioniert ist. Das Nicht-Einbeziehen des Betrachters in solchen Darstellungen ist ein Ausdruck der Nostalgie, welche wiederum in der damaligen Liebeslyrik thematisiert wurde. Gleichzeitig diente die Lyrik dazu, das Ideal einer schwindenden Gesellschaft am Leben zu erhalten, während die Tapisserien die Nostalgie nach diesem Ideal verkörperten. Dabei wird der Betrachter nicht nur in der Rolle des Liebenden angesprochen, sondern auch als Teil der Gesellschaft.12

Bei den Cluny Tapisserien ist ein Verschmelzen von Figuren und Hintergrund zu sehen—die Figuren lassen sich nicht ohne den Hintergrund betrachten. Dadurch wird nochmals auf die textilen Grenzen des Mediums aufmerksam gemacht und dem Betrachter vermittelt, dass es sich um eine Tapisserie handelt. Dadurch wird das Haptische, das Materielle in den Vordergrund gestellt. Das suggeriert aber auch die Existen mehrerer und paralleler Erzählungen der Renaissance, welche die Vorstellung von der damaligen Lebens- und Bilderwelt als einer rein visuellen, intellektualisierten und vom Körper entfernten Kunst widerlegen.13

2.1 Millefleurs Tapisserien

Um die Eigenheiten der Cluny Tapisserien näher deuten zu können, müssen wir uns mit anderen Tapisserien aus diser Zeit befassen. Die Cluny Serie gehört nämlich zu den sogenannten Millefleurs (fr. mille fleurs) Tapisserien, welche in großer Anzahl zwischen 1400 und 1550 angefertigt wurden. Allgemein zeichnen sich Millefleurs Tapisserien durch einen floralen und ornamentalen Hintergrund, der keine Tiefe birgt und auf dem, je nach Darstellungstypus, Figuren oder andere Motive zu sehen sind. Die Darstellungen der Millefleurs Tapisserien variieren untereinander und zeigen vielfältige Szenen aus der Hofkultur und Liebeslyrik oder mythologische, allegorische und christliche Themen. Das wohl bekannteste Beispiel von Millefleurs Tapisserien ist der Zyklus „ Die Dame und das Einhorn“(La Dame a la licorne), welcher sich auch im Cluny Museum in Paris befindet.

In der Literatur wurden die Millefleurs Tapisserien meistens als eine Untergruppe der spätmittelalterlichen Tapisserien betrachtet, wobei man annehmen kann, dass sie ihren Ursprung in flämischen Wandteppichen (sog. Verduren) haben.14 Wichtige Herstellungszentren von Millefleurs Tapisserien waren Brüssel, Tournai, Gent und Brügge, wobei nicht dokumentierte Örtlichkeiten wie die Gegend der Loire alss Herstellungsorte nicht ausgeschlossen sind.15 Die Zuschreibung und Datierung von Millerfleurs Tapisserien ist aufgrund mangelnder schriftlicher Quellen und nur schwer deutbarer Ikonographie mühsam. Obwohl dies allgemein ein Problempunkt in der Forschung von Tapisserien ist, ist es v.a kompliziert, Milleflerurs Tapisserien zu datieren, da sich die stilistische Entwicklung der floralen und eher dekorativen Motive nur schwer nachvollziehen lässt. Zudem sind auch viele Kartonzeicher von Ort zu Ort gereist, weshalb man schwer von stilistischen Merkmalen einer Werkstatt reden kann. Unabhängig davon können jedoch die Mode der dargestellten Figuren und Wappen oder andere Machtsymbole, falls vorhanden, als Anhaltspunkte für die Datierung der Tapisserie dienen.16

Obwohl hier nicht weiter auf die umstrittene Zuordnung der Millefleurs Tapisserien eingegangen wird, werden als Vergleichsbeispiele Tapisserien behandelt, welche Ähnlichkeiten zu der Cluny Serie in Bezug auf die Raumvorstellung aufweisen und um die gleiche Zeit entstanden sind. Das Charakterische für Millefleurs Tapisserien ist das Verhältnis von Hintergrund und Figuren. Dabei scheinen die Figuren und Motive willkürlich angeordnet zu sein, ohne wirklich Bezug zueinander zu haben und mehr oder weniger in unnatürlichen oder für den Kontext der Darstellung fremdwirkenden Haltungen zu stehen. Obwohl die Feinheit der Ausführung und das Einbeziehen der Figuren in den Hintergrund von Tapisserie zu Tapisserie abweichen können, lässt sich die einzigartige und flächige Raumkonstruktion als ein eindeutiges Merkmal der Millefleurs, aber auch anderer Tapisserien um diese Zeit ausmachen. Dies lässt sich nur zum Teil mit der Wiederverwendung von Kartons erklären, weshalb sich öfters auf nicht zusammengehörenden Tapisserien gleiche Figuren erkennen lassen. Die WeberInnen konnten die bereits vorgefertigten Figuren beliebig einsetzen, was auch den entfremdenden und flächigen Eindruck bei manchen Tapisserien stärkt, wobei dies nicht bei allen Millefleurs Tapisserien der Fall ist. Die Wiederholung der Figuren ist wahrscheinlich durch den berüchtigten Streit zwischen Brüsseler Maler- und Weberzünften bedingt, der 1476 zu dem Beschluss führte, dass nur Maler für das Zeichnen der Figuren zuständig waren, während den Webern das Ausführen des floralen und ornamentalen Beiwerks überlassen war.17 Demnach merken wir, dass es eine klare Differenzierung zwischen Hintergrund und Figuren gab, die teilweise durch den Herstellungsprozess bzw. durch die eigentliche Arbeitseinteilung verursacht war. Aufgrunddessen haben manche Kunsthistoriker fälschlicherweise angenommen, dass Tapisserien mit wiederverwendeten Kartons d.h mit immer wieder auftauchenden Figuren nach 1476 nicht in Brüssel enstehen konnte. Zudem verband man die Brüsseler Herstellung mit kostbaren und fein ausgeführten Tapisserien mit höchster Qualität. In Bezug auf die Komposition der Cluny Tapisserienserie ist die Regelung von 1476 nur zum Teil aufschlussreich, da sich gewisse Figuren wiederholt auch auf anderen Tapisserien vorfinden (siehe oben, Angers Museum). Andererseits gibt es zwei Figuren die eindeutig auf das Medium der Tapisserie selbst verweisen und somit die Grenzen zwischen Hintergrund und Figur verschwinden lassen. Indem sich die Figuren nicht vom Hintergrund trennen lassen, wird noch mal die Besonderheit der Cluny Tapissieren zum Vorschein gebracht. Die selbstreflexive Darstellung der Cluny Tapisserien verweist explizit auf das Medium der Tapisserie selbst bzw. auf ihre Materialiät. Während dies nicht unbedingt eine Anspielung auf den erwähnten Brüsseler Streit sein muss, könnte es allgemein Bezug auf den Herstellungsprozess und die technischen Bedingung und Arbeitsumstände der Tapisserienherstellung nehmen. Zudem muss dieser Verweis nicht suggerieren, dass „ Das herrschaftliche Leben “ aus einer Brüsseler Werkstatt stamm, wie es in der Literatur überwiegend angenommen wird. Obwohl hier nicht weiter auf die Provenienz der Cluny Tapisserien eingegangen wird, werden Tapisserien aufgezeigt, deren stilistische Ähnlichkeit die Entstehung in anderen Werkstätten und Orten vermuten lässt. In folgenden Absätzen wird anhand der näher ausgeführten Vergleichsbeispiele versucht, die stilistische Eigenheit der Cluny Tapisserien und somit auch die ihnen charakteristische Konzeption des Raumes zu erläutern. Dabei gilt es zunächst frühere Umstände und ikonographische Vorläufer auszumachen, welche den anachronistischen Stil dieser Tapisserien beeinflusst haben.

[...]


1 Vgl. Tristan Weddigen, Textile Bildräume: Antike / Neuzeit", in: Ausstellung.-Kat. Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute, hg. von Markus Brüderlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Ostfildern 2013, S. 88-95.

2 Vgl. Laura Weigert, Chambres d'amour: Tapestries of Love and the Texturing of Space, in: Oxford Art Journal, 31(3), 2008, S. 319-336.

3 Vgl. Tristan Weddigen, Textile Bildräume: Antike / Neuzeit", in: Ausstellung.-Kat. Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute, hg. von Markus Brüderlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Ostfildern 2013, S. 88-95.

4 Vgl. Laura Weigert, Chambres d'amour: Tapestries of Love and the Texturing of Space, in: Oxford Art Journal, 31(3), 2008, S. 305.

5 Vgl. Thomas P. Campbell, Tapestry in the Renaissance. Art and Magnificence (Kat. Ausst., The Metropolitan Museum of Art, New York 2002), New York 2002, S.3-13.

6 Vgl. Weigert 2008, S. 315.

7 Vgl. Weigert 2008

8 Vgl. Bonnie Young, ‘The Lady Honor and Her Children’, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, 21 (10), 1963, S.340.

9 Vgl. Weigert 2008

10 Vgl. Weigert 2008

11 Vgl. Tristan Weddigen, Textile Bildräume: Antike / Neuzeit", in: Ausstellung.-Kat. Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute, hg. von Markus Brüderlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Ostfildern 2013, S. 90.

12 Vgl. Weigert 2008

13 Vgl. Laura Weigert, Chambres d'amour: Tapestries of Love and the Texturing of Space, in: Oxford Art Journal, 31(3), 2008, S.330.

14 Vgl. Tristan Weddigen, Textile Bildräume: Antike / Neuzeit", in: Ausstellung.-Kat. Kunst und Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute, hg. von Markus Brüderlin, Kunstmuseum Wolfsburg, Ostfildern 2013, S.90.

15 Vgl. Geneviève Souchal, Masterpieces of Tapestry from the Fourteenth to the Sixteenth Century: An Exhibition at The Metropolitan Museum of Art-Metropolitan Museum of Art, 1974, S.30-35.

16 Ebd.

17 Vgl. Geneviève Souchal, Masterpieces of Tapestry from the Fourteenth to the Sixteenth Century: An Exhibition at The Metropolitan Museum of Art-Metropolitan Museum of Art, 1974, S.15

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Die anachronistische Raumvorstellung in Tapisserien um 1500 bis 1530
Hochschule
Universität Wien  (Institut für kunstgeschichte)
Note
2
Autor
Jahr
2020
Seiten
38
Katalognummer
V540329
ISBN (eBook)
9783346163165
ISBN (Buch)
9783346163172
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kunst, tapisserie, tapisserien, kunsthandwerk, renaissance, mittelalter, material, textil, lerian und laureolle, cluny tapisserie, cluny, franocis I.
Arbeit zitieren
Madeleine Zimmer (Autor:in), 2020, Die anachronistische Raumvorstellung in Tapisserien um 1500 bis 1530, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/540329

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