Die pädagogische und therapeutische Arbeit mit Kindern mit Behinderung im Human Dreams Kinderdorf, Tansania, vor dem Hintergrund der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen


Bachelorarbeit, 2018

220 Seiten, Note: 1,00


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abkürzungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Sonderpädagogische Relevanz der Arbeit
1.2 Forschungsstand

2. Grundlagen und Begrifflichkeiten einer internationalen und interkulturellen Sonderpädagogik
2.1 Menschen mit Behinderungen
2.2 Behinderungen im globalen Kontext
2.3 Formen von Behinderungen
2.3.1 Körperbehinderungen
2.3.2 Visuelle Behinderungen
2.3.3 Auditive Behinderungen
2.3.4 Geistige Behinderungen
2.3.5 Lernbehinderungen
2.3.6 Sprachliche Behinderungen
2.3.7 Emotionale und soziale Behinderungen
2.3.8 Schwere und mehrfache Behinderungen
2.4 Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
2.5 Behinderungen in der Gesellschaft: Teilhabe und Ausgrenzung

3. Behinderung in Tansania: Ethik und Politik
3.1 Das Land Tansania
3.2 Ein Rückblick: Kultursensibilität als verpflichtende Herausforderung für Wissenschaft und Gesellschaft
3.3 „Grundlagen afrikanischer Ethik“ nach Bénézet Bujo
3.4 „Die afrikanische Kultur der Gemeinschaft“ nach Laurenti Magesa
3.5 Behinderungen im Landeskontext
3.6 Politische Vorgaben Rechte von Menschen mit Behinderungen
3.6.1 The Convention of the United Nations on the Rights of Persons with Disabilities
3.6.2 The Persons with Disabilities Act
3.7 Internationale Standards Tansania als Entwicklungsland

4. Die Situation von Menschen mit Behinderungen in Tansania
4.1 Globalisierung und Kultur: Wandel und Entwicklung
4.2 Gegenwartsbedeutung von Politik und Gesetzmäßigkeit
4.3 Die soziale Situation von Menschen mit Behinderungen
4.3.1 Ursachenverständnis von und Umgang mit Behinderungen
4.3.2 Armut und Behinderung eine Teufelsspirale
4.4 Das Human Dreams Kinderdorf
4.5 Ausblick

5. Eine empirische Untersuchung: Pädagogische und therapeutische Arbeit im Human Dreams Kinderdorf mit Kindern mit schweren und mehrfachen Behinderungen
5.1 Forschungsdesign und Qualitative Inhaltsanalyse
5.2 Darstellung der Ergebnisse
5.2.1 Das Human Dreams Kinderdorf in Dar es Salaam
5.2.2 Arbeitsbereiche
5.2.3 Versorgung der Kinder
5.2.4 Konzept und Pädagogik
5.3.5 Teilhabe
5.2.6 Behinderungen in Tansania
5.2.7 Politikversagen
5.2.8 Maßnahmen
5.2.9 Zusammenfassung
5.3 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse
5.4 Methodenkritische Reflexion und Anwendung der Gütekriterien

6. Fazit

7. Quellen- und Literaturverzeichnis

9. Anhang
9.1 Leitfäden der Interviews
9.2 Transkription I: Interview 1, Fall A. 07.08.2018
9.3 Transkription II: Interview 3, Fall B. 17.08.2018
9.4 Übersetzung der Transkription II: Interview 3, Fall B. 17.08.2018
9.5 Transkription III: Interview 2, Fall C. 16.08.2018
9.6 Übersetzung der Transkription III: Interview 2, Fall C. 16.08.2018
9.7 Care Assistant Schedule des Human Dreams Kinderdorfs
9.8 Care Giver Schedule des Human Dreams Kinderdorfs
9.9 Nurse Schedule des Human Dreams Kinderdorfs
9.10 Volunteer Timetable des Human Dreams Kinderdorfs

Vorwort

Dieser Arbeit liegt eine sehr große persönliche Motivation zugrunde. Sie ist auf ein schon einige Jahre währendes Interesse an Afrika, ein stärkeres Interesse an Ostafrika und einem starken Interesse an Tansania zurückzuführen, auf unzählige einprägsame und tiefgreifende Erfahrungen und vielfältige Erlebnisse bei Aufenthalten in diesem Land, die nach der Rückkehr nicht ihre Wirkung verloren, und auf die Menschen hier und dort, die dazu beigetragen haben.

Nach einer intensiven Planungszeit begann eine noch viel intensivere und herausfordernde, aufregende, schöne, schnelle und langsame Zeit in Tansania. Als die mühevolle Transkription geschafft war, kam die Zeit des Schreibens, der Teetassen und Schreibtischwechsel, die jetzt vorüber ist.

Ich danke herzlich meinen Prüfenden Sönke Thies und Prof. Annett Thiele und besonders ersterem dafür, dass aus einer vagen Idee und Wunschvorstellung eine Reise, eine Studie und eine Arbeit hervorgehen konnten. Darüber hinaus danke ich ihm für die Beantwortung vieler Fragen, die Ratschläge und die Offenheit für die Bandbreite der Faktoren, die m.E. für das Thema der Arbeit von Bedeutung sind.

Ebenso geht mein Dank an die Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, da mit der Bewilligung des Mobilitätszuschusses die Durchführung meines Vorhabens ermöglicht wurde, genau wie durch das Stipendium des PROMOS-Programms, ohne das die Reise kaum hätte gemacht werden können.

Sehr dankbar bin ich meinen fantastischen Eltern, dass sie mich mehrmals haben weggehen, zurückkommen und wieder weggehen lassen - und außerdem Jonathan, meiner bedingungslos wunderbaren Reisebegleitung.

Für ihre Gastfreundschaft, ihre Herzlichkeit, ihre Freude und ihre Teilnahmebereitschaft danke ich den Mitarbeitenden des Human Dreams Kinderdorfs. Nawashukuru moyoni kwa kunisaidia, nyinyi mliniambia vitu vya maisha yenu, vya kazi zenu na vya upendo wenu mkubwa sana kwa watoto wote. Asanteni.

Im vorweihnachtlichen Oldenburg 2018

Anna Spellerberg

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Behinderungsformen in Tansania S. 41

1. Einleitung

Erfolgt in der westlichen Welt privat oder beruflich keine intensive Auseinandersetzung mit Afrika und seinen Ländern, beschränkt sich der Blickwinkel der meisten Menschen aufgrund der gegebenen Umstände in der Regel auf die Informationen, die es in die Medien schaffen: Dabei handelt es sich zumeist um Nachrichten von Katastrophen, Terrorismus, Hunger und Armut, um Nachrichten, die in der Folge das westliche Verständnis von Afrika prägen, wobei der Kontinent häufig als eine Einheit dargestellt wird. Vielen Menschen fehlt das Bewusstsein dafür, dass Afrika eine unglaubliche Vielfalt an Ländern, Menschen, deren Sprachen, Kulturen und ihren Lebensformen aufweist. Im Kontext der Globalisierung wird es jedoch immer wichtiger, Menschen, Ereignisse, Situationen und Entwicklungen in ihrem Kontext zu betrachten. Dafür muss die ethnozentrische Perspektive überwunden werden.

Seit einiger Zeit erlebt auch die Sonderpädagogik die weltweite Existenz ihres Gegenstands und ihrer Zielgruppe. Wie beide in ihren vielfältigen verschiedenen Kontexten verstanden, umgesetzt, behandelt und erlebt werden und leben, gehört m.E. gerade durch die Internationalisierung des Fachs und die voranschreitenden länderübergreifenden Kommunikationsmöglichkeiten inzwischen zum Studium dazu. Die Interkulturalität der Sonderpädagogik wird in den angebotenen Lehrveranstaltungen kaum berücksichtigt, sodass die differenzierte Betrachtung verschiedener Lebenswelten, die die Diversität von Inhalten der Sonderpädagogik erkennbar machen könnte, im Rahmen des Studiums und des angestrebten Berufs trotz dessen interkulturellen Bezugs unzureichend stattfindet.

Der Blick angehender Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen bleibt oft auf den eigenen geografischen Wirkungskreis gerichtet, ohne auf die ihm eigene Interkulturalität eingehen zu können. Zur Auseinandersetzung mit interkulturellen Aspekten kann, wenn eine aufwendige Suche nach Informationen nicht möglich ist, oft nur auf Medienberichte oder Schlagzeilen zurückgegriffen werden, die die Hintergründe der Sachverhalte häufig nicht berücksichtigen. Die Studien zur interkulturellen Sonderpädagogik, die es gibt, finden wenig Beachtung.

In Tansania, einem von Vielfalt geprägten Land an der Ostküste des afrikanischen Kontinents, gelten dieselben Rechte für Menschen mit Behinderungen wie in Deutschland. Um deren Situation, Entwicklung, Grundlage und Schwierigkeiten beschreiben und verstehen zu können, ist die Auseinandersetzung mit der Situation in ihrem Kontext erforderlich. Die Lebensbedingungen der Bevölkerung unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von denen westlicher Länder, ihre Lebenswelt umfasst andere kulturelle und soziale Phänomene als die von Europäern. Durch die Internationalisierung der Sonderpädagogik verbinden sich unterschiedliche Lebenswelten miteinander, die alle gemeinsam haben, dass in ihnen Menschen mit Behinderungen wie alle anderen ein Teil der Gesellschaft sind.

Die vorliegende Arbeit umfasst eine qualitative Studie zur pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit Kindern mit schweren und mehrfachen Behinderungen im Human Dreams Kinderdorf in Dar es Salaam, Tansania, und behandelt in ihrem theoretischen Teil die Kontexte, in denen sie verortet ist. Das Ziel der Arbeit ist es, das Konzept, die Praxis und die Rahmenbedingungen des Kinderdorfs darzulegen und den Bezug zur Lebenswelt der tansanischen Bevölkerung herzustellen. Durch die Analyse der sozialen, kulturellen und politischen Hintergründe der Situation von Menschen mit Behinderungen im Land lassen sich Möglichkeiten der Teilhabe erkennen.

Angesichts der interkulturellen Forschungsebene wird Wert darauf gelegt, die grundlegende Möglichkeit zu Verständnis und Entwicklung von Kultursensibilität zu geben, um dem Thema vor seinem Hintergrund weitestgehend gerecht werden zu können oder dies zumindest zu versuchen. Es ist niemals beabsichtigt, beschriebene Sachverhalte zu verurteilen oder zu verteidigen, sondern um Darstellung und Verknüpfung. Der theoretische Teil beschäftigt sich zunächst grundlegend mit der interkulturellen Ebene der Sonderpädagogik und umfasst allgemein begriffsklärende Abschnitte zum Gegenstand. Mit der Verbindung beider Punkte thematisiert das 3. Kapitel das Phänomen Behinderung in Tansania und zeigt den sozialen, kulturellen und politischen Kontext auf, bevor es im 4. Kapitel konkret um die Situation von Menschen mit Behinderungen in Tansania geht und das Human Dreams Kinderdorf in Dar es Salaam vorgestellt wird. Vor diesem Hintergrund erfolgt anschließend die Darstellung und Interpretation der pädagogischen und therapeutischen Arbeit im Human Dreams Kinderdorf unter Einbezug der kontextuellen Faktoren.

Die Datenerhebung zur Arbeit im Kinderdorf erfolgte durch drei Interviews mit im Kinderdorf lebenden Mitarbeitenden, in denen über die Einrichtung, das pflegerisch-pädagogische Konzept und die lebensweltlichen Realitäten in Tansania gesprochen wurde. Gesetzestexte und andere Studien über Behinderung, Ethik und soziales Leben in Tansania bilden die Grundlage für die theoretische Erörterung und der Ergebnisse.

In die Studie involvierte Personen werden anonymisiert aufgeführt. Die Direktorin des Kinderdorfs wird mit ihrer Zustimmung aufgrund ihres Status als öffentliche Person namentlich genannt. Eine zwecks Vereinfachung nicht geschlechtergerechte Bezeichnung von Personenkreisen schließt dennoch alle Geschlechter mit ein.

1.1 Sonderpädagogische Relevanz der Arbeit

Fremd ist für den Menschen alles, was er nicht auf sein eigenes Dasein und dessen Kontext beziehen kann. Dazu zählen Erscheinungsformen, Handlungen, Werte, Lebenswelten und alle Ausprägungen menschlicher Existenz, die ihm nicht vertraut sind. Für Menschen ohne Behinderungen sind Menschen mit Behinderungen Fremde (Bürli, 2012, S. 19ff.). Um Fremde ihre Fremdheit in jeder Hinsicht verlieren zu lassen, „ist es gerade auch für Studierende der Sonderpädagogik wichtig, solche Fremdheitserfahrungen zu machen, um Menschen besser verstehen und unterstützen zu können“ (Erdélyi, 2012, S. 43). Die Begegnung mit dem Fremden lässt sich erweitern, wenn Behinderung sich mit anderer Fremdheit, z.B. einer unbekannten Kultur, verbindet. Behinderung ist ein weltweites Phänomen, das je nach Kontext anders betrachtet wird. „Im Zusammenhang mit einer durch Internationalisierung und Globalisierung geprägten Welt wächst […] die Notwendigkeit, sich mit internationalen Erscheinungen […] auseinanderzusetzen“ (Lüdtke & Stitzinger, 2015, S. 194). Die interkulturelle Sonderpädagogik und aus ihr resultierende Erfahrungen bergen Chancen der persönlichen Weiterentwicklung und der Ausweitung des Horizonts der eigenen Lebenswelt. Auseinandersetzung mit Interkulturalität ist die Voraussetzung für die Entstehung von Kultursensibilität und gegenseitiges, über das eigene Umfeld hinausreichendes menschliches Verständnis, Zusammenarbeit und gemeinsame globale Entwicklung. Diese Arbeit möchte dazu ihren Beitrag leisten.

Behinderung darf in seiner Betrachtung nicht auf die jeweils eigene Perspektive und auf deren Definition beschränkt bleiben. „Die kultursoziologische Perspektive ermöglicht es, Behinderung nicht nur aus dem anwendungsorientierten Blickwinkel, sondern aus einer grundlagen- und gesellschaftstheoretischen Sicht zu beleuchten“ (Waldschmidt & Schneider, 2007, S. 15). Zugleich gilt es, in den jeweiligen Kontexten „Probleme oder Sachverhalte zu erklären und aufzuklären, warum Entwicklungen unterschiedlich verlaufen“ (Rippl & Seipel, 2015, S. 15) und dabei ein Bewusstsein für die ständige Gefahr des Ethnozentrismus zu entwickeln. Der nächsthöhere Schritt ist der interkulturelle Vergleich, der in dieser Arbeit bewusst nicht vollzogen wird. Vielmehr bildet die Arbeit eine Grundlage für die Vergleichbarkeit.

1.2 Forschungsstand

Das Human Dreams Kinderdorf wird in seinem Kontext betrachtet. Deshalb liegt ein Schwerpunkt der Arbeit auf dem interkulturellen Verständnis und der Offenheit, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Der Forschungsgegenstand soll in Zusammenhängen und nicht für sich allein durch dessen Beschreibung verstanden werden. Einige Themen werden im Verlauf der Arbeit in neuen Verknüpfungen wieder aufgegriffen.

Hinsichtlich der Begriffsbestimmungen in Bezug auf grundlegende Themenfelder ist vielfach Literatur vorhanden. Orientiert sind die dargelegten Inhalte an aktuellen, aber zugleich bereits bewährten Autorinnen und Autoren. Für die Behandlung der Sonderpädagogik, ihrer Zielgruppe und des Phänomens der Behinderung bieten A. Biermann und H. Goetze das richtige Maß an Tiefe für einen nicht nur oberflächlichen Überblick. Mit der internationalen und interkulturellen Ebene des Gegenstands haben sich vielschichtig F. Albrecht, A. Bürli, A. Erdélyi und H.-P. Schmidtke auseinandergesetzt. Deren Perspektive wird dargelegt, ergänzt und als Grundlage für das Verständnis der Studie betrachtet.

Verschiedene Ansätze beleuchten Behinderungen und davon betroffene Menschen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Neben A. Biermann und H. Goetze werden weitere Verfasserinnen und Verfasser werden hinsichtlich der Behinderungsformen für ihre jeweiligen Fachgebiete ergänzend hinzugezogen. Darunter sind u.a. Autorinnen und Autoren von Beiträgen in von G. Opp und G. Theunissen, S. Ellinger und R. Stein, G. Hansen und R. Stein herausgegebenen Sammelbänden. Bei der Thematisierung von Menschen mit Behinderungen werden wesentlich Literatur von A. Bürli, dessen Beiträge für das gesamte 2. Kapitel bedeutend sind, und Aufsätze aus dem von A. Waldschmidt und W. Schneider herausgegebenen Sammelwerk genutzt. Tansanische Perspektiven werden mittels politischer Dokumente wie National Policy on Disability und Darstellungen des in der Hauptstadt des Landes an der Universität arbeitenden P. Satyanarayana dargelegt. Zur globalen Betrachtung des soziologischen Ansatzes wird v.a. G. Cloerkes herangezogen, außerdem A. Bürli, P. Devlieger u.a.

Im 3. Kapitel werden die Werke zweier ostafrikanischer Ethiker, B. Bujo und L. Magesa, zur Darstellung und für das Verständnis des afrikanischbzw. tansanisch-traditionellen Gemeinschafts- und Gesellschaftslebens herangezogen. Hinsichtlich der auf Tansania bezogenen Sachverhalte ist es im Sinn der Arbeit von Bedeutung, dass Literatur von aus dem thematisierten Kulturkreis stammenden Autorinnen und Autoren verwendet wird, um einen angemessenen Blickwinkel einnehmen zu können. Zur Betrachtung politischer Dokumente Tansanias bezüglich Behinderung werden die aktuellen selbst, international die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und national The Persons with Disabilities Act, genutzt, darüber hinaus die diesbezüglichen Abhandlungen P. Satyanarayanas. Im Fall der Verwendung etwas älterer Quellen wurde sich des weiterhin bestehenden Anspruchs auf Gültigkeit bzw. deren Bewährung versichert.

Statistischen Angaben dienen deutsche und tansanische Ministerien sowie das Auswärtige Amt als Grundlage.

Die Literaturauswahl im 3. und 4. Kapitel, wenn es um Tansania und die Situation von Menschen mit Behinderungen im Land geht, erfolgte aufgrund der ständigen Entwicklung besonders nach dem Kriterium der Aktualität und des möglichst konkreten Lebensweltbezugs. Gekennzeichnet ist die Arbeit durch Bezugnahme auf mehrere tansanische Autorinnen und Autoren, um den behandelten Gegenstand nicht aus der westlichen Perspektive zu beschreiben und wahrzunehmen. Darunter sind u.a. J. Kisanji, B. G. Rushahu, P. Satyanarayana und F. Tungaraza. Von Bedeutung ist P. Satyanarayana darüber hinaus für nahezu alle behandelten Punkte des theoretischen Teils, da er als Tansanier aktuelle Literatur veröffentlicht, die sich aus tansanischer wie interkultureller Perspektive mit dem Phänomen Behinderung, dessen Verständnis, der Gesetzeslage und der Situation von Menschen mit Behinderungen befasst. Des Weiteren werden konkret landes- und themenbezogene Studien der letzten Jahre hinzugezogen. Diese stammen u.a. von M. Kern, U. Lüdtke, A. McNelly und H. Mannan, A. Müller-Mbwilo und B. G. Rushahu und tansanischen Universitäten.

Durchführung und Auswertung der Studie sind an Vorgaben P. Mayrings der qualitativen Sozialforschung orientiert. Die Transkription orientiert sich an den Regeln T. Dresings und T. Pehls.

Es steht eine breite Auflage an westlicher Literatur zum Fach Sonderpädagogik, dessen Gegenstand und Zielgruppe zur Verfügung. In Bezug auf Tansania sind weniger Quellen zu finden, insbesondere solche, die den spezifischen Kontext des Landes miteinbeziehen und sich nicht auf die Darstellung des Sachverhalts aus der Perspektive der Verfasserin oder des Verfassers beschränken. Hier liegen eher Studien anstatt von fachlichen literarischen Abhandlungen vor. Es ist mehr Literatur von tansanischer Seite über Behinderung und die Situation davon Betroffener in Tansania zu finden, die sich auf die westliche Perspektive bezieht, als umgekehrt. Bedauerlich ist, dass im westlichen Kulturkreis kaum Literatur auffindbar ist, in welcher westliche und interkulturelle bzw. andere Kontexte von Behinderung und Sonderpädagogik miteinander verbunden werden. Hervor tun sich diesbezüglich die von A. Erdélyi, S. Gand bzw. H.-P. Schmidtke und P. Sehrbrock herausgegebenen Sammelbände mit ihren Beiträgen zu internationaler Sonderpädagogik, die verschiedene Kontexte und Lebenswelten bezüglich Behinderung innerhalb eines Buchs thematisieren.

Grundlagen und Begrifflichkeiten einer internationalen und interkulturellen Sonderpädagogik

2. Grundlagen und Begrifflichkeiten einer internationalen und interkulturellen Sonderpädagogik

Mit dem Begriff der Sonderpädagogik wird der Arbeitsbereich bezeichnet, der „sich mit spezifischen pädagogischen Problemstellungen im Kontext von Beeinträchtigungen und Behinderungen“ (Stein, 2006, S. 9) befasst, sich dabei aber nicht nur auf primäre Behinderungen bezieht. So umfasst die Bezeichnung allgemein „eine Pädagogik für Kinder und Jugendliche, die […] hervorstechende Besonderheiten aufweisen“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 12) und findet sowohl im schulischen wie auch im außerschulischen Bereich Verwendung. Sonderpädagogik beschäftigt sich, wie von K. Bundschuh aufgegriffen, mit allen Bereichen von Behinderungen und schließt in ihren Aufgabengebieten „a) substitutive (unterstützende Übung der beeinträchtigten Bereiche), b) kompensierende (Erschließung und Benutzung nicht beeinträchtigter Kompensationsbereiche), c) subventionierende (erleichternde Erziehungsbedingungen, verringerte Leistungsanforderungen), d) integrative (weitest mögliche gemeinsame Erziehung Behinderter und Nichtbehinderter in allen gesellschaftlichen Bereichen)“ (Bach, wie zitiert in Bundschuh, 2010, S. 33) als Maßnahmen mit ein.

Die internationale Sonderpädagogik bezeichnet eine Sonderpädagogik, die sich nicht nur innerhalb eines Landes definieren lässt. Gerade im Hinblick auf die Globalisierung ist es von großer Bedeutung, Offenheit gegenüber dem Umgang mit dem und Variationen im eigenen Fachbereich zu zeigen. Bereits im Jahr 1997 stellte A. Bürli fest, dass „internationale Tendenzen und Gemeinsamkeiten […] auch für den Bereich der Sonderpädagogik von grossem [sic!] und zunehmendem Interesse“ (Bürli, 1997, S. 14) sind. Im internationalen Kontext werden die gemeinsamen und unterschiedlichen Merkmale verschiedener Länder betrachtet, wobei stets deren jeweils eigener Kontext Berücksichtigung finden sollte. So kritisiert A. Erdélyi, dass häufig „keine Rücksicht auf bestehende Systeme, Traditionen, Schulwesen, Arbeitsmärkte, Sozialstrukturen usw. in verschiedenen Ländern genommen“ (Erdélyi, 2012, S. 53) wird. Das Ziel der Arbeit internationaler Sonderpädagogik besteht in erweiterten oder neuen Erkenntnissen, wie sich bestimmte Situationen hinsichtlich verschiedener Themen im jeweiligen Land gestalten. Wird zwecks Erkenntnisgewinns der Vergleich als Methode genutzt, findet die Bezeichnung der international vergleichenden Sonderpädagogik Anwendung, jedoch ist hierbei, um „Missverständnisse zu überwinden, […] ein Austausch über die Vorerfahrungen der Menschen des anderen Landes notwendig, sowie die Offenheit, sich stets irren zu können“ (ebd., S. 47, 51).

Interkulturelle Sonderpädagogik zeigt sich in seinen Prinzipien offen für andere Unterscheidungssysteme oder -kriterien als die internationale Sonderpädagogik, die sich in ihrem Forschungsfeld auf die Ebene der Nationen und deren offiziellen Zuschreibungen bezieht (Bürli, 1997, S. 12): Sie betrachtet die Menschen nicht nur im Hinblick auf ihre Nationalität, sondern auch bezüglich der „Normen und Werte im Zusammenhang von Kosmovisionen oder Religionen“ (Schmidtke, 2012, S. 64) in ihrer Gesellschaft und begibt sich auf die Ebene der ethnischen und geographischen Zuordnung (ebd., S. 67).

Im Hinblick auf die interkulturelle Sonderpädagogik erweitert H.-P. Schmidtke die Forderungen A. Erdélyis. Schmidtke definiert Kultur nach der Betrachtung zweier unterschiedlicher Auffassungen von Alexander Thomas und Maria Greverus, indem er „sich am Lern- und Erfahrungshorizont jedes einzelnen Menschen orientiert“ (Schmidtke, 2012, S 67). So umfasst der Kulturbegriff „mehr als sechs Milliarden sich stetig wandelnder Mosaiksteinchen“ (ebd.) und impliziert das Verständnis von „Kultur […] als dynamische[n] Prozess“ (ebd., S. 66). Nach F. Albrecht repräsentiert eine Kultur „die Normen und Prinzipien, nach denen sich Mitglieder einer Gruppe von Menschen zueinander […] verhalten, nach denen sie sich selbst und ihre Umwelt interpretieren und nach denen sie ihre individuelle und kollektive Zukunft ausrichten“ (Albrecht, 2003, S. 11f.). Damit setzen sich Schmidtke und Albrecht über das bisherige Verständnis interkulturell vergleichender Sonderpädagogik hinweg, da dort aus Schmidtkes Sicht als „das Hauptunterscheidungsmerkmal der zu vergleichenden Gruppen lediglich ihre Nationalität, die ethnische oder bloße geographische Zuordnung eine Rolle spielt“ (Schmidtke, 2012, S. 67). So fordert er unter „der Prämisse eines sich wesentlich am einzelnen Menschen orientierenden Kulturbegriffs“ (ebd.) von den Forschenden in diesem Feld eine sehr explizite und genaue Beschreibung der zu untersuchenden Menschen, ihrer Verhältnisse sowie Interaktionen miteinander. Aber nicht nur der Lebenskontext der zu untersuchenden Personen oder Personengruppen ist von Bedeutung, sondern besonders der eigene Kontext des oder der Forschenden: Das eigene Kulturverständnis, die eigenen Vorstellungen sind sich unbedingt bewusst zu machen und zu reflektieren, da ansonsten der Begriff der Interkulturalität international „letztlich zur Festigung von Vorurteilen und Rassismus“ (ebd., S. 68) beiträgt. Der Grund dafür liegt darin, dass der Behinderungsbegriff als „ein kulturelles Konstrukt der westlichen Gesellschaften […] kulturspezifische Annahmen transportiert“ (Albrecht, 2003, S. 5).

Die beschriebene Offenheit des Prinzips Interkulturalität für weitere kontextuelle Unterscheidungskriterien in Bezug auf Menschen oder Menschengruppen macht es möglich, letztere bis hin zur individuellen und noch darunter auf der zeitlichen und räumlichen Ebene zu betrachten und in ihren kulturellen Kontext einzuordnen: „Die […] ökonomische Situation, der soziale Status, der Bildungsgrad, auch ganz persönliche Merkmale […] sind in gleicher Weise einflussnehmend“ (Albrecht, 2003, S. 5). Sie beschränkt sich aber in der Regel, wie von Schmidtke dargelegt, auf „Nationalität, die ethnische oder bloße geographische Zuordnung“ (Schmidtke, 2012, S. 67). Die Offenheit und Selbstreflexion des oder der Forschenden ermöglicht es, das Individuum hinsichtlich jedes Aspekts seines Kontexts unvoreingenommen wahrzunehmen und damit die Betrachtung auf verschiedensten Ebenen, um dem Begriff der Interkulturalität gerecht zu werden. Albrecht nennt „drei prinzipielle Ausgangsbedingungen […], die die Grenzen interkulturell vergleichender Forschung markieren: die Grenze der ethnozentrischen Beschränkung des eigenen Wahrnehmens und Denkens, die Tatsache, dass Kulturen dynamische, sich verändernde Gebilde sind und die Tatsache, dass soziale Phänomene nur zum Teil kulturell erklärbar sind“ (Albrecht, 2003, S. 6).

Unter dem hier dargelegten Verständnis Schmidtkes und Albrechts von Kultur, Mensch sowie interkultureller Forschung und deren Anforderungen ist nach möglichstem Bemühen die vorliegende Arbeit verfasst. Um im weiteren Verlauf Tansania und die dort lebenden Menschen in ihrem Kontext betrachten zu können, behandelt die Arbeit diese unmittelbar in ihrem Lebensumfeld und versucht, aus sonderpädagogischer Perspektive die Strukturen von letzterem zu erfassen, ohne direkte Vergleiche zu anderen Ländern oder Kulturen herzustellen. Dies geschieht aufgrund dessen, „dass der Ausgangspunkt der Forschung das Mikrosystem Mensch sein sollte, und man nicht Gefahr laufen darf, bei der Betrachtung eines Landes die Individuen zu übersehen, die den vielfältigen Wechselwirkungen ausgesetzt sind“ (Erdélyi, 2012, S. 50). „Vergleichbarkeit ist nur dann gewährleistet, wenn sichergestellt ist, daß in allen Kulturen das gleiche Phänomen gemeint ist“ (Cloerkes & Neubert, wie zitiert in Albrecht, 2003, S. 2), denn „kulturneutrale Begriffe […] unterschlagen kulturspezifische Bedeutungsinhalte“ (ebd., S. 3). Um mit A. Erdélyis Worten eine „Empirie [zu vermeiden], die zwar Daten erhebt, ohne die kritische Hinterfragung aber nur allzu leicht dazu verführen kann, ‚Äpfel mit Birnen‘ zu vergleichen“ (Erdélyi, 2012, S. 54) und um keine unzulässigen Bewertungen aus etischer Perspektive unter eigenen kulturellen Vorstellungen heraus vorzunehmen, wird bewusst auf den direkten Vergleich mit diesen verzichtet. Die im Rahmen der Studie erfassten Wahrnehmungen aus emischem Blickwinkel werden berücksichtigt.

2.1 Menschen mit Behinderungen

Menschen, die eine oder mehrere Behinderungen haben, sind ein Teil unserer Gesellschaft, ein Teil der Weltbevölkerung und ein Teil des menschlichen Lebens auf der Erde. Wir ordnen und interpretieren all unsere Lebensformen und die mit ihnen verbundenen Menschen nach Kategorien, wobei wir uns selbst in den verschiedensten Facetten voneinander abgrenzen. Wie wir Menschen, die wir in verschiedene Kategorien einordnen, begegnen, wird im Wesentlichen von der Unterteilung in uns selbst Eigenes und uns Fremdes bestimmt. Nach A. Bürli wird das „ Eigene […] kurz umschrieben mit Zugehörigkeit, Vertrautheit, Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, als Zuhausesein unter Freunden“ (Bürli, 2012, S. 18). Alles, was in unserem persönlichen Kontext diese Eigenschaften nicht oder nur unzureichend erfüllt, wird von uns als fremd wahrgenommen. „ Das Fremde liegt jenseits der Eigenheitssphäre, der eigenen Grenzen. Es bedeutet das Unzugehörige, […] das Unbekannte, auch das Unverständliche, nicht Fassbare“ (ebd.). Personen, denen wir begegnen, sind uns dabei nicht als sie selbst fremd, sondern „immer nur Fremde in einem bestimmten Kontext “ (ebd.). So wird u.a. Behinderung von Nicht-Behinderten als Fremdheit erlebt, als etwas, das zwei Menschen voneinander abgrenzen kann. Unsere Wahrnehmung von Eigenem oder Fremdem hängt von unserer eigenen Lebensform ab, von der Kultur, der Gemeinschaft, von uns präsentierten Idealen und unseren eigenen Fähigkeiten, die wir erleben. Was für uns „als fremd gilt, wird durch persönliche und gesellschaftliche Vorstellungen und Einstellungen bestimmt“ (ebd.). Menschen ohne Behinderungen grenzen sich als Gruppe von Menschen mit Behinderungen ab, die ebenfalls eine Gruppe bilden.

Nicht nur bei Betrachtung von Behinderung aus der Perspektive verschiedener Fachrichtungen ist es so, „dass das definitorische Verständnis außerordentlich unterschiedlich ist“ (Stein, 2006, S.12). Die Einordnung von Menschen in die Gruppen „Menschen mit Behinderungen“ und „Menschen ohne Behinderungen“ aufgrund ihrer Eigenschaften erfolgt in unserer westlichen Gesellschaft nach verschiedenen Modellen. Das medizinische Modell geht der Frage nach, „inwieweit Behinderung ein körperlicher oder geistiger Defekt ist, der fehlende Funktionen oder Fehlfunktionen zur Folge hat“ (Schillmeier, 2007, S. 79), wohingegen das soziale Modell von einer „Dichotomie zwischen den zwei Ebenen des Behinderungsprozesses“ (Waldschmidt, 2007, S. 57) ausgeht: Es rückt bezüglich Behinderung nicht die körperliche Schädigung in den Vordergrund, sondern beschäftigt sich mit ihr „als ein gesellschaftlich hergestelltes Phänomen“ (Schillmeier, 2007, S. 79). Damit postuliert das soziale Modell, dass „aus einem vorhandenen Körperschaden, einer Verhaltensauffälligkeit oder kognitiven Störung […] nicht unabwendbar eine Behinderung“ (Waldschmidt, 2007, S. 57) entstehen muss. Im Gegensatz zum medizinischen geht also das soziale Modell davon aus, dass nicht die diagnostizierbare Beeinträchtigung eines Menschen diesen zu einer Person mit Behinderungen macht, sondern dessen Abweichung, dessen Fremdheit, welche „keine Eigenschaft von Dingen oder Personen, sondern […] relative Bestimmungen, die ein Beziehungs- und Wahrnehmungsverhältnis ausdrücken“ (Bürli, 2012, S. 19), darstellt. Dies unterstellt Menschen mit Behinderungen als Gruppe eine vom Rest der Gesellschaft konstruierte gemeinsame Identität: „[…] disabled people have developed a shared identity based on a ‘social model‘ of disability“ (Lawson, 2011, S. 209). Nach der Definition der sogenannten Disability Studies ist Behinderung ebenfalls keine „Eigenschaft, sondern […] das Ergebnis einer sozialen Beziehung“ (Dannenbeck, 2007, S. 116), wodurch der Behinderungsbegriff letztlich „ohne gesellschaftlichen Kontext nicht festlegbar“ (ebd.) ist. Das soziale Modell vertritt demnach den Standpunkt, nicht die Behinderung für sich zu betrachten, sondern den Menschen, der sie hat und aufgrund derer er von der Gruppe der Menschen ohne Behinderung abgegrenzt wird.

Der Begriff der Behinderung ist stets mit einer negativen, „unerwünschte[n] Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen“ (Cloerkes, 2007, S. 8) verbunden und bringt aus diesem Grund eine ebenfalls negative soziale Reaktion mit sich, wobei es jedoch wichtig ist, begrifflich die bloße „Bewertung von Behinderung und die Reaktion auf Behinderte […] strikt voneinander zu trennen“ (ebd.). Bei jener unerwünschten Abweichung handelt es sich nach Cloerkes um „eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich“ (ebd.), welche nach der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf drei Ebenen betrachtet werden kann: Impairment (Schädigung) beschreibt eine Störung auf der organischen Ebene, Disability (Behinderung) bedeutet eine Störung auf der personalen Ebene und der Begriff Handicap (Benachteiligung) umfasst mögliche Konsequenzen auf der sozialen Ebene (WHO, 1980, S. 27ff.). Eine ebenfalls schon etwas ältere Definition kennzeichnet Menschen mit Behinderung als solche, „die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, daß ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft erschwert werden“ (Bleidick, wie zitiert in Cloerkes, 2007, S. 4).

Im Dokument der ‚National Policy on Disability‘ des tansanischen Ministry of Labour, Youth Development and Sports aus dem Jahr 2004 wird Behinderung als „the loss or limitation of opportunities to take part in the normal life of the community on an equal level with others due to physical, mental or social factors“ (MOLYDS, 2004, o.A.) definiert und daraus abgeleitet eine Person mit Behinderungen als „an individual whose prospects of obtaining and retaining an employment are greatly reduced due to known physical, mental or social factors“ (ebd.) bezeichnet. Der in der tansanischen Hauptstadt Dodoma lehrende Dr. P. Satyanarayana kritisiert die offizielle Definition des Landes dahingehend, dass außer physischen, mentalen oder sozialen Faktoren anderweitige Formen von Behinderungen wie „physiological, cognitive, emotional, and developmental, or combination of those“ (Satyanarayana, 2014, S. 29) keine Berücksichtigung finden. Ebenso fehlt aus seiner Sicht die Bezugnahme auf „long term or short term disability or total or partial or recurring disability“ (ebd.), weshalb er die Notwendigkeit sieht, die entsprechenden Aspekte in die politische Definition des Landes aufzunehmen und letztere so ein breiteres Feld abdecken sowie die Breite des Gegenstands anerkennen zu lassen (ebd.).

Sowohl der medizinische als auch der soziale Ansatz finden im Modell der ICF-Klassifikation der WHO Berücksichtigung und ermöglichen damit eine neue Sichtweise auf den Behinderungsbegriff: Hierbei werden Menschen nicht aufgrund von ihren Merkmalen in Gruppen eingeteilt, stattdessen wird die Behinderung stets situationsbezogen betrachtet. Damit besitzt Behinderung anders als der Begriff der Beeinträchtigung „dann den relationalen Charakter und berücksichtigt auch soziale Momente“ (Stein, 2006, S. 11), sodass Behinderung als ein durch verschiedene Beeinträchtigungen entstandener Komplex aufgefasst wird (ebd.). Ein Mensch wird somit behindert, wenn sich seine „Krankheitsfolgen und -leiden auf die Funktionsfähigkeit, die Aktivitäten und die Partizipation auswirken“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 18). Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der Partizipation. Das Modell der ICF zeichnet sich also durch „einen bio-psycho-sozialen Ansatz, der als Wechselwirkung zwischen einem Gesundheitsproblem und den [drei genannten] Einflussgrößen“ (ebd.) aus und beschreibt damit den Blickwinkel, aus dem der Behinderungsbegriff im Verlauf dieser Arbeit aufgefasst wird.

2.2 Behinderungen im globalen Kontext

Behinderungen sind ein weltweites Phänomen und in jeder Gesellschaft, in jedem Kulturkreis und in jedem Land zu finden. Menschen mit Behinderungen stellen für Menschen ohne Behinderung wie bereits beschrieben nach G. Cloerkes eine Abweichung „von den gesellschaftlichen Erwartungen“ (Cloerkes, 2007, S. 102) dar: Diese Erwartungen sind abhängig von den Kontexten, der „materiellen Welt und einer kulturellen Welt als geistiges und soziales Produkt des Zusammenlebens“ (ebd., S. 2), in denen sie sich entwickelt haben und noch bestehen, sodass ein Mensch nach Cloerkes‘ Verständnis dann als behindert bezeichnet werden kann, „wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens die soziale Reaktion auf ihn negativ ist“ (ebd., S. 8). Die Bewertung von Menschen mit Behinderungen, die ausgehend von den bestehenden Erwartungen, welche von der Gesellschaft an jedes ihrer Mitglieder gestellt werden, vorgenommen wird, ist „abhängig von den dominierenden Wertvorstellungen, und diese bestimmen unsere Einstellungen und Verhaltensweisen“ (ebd., S. 103).

Nach Cloerkes setzt sich die Einstellung eines Menschen ohne Behinderung gegenüber eines anderen mit Behinderung aus drei Komponenten zusammen: Es bestehen „die ‚ kognitive ‘ oder ‚Wissenskomponente‘“ (ebd., S. 104), „die ‚ affektive ‘ oder ‚Gefühlskomponente‘“ (ebd.) sowie „die ‚ konative ‘ oder ‚Handlungskomponente‘“ (ebd.). Als wichtigste der drei nennt er die „‚affektive‘Komponente als Kern einer sozialen Einstellung“ (ebd.). Jedoch sind diese Komponenten global betrachtet „wegen der außerordentlichen Bedeutung der kulturellen Prägung“ (ebd., S. 106) nicht einheitlich zu definieren und auszulegen, denn im Gegenteil ist das Verständnis von Behinderung, von dem, „was als Abweichung gilt und dann ungünstige Reaktionen hervorruft, keineswegs […] interkulturell konstant“ (ebd., S. 102). Diese Erkenntnis übernahm aus entgegengesetzter Perspektive bereits 1995 P. Devlieger für die Auslegung seiner eigenen Studien von P. Fougeyrollas: „Normality is a culturally construed notion that is strongly ethnocentric“ (Devlieger, 1995, S. 95). Zudem liegen ebenfalls „vielfach intra kulturelle Variabilitäten“ (Albrecht, 2003, S. 8) vor. Dennoch lässt sich sagen, dass global „ein hohes Maß an intra- und mit Einschränkung auch interkultureller Überweinstimmung bei der Bewertung von Andersartigkeit“ (Cloerkes & Neubert, wie zitiert in Albrecht, 2003, S. 9) besteht.

Dieser Aspekt lässt sich auf das bereits vorgestellte, von A. Bürli beschriebene Phänomen der Fremdheit beziehen. Im Hinblick auf das zwischenmenschliche Verhältnis von Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen spricht er aus der Perspektive letzterer von „Abgrenzungen zwischen Behinderung als Fremdheit und dem eigenen Nichtbehindertsein“ (Bürli, 2012, S. 20). Durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden, der Behinderung, bildet sich diesbezüglich die eigene Identität heraus und „das Fremde bezeichnet etwas […] (angeblich) Andersartiges oder weit Entferntes“ (ebd., S. 18). Bürli stellt fest, „dass Behinderung keine Eigenschaft der Person ist, sondern […] durch Andersörtlichkeit, Ausschluss und Fremdartigkeit erzeugt […] wird. Behinderung ist eine relative, kontextabhängige Bestimmung, das Resultat eines Beziehungs- und Wahrnehmungsverhältnisses. Behinderung lässt sich […] nur im Kontext und Kontrast mit Nichtbehinderung definieren (und umgekehrt)“ (ebd., S. 28). Die Einstellung gegenüber und Wahrnehmung von Behinderung ist somit bedingt durch die Auffassung vom Eigenen. Jedoch spielt in diesem Zusammenhang nicht nur der allgemeine Behinderungsbegriff als definiert von bestimmten Wertvorstellungen für die Einstellung zum Menschen mit Behinderung eine Rolle, sondern ebenso „die Art der Behinderung, insbesondere aber das Ausmaß ihrer Sichtbarkeit sowie das Ausmaß, in dem sie gesellschaftlich hochbewertete Funktionsleistungen […] beeinträchtigt“ (Cloerkes, 2007, S. 105).

Die Vielfalt, die der komplexe Begriff der Behinderung und der gesellschaftlich über ihn kategorisierte Mensch global präsentieren, entspricht der Vielfalt „unterschiedliche[r] Traditionen, religiöse[r] Orientierungen oder Verhaltensmuster[n] von Menschen aus scheinbar fest gefügten Gemeinschaften, ethnischen Gruppierungen oder unterschiedlichen Lebensräumen“ (Schmidtke, 2012, S. 66). Sie wächst sogar noch über diese hinaus, wird das wandlungsfähige Individuum in seinem zeitlichen und räumlichen Kontext berücksichtigt, denn die bisherigen Lernmöglichkeiten eines Menschen schränken seine Eigenständigkeit sowie seine „generelle Offenheit […] für alles menschenmögliche Verhalten“ (ebd.) nicht ein. Dabei bleibt zu beachten, dass die verschiedenen Komponenten Verständnis und Bewertung von sowie Reaktion auf Behinderungen innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe nicht nur in ihrem kulturellen, sondern auch in ihrem sozioökonomischen Kontext analysiert werden müssen, wobei es besonders „in den Regionen, in denen sich traditional orientierte kulturelle Kontexte weiterhin bewahren“ (Albrecht, 2003, S. 10), also wesentlich in global als arm und nach den Vorstellungen der westlichen Welt als weniger weit entwickelt eingestuften Ländern, „zu Überlagerungen dieser beiden Kategorien“ (ebd.) kommt. Soll die soziale Situation von Menschen mit Behinderungen erfasst und interpretiert werden, kann dies also nicht allein im Hinblick auf die kulturellen, sondern muss auch unter Berücksichtigung der sozio-ökonomischen Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Korruption und Bildungschancen geschehen, da diese ebenfalls „mit unterschiedlicher Ausprägung überall auf dieser Welt soziale Reaktionen gegenüber Individuen hervorrufen“ (ebd.). Diese Gedanken stützt P. Devlieger mit der indirekt formulierten Aufforderung, „[…] a good understanding of the person with a disability goes far beyond the individual characteristics of person and places him in the framework of a wider socialcultural system“ (Devlieger, 1995, S. 103), welche hinsichtlich der Forschung westlicher Länder an die Gefahr erinnert, die eigenen Prinzipien, das eigene Kulturverständnis und das eigene Lebensumfeld auf Individuen in dementsprechend anderen Kontexten zu übertragen.

2.3 Formen von Behinderungen

Die Kategorisierung verschiedener Ausprägungen von Behinderungen ist nicht einheitlich festgelegt. Weltweit am weitesten verbreitet und bekannt sind das medizinisch orientierte Klassifikationssystem ICD-10 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“) und das bio-psycho-soziale System ICF („International Classification of Functioning, Disability and Health“). Die Sonderpädagogik unterscheidet zwischen mehreren Fachrichtungen und Förderbereichen, die je nach Art der Behinderung bestehen. Hier vorgestellt werden zwecks eines Überblicks Behinderungen im körperlichen und motorischen, im geistigen, im sprachlichen, im emotionalen und sozialen, im auditiven und visuellen Bereich, außerdem die Kategorien der Lernbehinderung und der schweren, mehrfachen Behinderung. Auf die Bereiche der Körperbehinderung und der schweren, mehrfachen Behinderung wird aufgrund von besonderer Relevanz für diese Arbeit der thematische Schwerpunkt gelegt.

2.3.1 Körperbehinderungen

Körperbehinderung, heute auch häufig umschrieben mit „Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung “ (Hansen, 2006, S. 68), umfasst eine Vielzahl von Erscheinungsbildern, weshalb in der Literatur verschiedene Klassifikationen zu finden sind. So beschreibt G. Hansen unter Orientierung an den Ausführungen der WHO 2004 Menschen als körperlich behindert, „wenn sie infolge einer Schädigung einer Körperfunktion oder -struktur […] Schwierigkeiten bei der Durchführung von Aktivitäten […] haben und Probleme beim Einbezogensein in Lebenssituationen […] erleben“ (ebd., S. 69). Hierbei werden zu den möglichen körperlichen Schädigungen „a) angeborene oder erworbene, b) überwindbare oder dauerhafte und c) physiologische oder anatomische Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates oder chronische Erkrankungen“ (ebd.) gezählt. Ähnlich beschrieben wird Körperbehinderung bereits ein Jahr zuvor von A. Biermann und H. Goetze: Sie „manifestiert sich individuell unterschiedlich als Funktionsfähigkeit eines Individuums auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen […]“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 77). Die Funktionsfähigkeit des Körpers bewegt sich innerhalb von „soziale[n] und gesellschaftliche[n] Rahmenbedingungen“ (ebd.), da durch diese die Möglichkeiten individueller Aktivitäten und Teilhabe einer Person festgelegt sind. Dieser Umstand impliziert die große Vielfalt der Auswirkungen von körperlichen Behinderungen (ebd.). Im Jahr 2009 definiert A. Thiele die Gruppe der Menschen mit einer Körperbehinderung unter besonderer Berücksichtigung kulturwissenschaftlicher und relationaler Bedeutung. „Es handelt sich bei Menschen mit einer Körperbehinderung um einen Personenkreis, der eine Abweichung von den normativ geprägten Vorstellungen über intakte Körperfunktionen und -strukturen aufweist“ (Thiele, 2009, S. 134). Diese Wahrnehmung von Körperbehinderung entspricht der Cloerkes‘, die in Kapitel 2.1 bereits aufgeführt wurde und Behinderung als „unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen“ (Cloerkes, 2007, S. 8) darstellt. Dabei ist der beschriebene Personenkreis wie aus der Sicht Biermanns und Goetzes in seiner Entwicklung und seiner gesellschaftlichen Teilhabe abhängig von den ihm gegebenen Möglichkeiten des sozialen Austauschprozesses auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen (Thiele, 2009, S. 134).

In ihrer Betrachtung körperlicher Schädigungen als ein Aspekt von Körperbehinderungen übernehmen A. Biermann und H. Goetze die Grobeinteilung Stadlers aus dem Jahr 1998, die wesentlich auch 2005 von Leyendecker vorgenommen wurde. Demnach werden unterschiedliche Beeinträchtigungen von Körperfunktionen und -strukturen insbesondere in „Schädigungen des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark)[,] […] Schädigungen der Muskulatur und des Skelettsystems […] [sowie] chronische Krankheiten und Fehlfunktion von Organen“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 77) eingeteilt. Zu den Schädigungen des Zentralnervensystems gehören u.a. cerebrale Bewegungsstörungen, verschiedene Formen von Lähmungen und Epilepsie. Krankheiten wie Muskeldystrophie, die Glasknochenkrankheit und Gliedmaßenfehlbildungen werden den Schädigungen des Muskel- und Skelettsystems zugeordnet. Erscheinungsformen chronischer Krankheiten sind u.a. Diabetes, Asthma und Rheumatismus. Fehlfunktionen von Organen stellen u.a. verschiedene Typen von Herzfehlern oder Hauterkrankungen dar (ebd.).

Die Auswirkungen aufgeführten Schädigungen von Körperfunktionen und -strukturen zeigen sich als „Fähigkeitsbeeinträchtigungen in zentralen Entwicklungsdimensionen“ (Thiele, 2009, S. 136) und sind in ihren möglichen Erscheinungsbildern sehr zahlreich und heterogen. Möglicherweise eingeschränkt werden die Betroffenen u.a. im Hinblick auf Wahrnehmungsprozesse, Bewegungsmuster, Muskelkraft und Körperschema (Biermann & Goetze, 2005, S. 79). Das Ausmaß der Behinderung ist hinsichtlich erschwerter Entwicklung aber nicht nur auf der intrapersonalen Ebene zu suchen, „sondern insbesondere [im Kontext] äußere[r] Handlungsbedingungen“ (Hansen, 2006, S. 74).

Verursacht werden Körperbehinderungen auf vielfältigste Weise. Ein wesentlicher Faktor hierbei ist die Vererbung bzw. Genmutation, aufgrund derer verschiedenste Körperfunktionen und strukturen eingeschränkt werden können. Weiterhin ist ein möglicher Faktor die frühkindliche Schädigung des Gehirns, die prä-, perioder postnatal auftritt und damit zu einem Zeitpunkt geschieht, zu dem sich das kindliche Gehirn noch in unreifem Zustand befindet. Ebenso wie Infektionen kommt als Ursache von Schädigung körperlicher Funktionen auch Substanzmissbrauch der Mutter während des Schwangerschaftsverlaufs infrage (Biermann & Goetze, 2005, S. 77ff.).

2.3.2 Visuelle Behinderungen

Der Personenkreis mit visuellen Behinderungen ist häufig von weiteren Behinderungen betroffen. Dabei umfassen visuelle Behinderungen komplexe Erscheinungsbilder. Das Spektrum der Sehbehinderung reicht von einer korrigierbaren Beeinträchtigung bis hin zu Amaurose, dem Phänomen völliger Blindheit ohne Lichtwahrnehmung. Zwischen diesen beiden Schweregraden visueller Behinderung liegt eine Vielzahl an verschiedenen Ausprägungen (Beyer, 2009, S. 193; Biermann & Goetze, 2005, S. 50; Degenhardt, 2006, S. 102).

Kategorisiert werden Sehbehinderungen nach ihrem Schweregrad, der von der Sehschärfe oder dem wahrnehmbaren Gesichtsfeld der betroffenen Personen abhängt. Kritisch wird jedoch angemerkt, dass „dieses Wertepaar im seltensten Falle die Funktionen der visuellen Wahrnehmung beschreiben kann“ (Degenhardt, 2006, S. 98). Die mildeste Form der Sehbehinderungen sind die sogenannten Sehbeeinträchtigungen. Aufsteigend bezeichnet werden Sehschädigungen als Sehbehinderung, hochgradige Sehbehinderung und Blindheit. Die Komplexität der Sehbehinderungen wird durch den Umstand verdeutlicht, dass auch Blindheit in sich als „körperliches Merkmal […] bereits auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen unterschiedlichste Ausprägungen aufweist und nachfolgend die Aktivität und Teilhabe Betroffener in sehr individueller Weise beeinflusst“ (Beyer, 2009, S. 193).

2.3.3 Auditive Behinderungen

Im Hinblick auf die Schädigung des Hörsinnes bestehen drei personelle Gruppen: Je nach Phänomen wird von Menschen mit Schwerhörigkeit, Menschen mit Ertaubung und Menschen mit Gehörlosigkeit gesprochen. Innerhalb der Gruppen kann weiter hinsichtlich anderer Merkmale wie dem Erwerbszeitpunkt, der jeweils geschädigten Körperfunktion oder Schweregrad unterschieden werden. Ist die vollständige Hörfähigkeit nicht gewährleistet, schränkt dies die Wahrnehmung akustischer Reize und Informationen, deren Verarbeitung sowie die Reaktions und Kommunikationsfähigkeit ein: Damit können alle Lebensbereiche eines Menschen betroffen sein (Kaul, 2006, S. 54, S. 57).

Aus medizinischer Sicht kann es sich entweder um Periphere Hörstörungen oder Zentrale Hörstörungen handeln. Erstere beschreiben Störungen des Außen-, Mitteloder Innenohrs, letztere benennen Störungen der auditiven Weiterleitung. Schwerhörigkeit ist bedingt durch eine Behinderung der Schallleitung, bei der Mittelohr, Gehörgang oder Trommelfell beschädigt sind, oder durch eine Behinderung der Schallempfindung, welche von Innenohr oder Hörnerv ausgeht und eine beeinträchtigte Differenzierungsfähigkeit nach sich zieht (Kaul, 2006, S. 54f.; Leonhardt, 2009, S. 162f.)

Gehörlosigkeit liegt vor, wenn ein hochgradiger Hörverlust in Form einer sehr ausgeprägten Schallempfindungsstörung „im frühen Kindesalter (prä-, perioder postnatal) vor Abschluss des Lautspracherwerbs (also prälingual) eingetreten ist“ (Leonhardt, 2009, S. 164). Von Ertaubung wird gesprochen, wenn der Hörverlust erst nach dem abgeschlossenen Erwerb der Sprache stattfindet. Menschen mit dieser Hörbehinderung haben im Gegensatz zu gehörlosen Personen in der Regel ein vollständiges Verständnis von Lautsprache entwickelt. Die Ursache für ihre Hörbehinderung ist bei mehr als 40% der betroffenen Kinder nicht bekannt (Biermann & Goetze, 2005, S. 28; Leonhardt, 2009, S. 164).

2.3.4 Geistige Behinderungen

Der Begriff der Geistigen Behinderung ist überaus komplex. Damit ist es auch der mit ihr verbundene Personenkreis: Die Gruppe der Menschen mit geistigen Behinderungen ist sehr heterogen, was eine einheitliche Definition des Begriffs und die Bildung von Kategorien innerhalb von diesem bedeutend erschwert. Ebenso hat sich das Verständnis dieser Bezeichnung im Verlauf der Jahre neu entwickelt. Von einer allgemeingültigen Begriffsbestimmung wird daher abgesehen (Biermann & Goetze, 2005, S. 101ff.; Fischer & Heinrich, 2005, S. 188).

Im Bereich der geistigen Behinderung werden nach E. Fischer „schwerpunktmäßig solche behindernden Ausgangs und Entwicklungsbedingungen thematisiert, die bei Menschen zu schweren, umfänglichen und längerfristigen Einschränkungen in der geistigen Entwicklung […] führen und die Aneignung von Kompetenzen, das Verstehen von Welt und die soziale Orientierung beeinträchtigen können und dann besondere, umfassende und häufig lebenslange Hilfen und Unterstützung erforderlich machen“ (Fischer, 2006, S. 40). Er betont aber, dass die Wahrnehmung des gesamten Spektrums geistiger Behinderungen von in diesem Sinne Außenstehenden vorgenommen wird und daher die Darstellung dessen immer von diesen abhängig ist (ebd., S. 40f.). Die Medizin ist hinsichtlich geistiger Behinderung wesentlich auf die Ausgangsbedingungen dieser fokussiert, jedoch stimmen die Klassifikationen international nicht überein (Biermann & Goetze, 2005, S. 103; Theunissen & Kulig, 2009, S. 101). Geistige Behinderungen werden medizinisch als „Verzögerungen in der Entwicklung und Abweichungen im Verhalten“ (Fischer & Heinrich, 2005, S. 187) betrachtet und auf Grundlage des Intelligenzquotienten (IQ) eines Menschen ermittelt: Es liegt eine geistige Behinderung vor, wenn der IQ unter dem ungefähren Grenzwert 60 liegt (ebd.). Diesem Kriterium folgt ebenso das Konzept „der in Deutschland üblichen (schulpädagogisch geprägten) Klassifikation“ (Theunissen & Kulig, 2009, S. 103). Weltweit am weitesten verbreitet ist laut G. Theunissen und W. Kulig die Auffassung geistiger Behinderung nach den internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM IV, welche diese den psychischen Störungen zuordnen und die Ausprägungen nach Schweregrad in vier Stufen aufteilen. Die Einteilung in die Kategorie der psychischen Störungen ist nach G. Theunissen und W. Kulig leichtfertig und demnach zu hinterfragen (ebd., S. 102f.). Sie erfassen geistige Behinderung nach der Betrachtung verschiedener Ansätze als „komplexes Phänomen […], das sich auf frühe Hirnschädigungen und damit verknüpfte Beeinträchtigungen nicht nur der kognitiven […]Dimension, sondern des gesamten Entwicklungsprozesses erstreckt, der von Sozialisationseinflüssen […] nicht losgelöst betrachtet werden kann“ (ebd., S. 101).

2.3.5 Lernbehinderungen

Mit dem Ausdruck der Lernbehinderung wird in Deutschland ein Phänomen umschrieben, das in anderen Ländern als leichte Form geistiger Behinderung betrachtet wird. Diese Form der Behinderung ist also als eigene Kategorie nicht einheitlich anerkannt und existiert in als solche noch nicht sehr lange. Der Personenkreis, der mit Lernbehinderungen in Verbindung gebracht wird, ist hinsichtlich dieser Zuschreibung kaum einheitlich zu erfassen (Biermann & Goetze, 2005, S. 195; Geiling & Theunissen, 2009, S. 339; Theunissen & Kulig, 2009, S. 101).

G. W. Lauth beschreibt Lernbehinderungen als „eine besonders drastische Form der Lernstörung und ist für Kinder […], die tiefgreifende Schwierigkeiten beim Lernen in der Schule haben“ (Lauth, 2000, S. 21) und beschränkt das Phänomen damit auf den schulischen Lernort. Eine ältere Definition des Deutschen Bildungsrates richtet sich nicht nach dem Ort des Auftretens, sondern nach dem Vorgang des Lernens selbst und bezeichnet die Zielgruppe schlicht als „in ihren schulischen Lernleistungen […] beeinträchtigt“ (Deutscher Bildungsrat 1974a, wie zitiert in Biermann & Goetze, 2005, S. 197). Diese Beeinträchtigung zeigt sich „schwerwiegend, umfänglich, langdauernd“ (Kanter, 1974, S. 126) und ist vielschichtig in ihren Ursachen. Ein Faktor ist hierbei die soziokulturelle Benachteiligung von Kindern, da ein Großteil der Kinder mit Lernbehinderungen davon betroffen ist. Zu den Betroffenen gehören auch jene, „die intellektuell nachweislich minderbegabt“ (Elbert & Ellinger, 2005, S. 324) sind, aber keine geistige Behinderung vorweisen. Weiterhin sind als mögliche Ursache von Lernbehinderungen emotionale und/oder soziale Probleme zu nennen, da durch solche die erfolgreiche Teilnahme am Schulunterricht eingeschränkt wird. Kindern mit Lernbehinderungen wird in Anbetracht ihrer späteren beruflichen Qualifikationsmöglichkeiten sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert (ebd., S. 319; S. 324f.). Jedoch ist die Entstehung einer Lernbehinderung keineswegs nur intrapersonal oder soziokulturell bedingt: Zunehmend wird auch das selektierende Schulsystem als kritisch betrachtet. So nennen U. Geiling und G. Theunissen die „Diagnose eines Kindes oder Jugendlichen als lernbehindert immer maßgeblich von schulischen Normanwendungsprozessen mitbestimmt“ (Geiling & Theunissen, 2009, S. 340). Insgesamt kann das Spektrum der Lernbehinderungen, das in seiner Bezeichnung einer andauernden Kontroverse ausgesetzt ist, als ein multifaktoriell bedingtes Phänomen beschrieben werden (Orthmann, 2006, S. 82f.).

2.3.6 Sprachliche Behinderungen

Das Themenfeld der Sprachbehinderungen umreißt Störungen „der Entwicklung oder des Gebrauchs von Sprache, des Sprechens, der Stimme, der Rede und des Schluckens, […] der Schriftsprache“ (Welling, 2006, S. 111), wobei zwischen gestörter Sprachentwicklung auf verschiedenen Sprachebenen und der verzögerter Sprachentwicklung unterschieden werden muss (ebd., S.113). Nach dem Verständnis von O. Braun kann von einer Sprachstörung gesprochen werden, „wenn die Fähigkeit zum regelhaften Gebrauch der Muttersprache fehlt oder normabweichend eingeschränkt ist“ (Braun, 2006, S. 34). Er führt aus, dass es sich bei Sprachstörungen um „konkrete Phänomene“ (ebd.) handelt, was eine subjektive Wahrnehmung derselben sowohl aus Sicht der Betroffenen als auch anderer impliziert. Jede menschliche Begegnung sowie das soziale Gesellschaftsleben macht deutlich, dass „Sprachstörungen […] immer auch als Störungen der Kommunikation begriffen werden“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 154) müssen. Die Ursache von Sprachstörungen ist durch Beobachtung von Vorgängen im Gehirn nicht nachvollziehbar (Braun, 2006, S. 34; Baumgartner, 2009, S. 260).

Dennoch ist der erfolgreiche Erwerb der Sprache wesentlich an das Gehirn gebunden. So müssen für den kindlichen Spracherwerb verschiedene Bedingungen erfüllt sein: Dazu gehört u.a. die „adäquate Reizverarbeitung des Gehirns“ (Ullmann, 2005, S. 399). Ebenso muss die Funktion entsprechend geforderter Körperstrukturen, der „Sprechwerkzeuge“ (ebd.) gewährleistet sein, genauso wie „die Speicherung von Lernerfahrungen“ (ebd.). Hierfür ist ein reibungsloser Ablauf im Gehirn erforderlich, sodass sich sowohl die Fähigkeit der Sprachrezeption als auch die der Sprachproduktion entwickelt, wobei erstere der anderen stets ein wenig voraus ist (ebd., S. 400).

Ursachen für Sprachbehinderungen können in Form „familiäre[r] Sprachschwäche“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 157) erblich bedingt sein, in verschiedenen organischen Fehlbildungen wie denen der Artikulationsoder Hörorgane liegen, psychischer oder soziokultureller Natur sein (ebd., S. 158). Die große Komplexität der Sprache und ihrer Behinderungen fordern dazu auf, diese „aus der mehrdimensionalen Perspektive sprachlicher Lehr- und Lernprozesse [zu] begreifen und […] die Störung einer Person als Sprachlernergebnis [zu] beschreiben“ (Baumgartner, 2009, S. 261).

2.3.7 Emotionale und soziale Behinderungen

In der sonderpädagogischen Literatur herrscht große Einigkeit bezüglich der Tatsache, dass hinsichtlich der Fassung der Systematik dieser Behinderungsform generelle Schwierigkeiten bestehen. Das häufig auch mit dem Begriff Verhaltensstörungen umschriebene Erscheinungsbild ist facettenreich und umfasst mehrere Bereiche des menschlichen Lebens. Solange sie nicht „chronisch werden und mit großer Intensität und Häufigkeit auftreten“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 246), werden Probleme im emotionalen und sozialen Bereich als Teil der „Normalität von Kindheit und Jugend“ (ebd.) betrachtet. Was in einer Gesellschaft als eine Abweichung von Normalität angesehen wird, ist abhängig von Kultur und Lebensführung, was eine allgemeingültige Begriffsfindung zusätzlich erschwert (ebd., S. 247).

Da trotz aller Schwierigkeiten aus Sicht der verschiedenen Fachbereiche eine Definition erforderlich ist, schlägt G. Opp eine symptombezogene Unterscheidung der Bereiche emotionaler und sozialer Behinderungen vor. Als solche nennt er „soziale Störungen, […] Aufmerksamkeits und Aktivitätsstörungen, […] soziales Rückzugsverhalten und Probleme der emotionalen Verarbeitung […] sowie psychotisches Verhalten“ (Opp, 2009, S. 229). Bezüglich dieser Kategorien lassen sich die Auffälligkeiten hinsichtlich externalisierendem und internalisierendem Verhalten voneinander abgrenzen, sind deshalb jedoch nicht als gegenseitig unabhängig einzustufen. Betroffene mit externalisierenden Störungen „treten mit ihren Verhaltensweisen stark nach außen und bringen ihre Umgebung in Schwierigkeiten“ (Stein, 2006, S. 28), womit besonders soziale Kompetenzen dieser Kategorie zuzuordnen sind. Bei internalisierenden Störungen dagegen sind die Auswirkungen für die Betroffenen wesentlich selbstwirksam und äußern sich z.B. durch ein „negatives Selbstkonzept […], starke Ängstlichkeit oder auch Depressivität“ (ebd.).

Es bestehen mannigfaltige Ursachen für die komplexen Bereiche emotionaler und sozialer Behinderungen. Eine Gemeinsamkeit haben sie nach G. Opp jedoch inne: Mit seinen Worten sind Verhaltensstörungen „das Ergebnis misslingender oder scheiternder Erziehungsprozesse oder auch einer mangelnden Passung zwischen den individuellen und auch konstitutionell bedingten Bedürfnissen eines Kindes und seinen Erziehungserfahrungen“ (Opp, 2009, S. 228).

2.3.8 Schwere und mehrfache Behinderungen

Schwere, mehrfache oder Schwermehrfachbehinderungen stellen kein von anderen Behinderungsformen abzugrenzendes Phänomen dar: Vielmehr handelt es sich um ein bei einer Person kombiniertes Auftreten von mindestens zwei unterschiedlich kategorisierten Behinderungen. Im Deutschen schließt die Bezeichnung der mehrfachen Behinderung immer auch das Vorliegen einer geistigen Behinderung mit ein. Abgesehen davon werden in der alltäglichen Praxis „sämtliche Behinderungen, die wegen des Schweregrades […] einer hoch spezialisierten pädagogischen Förderung bedürfen, um ein Maximum ihres Potenzials ausschöpfen zu können“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 126) als Schwermehrfachbehinderungen verstanden. Die Bezeichnung des Phänomens ist keineswegs einheitlich und weist allein im Deutschen zahlreiche Variationen auf (Biermann & Goetze, 2005, S. 125f.; Fischer, 2006, S. 306ff.).

Die medizinische Klassifizierung, nach welcher eine Person mit einem IQ bis 34 als schwerbehindert und mit einem IQ unter 20 als schwerstbehindert gilt, steht in der Kritik, da die betroffenen Personen u.a. häufig nicht die Voraussetzungen für die Durchführung entsprechender Testverfahren erfüllen. Das Verständnis schwerster Behinderung „unterliegt […] historischen, situativen und sozialen bzw. gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“ (Fischer, 2006, S. 306) und umfasst vielfältige Kriterien im Hinblick auf physische und sprachliche Funktionsstrukturen, auf Lernen und Entwicklung, auf die „Qualität der zwischenmenschlichen Begegnung“ (ebd., S. 307) sowie auch im Hinblick auf besondere Bedürfnisse und gesellschaftliche Teilhabe. Das Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) befasst sich mit verschiedenen Beschreibungen der Personengruppe und erkennt schließlich die Notwendigkeit, „den geeigneten Blickwinkel für eine Annäherung an die Person oder die Gruppe zu wählen abhängig von Situation und Intention“ (ISB, 2015, S. 24).

Es ist bei einem Großteil der betroffenen Personen die Ursache oder mehrere Gründe für ihre Schwermehrfachbehinderung festzustellen. Mögliche „Verursachungsfaktoren [sind] genetischer Art wie Chromosomenanomalien und Stoffwechselstörungen“ (Biermann & Goetze, 2005, S. 128). Die Hauptursache für die Entstehung von Schwermehrfachbehinderungen liegt allerdings bei Frühgeburten, ausgelöst durch Probleme im Schwangerschaftsverlauf, Geburtskomplikationen oder die zum Geburtszeitpunkt bestehende Unreife des Körpers. Auch in späteren Abschnitten des Lebens können Schwermehrfachbehinderungen entstehen, so u.a. durch „Hirnschädigung nach schweren Unfällen und notwendiger Reanimation“ (ebd.).

Menschen mit einer Schwermehrfachbehinderung sind in der Regel ihr Leben lang in ihrer Versorgung und Lebensführung sozial von anderen abhängig, wobei durch individuelle Förderung und entsprechende Hilfsmittel die Möglichkeit besteht, die Abhängigkeit möglichst umfassend zu reduzieren. Die Betroffenen haben einen hohen Bedarf an kommunikativer Unterstützung, da in der Regel nur ein kleiner Personenanteil über verständliche Lautsprache verfügt. Ebenso besteht ein ausgeprägter „Bedarf von Anpassung der Umgebung“ (ISB, 2015, S. 32), um als Lernvoraussetzung die Welt als zugänglich erleben zu können. Bezüglich der Förderung sind im pädagogischen Kontext vielfach Methoden entwickelt worden, um den individuellen Merkmalen und Bedürfnissen einer Person gerecht werden zu können und gezielt Lernen und Entwicklung zu ermöglichen (Fischer, 2006, S. 307, S. 310; ISB, 2015, S. 32).

Als Beispiele für die methodische Vielfalt der Ansatzpunkte in der Pädagogik seien hier einige Verfahren aufgeführt: Die Physiotherapie dient bei Menschen mit ausgeprägt eingeschränkter Bewegungsfähigkeit und „mit massiven körperlichen Ausgangsschädigungen“ (Fischer, 2006, S. 310) der „Kräftigung der Muskulatur, kompensatorischen Stützung bei Funktionsausfällen, Normalisierung des Muskeltonus oder der (An-)Bahnung von Haltungen und Bewegungsabläufen“ (ebd.). Das Konzept der basalen Aktivierung ist auf die Herstellung eines Zugangs zur eigenen und gemeinsamen Lebenswelt ausgerichtet. Es bedeutet die „Herausforderung und […] Einbeziehung in Interaktionsfelder“ (ebd., S. 311) und zielt dabei auf „funktionale Ertüchtigung […] ergänzt durch Bereiche wie Sicherung existenzieller Lebensbedürfnisse, Aufbau von Objektbeziehungen und Umweltorientierungen“ (ebd.). Eine weitere Lern- und Entwicklungsperspektive bietet das Spielen, bei dem betroffene Personen unter Voraussetzung entsprechend gestalteter Möglichkeiten Selbsterfahrung, Interaktion und verschiedene Kompetenzbereiche erleben (ebd., S. 312).

2.4 Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verfassen die Vereinten Nationen ein Dokument, das die international offiziell anerkannten Menschenrechte im Hinblick auf einen bestimmten Personenkreis unter der weltweiten Einbeziehung der menschlichen Gesellschaften und ihrer Systeme konkretisiert und erweitert: Am 03.05.2008 tritt das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. Es wird in der deutschsprachigen Ausgabe als ein „wichtige[r] Schritt zur Stärkung der Rechte von weltweit rund 650 Millionen behinderter Menschen“ (BMAS, 2011, S. 3) vorgestellt.

Mit den Worten P. Satyanarayanas verkörpert die „United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities (UNCPRD)“ (Satyanarayana, 2014, S. 74) „an impetus and unique platform for advancement of the international disability rights agenda in development from which to engage the wider global development community“ (ebd.). Das Übereinkommen nimmt konkret Bezug auf die „Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen mit dem Ziel, ihre Chancengleichheit in der Gesellschaft zu fördern“ (BMAS, 2011, S. 3) und umfasst nebst der Präambel 50 untergliederte Artikel, die sich mit verschiedenen wesentlichen Lebensbereichen auseinandersetzen. Zu diesen gehören u.a. Zugänge zur unmittelbaren Umwelt und allen Ebenen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, dem staatlichen Rechts-, Gesundheits- und Bildungssystem sowie die Aspekte Familie und Arbeit.

Den aufgeführten Lebensbereichen stehen acht „allgemeine Grundsätze“ (ebd., S. 12) vor, auf deren Basis das gesamte Dokument seinen Anspruch und seine Gültigkeit erhebt. Über allen anderen Punkten steht die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und seiner Autonomie. Weitere Grundsätze für das Selbstverständnis der Konvention bilden die Nichtdiskriminierung sowie „die volle und wirksame Teilhabe“ (ebd.) am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit Behinderungen. Es gilt, diesen Personenkreis ebenso wie alle anderen Menschen weltweit in seinem Merkmalsreichtum zu achten und ihn „als Teil der menschlichen Vielfalt“ (ebd., S. 13) zu akzeptieren. Der Grundlage von Chancengleichheit und Zugänglichkeit liegt ebenso wie die geschlechtliche Gleichberechtigung „die Achtung vor den sich entwickelnden Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität“ (ebd.) zugrunde.

Um die Umsetzung der vereinbarten Rechte von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, fordert das Übereinkommen von sich beteiligenden Staaten, „to maintain statistics about the persons with disabilities“ (Satyanarayana, 2014, S. 80) und bittet diese um „international cooperation in sharing of information, experiences, training programmes, scientific and technical knowledge for the betterment of the lives of persons with disabilities“ (ebd.). Die das Übereinkommen unterzeichnenden und ratifizierenden Staaten verpflichten sich gegenüber den Vereinten Nationen, in regelmäßigen Abständen über die von ihnen vorgenommenen Maßnahmen zur Umsetzung der durch die Konvention formulierten Ziele schriftlich Bericht zu erstatten.

2.5 Behinderungen in der Gesellschaft: Teilhabe und Ausgrenzung

Jeder Mensch „ist Person und soziales Wesen zugleich“ (Cloerkes, 2007, S. 2). Nach dieser Definition ist es dem Menschen nicht möglich, von seinen Mitmenschen unbeeinflusst zu leben. Die jeweiligen Gesellschaften weltweit formen im Lauf ihrer Entwicklung in vielfältiger Weise Normen und daraus resultierende Erwartungen, die sie an ihre Mitglieder stellen. Wie unter Punkt 2.1 bereits ausgeführt, stellen Menschen mit Behinderungen in ihren Gesellschaften Personenkreise dar, die im Hinblick auf die mit der Behinderung verbundenen Merkmale „eine dauerhafte und sichtbare Abweichung“ (ebd., S. 8) von Normen und Erwartungen aufweisen, sodass aufgrund dieser eine negative soziale Reaktion erfolgt. A. Waldschmidt und W. Schneider vermuten, dass „die Abgrenzungskategorie Behinderung ‚gebraucht‘ [wird], um sozialen Zusammenhang und Stabilität zu gewährleisten und bestimmte, kulturell vorgegebene Vorstellungen von Körperlichkeit und Subjektivität aufrechtzuerhalten“ (Waldschmidt & Schneider, 2007, S. 10). Ob ein Merkmal eines Menschen eine solche Abweichung darstellt, ist durch „die Verletzung sozio-kulturell bedingter Standards oder Werte als das entscheidende Kriterium“ (Cloerkes, 2007, S. 106) gesellschaftsabhängig. Wie sehr diese Standards und Werte durch den Wandel der Zeit beeinflusst werden, verdeutlicht „eine große Vielfalt in den Sichtweisen von Behinderung und den Umgangsformen mit als behindert definierten Menschen“ (Waldschmidt & Schneider, 2007, S. 10), die „über die Jahrhunderte und zwischen den Kulturen“ (ebd.) zu finden ist.

Wichtig für das Verständnis der gesellschaftlichen Situation von Menschen mit Behinderungen ist die bewusste Trennung einer Bewertung der Behinderung und der Reaktion auf dieselbe: Trotz einer negativen Einstellung können Menschen aus verschiedenen Gründen positive Reaktionen zeigen. Die „dominierenden Wertvorstellungen“ (Cloerkes, 2007, S. 103) sind es, die zur Entwicklung bestimmter „Einstellungen und Verhaltensweisen“ (ebd.) einer Person gegenüber Menschen mit Behinderungen veranlassen. Einstellungen setzen sich an dieser Stelle aus „positiven oder negativen Gefühlen, […] Informationen bzw. Vorstellungen […] [und] Handlungstendenzen“ (Ellinger, 2005, S. 146) zusammen. Ausschlaggebend kann bestehender Kontakt zu Menschen mit Behinderungen sein, der jedoch nicht zwangsläufig zu positiv ausgerichteten Einstellungen führen muss. Demnach ist „nicht die Häufigkeit des Kontakts […] entscheidend, sondern seine Intensität. […] wichtige Nebenbedingungen sind seine emotionale Fundierung und seine Freiwilligkeit" (ebd., S. 147). Negative und stigmatisierende Einstellungen und Verhaltensweisen sind es, welche die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen massiv einschränken und die Ausgrenzung dieser aus verschiedensten Lebensbereichen herbeiführen.

Diskriminierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen verhindern als weltweit auftretendes Phänomen, was das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen als Ideal verfolgt: Die gleichberechtigte „Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Lebensbereichen der Gesellschaft“ (Muth, wie zitiert in Cloerkes, 2007, S. 211). Behinderung wird hier unabhängig von individuellen Schädigungen zur „soziokulturelle[n] Praxis und Konsequenz gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Machtverhältnisse“ (Schillmeier, 2007, S. 79). Die stigmatisierende Behandlung von Menschen mit Behinderung definiert deren hier thematisiertes Merkmal als „auffallendes“ (Ellinger, 2005, S. 151), aufgrund dessen „sich die nicht stigmatisierten Menschen abweisend, verschlossen oder herabwürdigend verhalten“ (ebd.). Die Folgen davon zeigen sich aus Perspektive von Menschen mit Behinderungen durch „Kontaktverlust, […] Isolation und Ausgliederung“ (Cloerkes, 2007, S. 171). Kommt es nun zu Interaktionen, sind diese „durch Spannungen, Unsicherheit und Angst erschwert“ (ebd.).

Verschiedene Reaktionsformen auf Behinderungen bzw. auf die von ihnen Betroffenen „dienen fast immer der Abgrenzung“ (Cloerkes, 2007, S. 106) der eigenen Person von derjenigen mit Behinderung. Darunter fallen nicht nur offensichtlich abwertende Reaktionen in Form von „diskriminierende[n] Äußerungen[,] Witze[n,] Spott und Hänseleien [oder] Aggressivität“ (ebd.), sondern auch vermeintlich sozialfreundliche, interaktionsbetonte Reaktionen wie „aufgedrängte Hilfe“ (ebd., S. 107), Mitleidsbekundungen oder sogar „Schein-Akzeptierung“ (ebd.). Allerdings existieren nicht nur Reaktionsformen diesen Sinnes: So differenziert A. Bürli zwischen acht möglichen Grundhaltungen im Hinblick auf den Umgang mit dem Fremden, „1) Negation, 2) Abwertung, 3) Bekämpfung, 4) Akzeptanz, 5) Aneignung, 6) Herausforderung, 7) Verflechtung, 8) Verstehen“ (Bürli, 2012, S. 23). Behinderungen führen bei Menschen ohne Behinderungen unausweichlich zu verschiedensten Empfindungen, darunter „Verwunderung, Anziehung, Beunruhigung, Bedrohung, Rückweisung, Abstoßung. Mit der Faszination von Behinderung geht gleichzeitig eine Ambivalenz einher“ (ebd., S. 29), mit der umzugehen und mit der sich selbstkritisch auseinanderzusetzen eine Herausforderung darstellt.

Gesellschaftliche Teilhabe erweist sich somit als etwas, zu deren Verwirklichung und Erhaltung nicht nur politische Beschlüsse, Gesetzgebungen und öffentliche Institutionen ihren Beitrag leisten müssen, sondern auch als ein „Grundrecht im Zusammenleben der Menschen“ (Muth, wie zitiert in Cloerkes, 2007, S. 211), für das jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft Verantwortung trägt.

3. Behinderung in Tansania: Ethik und Politik

Es ist nicht einfach, zuverlässige Informationen über die offiziellen Leistungen des Staates und von Organisationen zu erhalten oder vielmehr, sie als solche zu identifizieren. In der Literatur sowie inner- und außerstaatlich stehen teilweise unterschiedliche Angaben zur Verfügung. Es wird auch vielfach in Frage gestellt, ob vorliegende Daten und Studien in ihren Aussagen repräsentativ und vollständig sind, da Teile der Bevölkerung womöglich nicht erfasst wurden oder andere Schwierigkeiten berücksichtigt werden müssen. Dennoch sind die zur Verfügung stehenden Quellen als richtungsweisend einzuschätzen. Das Land Tansania erlebt in dieser Zeit eine schnelle, die unterschiedlichsten Aspekte und Faktoren betreffende Entwicklung.

3.1 Das Land Tansania

Die an Afrikas Ostküste gelegene Vereinigte Volksrepublik Tansania hat gut 57 Millionen Einwohner, wobei sich die Bevölkerung mit einer jährlichen Wachstumsrate von etwa 3,16% rasant vergrößert. Der Bevölkerungsanteil unter 15 Jahren liegt 2017 bei 45,25%. Durchschnittlich haben die Tansanier und Tansanierinnen eine Lebenserwartung von 65,68 Jahren (2016). Amtssprache ist das Kiswahili, offizielle Bildungs- und Verkehrssprache ist Englisch. Schätzungen zufolge leben im Land rund 40% Christen, 40% Muslime sowie 20% Gläubige traditioneller afrikanischer Religionen (Auswärtiges Amt, 2017, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tansania-node/tansania /208660).

Noch ist nicht die mittig gelegene Hauptstadt Dodoma der Regierungssitz, sondern die größte Stadt des Landes Dar es Salaam am indischen Ozean. Von dort aus wird das Land in Form eines Präsidialsystems regiert. Seit November 2015 wird das Staatsoberhaupt von Dr. John P. J. Magufuli als Präsident und Regierungschef verkörpert. Die Regierungspartei ist Chama Cha Mapinduzi (CCM) (Auswärtiges Amt, 2017, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tansanianode/tansania /208660).

Unterteilt ist die Landesfläche von 947300 Quadratkilometern in 30 Regionen unter Verwaltung sogenannter Regional Commissioners, welche wiederum in insgesamt 114 Distrikte untergliedert sind, die den District Commissioners unterstehen. 38,15% (2017) der Landesfläche sind als Naturschutzgebiete ausgewiesen. Das tropische Klima steht im Wechsel von Regen und Behinderung in Tansania: Ethik und Politik Trockenzeiten (Auswärtiges Amt, 2017, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik /laender/tansania-node/tansania/208660; BMZ, 2018, https://www.bmz.de/de/laender_regionen /subsahara/tansania/profil.html).

Tansania ist Mitglied einiger internationaler Organisationen, u.a. der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union, der East African Community und der Welthandelsorganisation. Seit einigen Jahren weist das Land ein stabiles Wirtschaftswachstum von rund sieben Prozent vor. Das Bruttoinlandsprodukt umfasst 2015 etwa 46,7 Milliarden US-Dollar, wovon etwa 3,59% (2014) für Bildung und 2,59% (2014) für den Gesundheitssektor ausgegeben werden. Pro Kopf liegt das Bruttonationaleinkommen im Jahr durchschnittlich bei 910 US-Dollar und damit bei etwa 2,5 USDollar pro Tag. Die Landeswährung sind Tansanische Schilling (Auswärtiges Amt, 2017, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tansania-node/tansania/208660; BMZ, 2018, https://www.bmz.de/de/laender_regionen /subsahara/tansania/profil.html).

Trotz einer hohen Impfschutzrate einjähriger Kinder von 97% (2017) erlebt im Schnitt etwa jedes 18,5te Kind (2017) seinen fünften Geburtstag nicht. Während der Anteil der im Schwangerschaftsverlauf medizinisch betreuten Mütter mit 91,4% (2016) recht hoch ist, finden nur 63,5% (2016) der Geburten selbst unter einer solchen fachlichen Betreuung statt (BMZ, 2018, https://www.bmz.de/de/laender_regionen /subsahara/tansania/profil.html).

Ein Großteil der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft. 77,89% (2015) der Menschen in Tansania sind alphabetisiert. Sowohl der Besuch der Grundals auch der weiterführenden staatlichen Schulen ist kostenlos, jedoch werden der Schultransport, die Schuluniformen und Verpflegung nicht finanziert. 2014 besuchten etwa 79,05% der schulpflichtigen Kinder die Grundschule. Hierbei ist eine Lehrperson durchschnittlich für 43,07 Kinder (2014) zuständig. Von allen Kindern zwischen sieben und vierzehn Jahren arbeiten etwa 34,74% (2014) (Auswärtiges Amt, 2017, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tansania-node/tansania/ 208660; BMZ, 2018, https://www.bmz.de/de/laender_regionen/subsahara/tansania/profil.html).

Die Gegend Tansania ist geschichtlich geprägt von Völkerwanderungen, vor allem aus West- und Nordafrika, und Seehandel mit arabischstämmigen Völkern im ungefähren Zeitraum 1000 v. Chr. bis 1500 n. Chr. Ende des 19. Jahrhunderts wurde das damalige Tanganyika zu einer Kolonie Deutschlands. Im Jahr 1918 wurde Tanganyika den Briten als neue Kolonialmacht des Landes zugesprochen, die es bis 1961 verwalteten. Allerdings erlangte Tanganyika im Lauf der Jahre immer mehr Eigenständigkeit und wurde Ende 1961 ein unabhängiger Staat. Der erste Staatspräsident war Julius Nyerere. Als auch die vor der Küste Tanganyikas liegenden Inseln Sansibar und Pemba 1963 unabhängig wurden, vereinigten sie sich mit dem Festland am 26.04.1963, dem heutigen Behinderung in Tansania: Ethik und Politik Nationalfeiertag, zur Vereinigten Volksrepublik Tansania (7o7 MARKETING GmbH, 2018, https://tansania.de/land-leute/geschichte/).

3.2 Ein Rückblick: Kultursensibilität als verpflichtende Herausforderung für Wissenschaft und Gesellschaft

Die mit dieser Arbeit verbundene Betrachtung der Arbeit mit Kindern mit Behinderungen, der Situation von Menschen mit Behinderungen und des Behinderungskonzepts in Tansania verpflichtet die Verfasserin, die Leserinnen und Leser und darüber hinaus durch ihre Übertragbarkeit auf alle anderen zwischenmenschlichen Begegnungen die Menschen zum Versuch einer Form der Betrachtung, die Weitblick und das persönliche Streben nach interkultureller Kompetenz verlangt. Es gilt, das Themenfeld in seiner wahren Größe zu erkennen und sich auf diese einzulassen: Soll nun also die pädagogische und therapeutische Arbeit mit Kindern mit Behinderungen in einem tansanischen Kinderdorf der Gegenstand des Interesses sein, schließt das ein Kennenlernen des Landes und des Lebens der Menschen dort mit ein und erfordert einen Blick auf die Hintergründe des Tätigkeitsfelds sowie ein zumindest versuchtes Verständnis. Es geht darum, die Fremdheit in ihrer Ganzheit als Herausforderung zu begreifen und anzunehmen, um sich damit auseinandersetzen zu können.

A. Erdélyi beschreibt es als Herausforderung, „das Andere wahrzunehmen und dennoch offen zu bleiben für das Fremde“ (Erdélyi, 2012, S. 43) und formuliert die „Aufgabe, Anderssein zu verstehen, zu respektieren“ (ebd., S. 40), wodurch die scheinbare Akzeptanz, die bereits in Kapitel 2.5 als eine von G. Cloerkes und A. Bürli erkannte Grundhaltung des Menschen gegenüber Fremdem aufgeführt wurde, in den Fokus rückt. In ihrer Benennung als vermeintlich positiv gekennzeichnet, wird die bloße Akzeptanz des Fremden - und somit aus der Perspektive von Menschen ohne Behinderung also die Akzeptanz der Menschen mit Behinderung als eine Haltung der Distanz entlarvt. Obwohl nicht eindeutig abwertend, liegt der anspruchslosen Akzeptanz die eigene, womöglich unbewusste Abgrenzung von der anderen Personengruppe zugrunde und impliziert ein gleichbleibendes Verhältnis des Nebeneinanderherlebens. Unter der Prämisse P. Sehrbrocks, „dass Kulturen als für Veränderungen, Anpassungen und Überlagerungen offene Systeme […] sind“ (Sehrbrock, 2012, S. 76), wird im Hinblick auf A. Erdélyis Forderung deutlich, dass das Verstehen dieses Fremden die zielführende Ebene darstellt, welche weit über die der Akzeptanz hinausreicht.

Um auf diese Ebene des Verstehens fremder Kulturen zu gelangen, muss die persönliche Aneignung des fremden Landes, der fremden Kultur, des fremden Phänomens mit dem Ziel erfolgen, „dass die Stellung des Fremden in unserer Erfahrung und […] unsere Einstellung zum Fremden sich ändert“ (Bürli, 2012, S. 25). A. Bürli bemerkt, dass „im zwischenmenschlichen Verhältnis […] das NichtGemeinsame als etwas Typisches hingestellt [wird]“ (ebd., S. 18), sieht jedoch in „Begegnung, Austausch und Durchlässigkeit“ (ebd., S. 30) die Möglichkeit zum „Bewusstseinswandel“ (ebd., S. 37). Dem hierfür erforderlichen „langwierigen Lernprozess“ (ebd., S. 29) setzt er einen hohen Grad an Bereitschaft, Offenheit und Eigeninitiative voraus, welche „das Zugehen auf Menschen, das Erlernen von Sprachen und de[n] Versuch, andere Kulturen zu verstehen“ (ebd.) umfassen. Nur so „kann die (gegenseitige) Begegnung mit anderen Menschen und Völkern, die für uns fremd sind und denen wir fremd sind, […] zu einer Bereicherung […] führen“ (ebd.).

Diese Arbeit ist als ein Versuch zu verstehen, der Herausforderung entgegenzutreten, der Aufgabe so weit wie möglich nachzukommen und sich mit den in so vieler Hinsicht fremden Aspekten eines Landes und der Situation eines Personenkreises in Abkehr von einer „Monokultur des Geistes“ (Bürli, 2012, S. 31) auseinanderzusetzen, „die sich der Idee einer Weltformel verpflichtet fühlt, nach einheitlichen Ansätzen und Lösungen strebt und daneben keine Alternativen gelten lässt“ (ebd.). Eine Ebene des Verstehens soll Weg und Ziel der Arbeit zugleich sein, denn sie „birgt die große Chance, dass die entwickelten Normen nicht ohne Rücksicht auf die je unterschiedlichen Systeme in verschiedenen Ländern einheitlich verordnet werden“ (Erdélyi, 2012, S. 53) und ist darüber hinaus wesentlich für alle zwischenmenschlichen Begegnungen der „mehr als sechs Milliarden sich stetig wandelnde[n] Mosaiksteinchen“ (Schmidtke, 2012, S. 67) menschlichen Lebens, ohne den Anspruch zu haben, „dass das Fremde sich auflöst“ (Bürli, 2012, S. 25).

3.3 „Grundlagen afrikanischer Ethik“ nach Bénézet Bujo

Der kongolesische Moraltheologe und Sozialethiker B. Bujo, geboren 1940, richtet sich mit einer klaren Forderung an die westliche Welt: Gleich zu Beginn seines Buches „Wider den Universalanspruch westlicher Moral: Grundlagen afrikanischer Ethik“ bestätigt er dessen Titel. Er stellt heraus, „daß die afrikanische Gedankenwelt selbstständig ist“ (Bujo, 2000, S. 13) und warnt die westlichen Länder vor der willkürlichen Eigenkonstruktion einer afrikanischen Ethik. Diese ist in ihrer „kosmische[n] Dimension“ (ebd., S. 15f.) über die Würde des Menschen hinaus erhaben und schließt die „Würde der gesamten Schöpfung“ (ebd.) mit ein. Weg und Ziel der afrikanischen Ethik ist es über allem anderen, das „Leben in Fülle“ (Sehrbrock, 2013, S. 49) für die Gemeinschaft und ihre einzelnen Mitglieder durch „Lebenskraft“ (ebd., S. 48) zu fördern und zu bewahren.

Ein wesentlicher Aspekt der afrikanischen Ethik ist nach B. Bujo die Gemeinschaft, die „das Leben als das oberste Prinzip des ethischen Handelns“ (Bujo, 2000, S. 17) fördert und schützt. Die Gemeinschaft bildet die Lebensgrundlage aller in sie eingebundenen Individuen: „[…] der Mensch [steht] von allem Anfang an in einem Beziehungsnetz […], das seine unveräußerliche Würde ausmacht“ (ebd., S. 125). Das Individuum wird erst innerhalb der Gemeinschaft und durch das Eingebundensein in dieses Beziehungsnetzwerk zur Person (ebd.). Die Gemeinschaft wird mit allem, was sie bietet und verlangt, zur Basis der eigenen Lebensführung.

In ihrem Verständnis als Lebensgrundlage stellt sie den entscheidenden Faktor für das moralische Empfinden und das „moralisch richtige Handeln“ (Bujo, 2000, S. 21) der Menschen dar: Durch das Prinzip der Gemeinschaft entstehen und bestehen Normen, das Leben des einzelnen Individuums ist auf das Leben der Gemeinschaft ausgerichtet: „Ich bin, weil wir sind und seit wir sind, bin ich auch“ (ebd., S. 20). B. Bujo mahnt jedoch an, „daß nicht die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft schon die Identität ausmacht, sondern erst das gemeinsame Handeln macht den Menschen zum Menschen“ (ebd., S. 123). Somit hat eine Person als Mitglied der Gemeinschaft dieser gegenüber auch die Verantwortung inne, ihr gerecht zu werden und nicht durch falsches oder bösartiges Verhalten der Würde aller Mitglieder zu schaden. Das Prinzip höchster Solidarität innerhalb der Gemeinschaft „[macht] sich im guten wie im bösen bemerkbar […]. Jedes Mitglied muß sich hier bewusst sein, daß seine Taten entweder zum Lebenswachstum der gesamten Gemeinschaft oder zu deren Lebensverlust bzw. Lebensverminderung beitragen“ (ebd., S. 124). Die Gemeinschaft hat die Aufgabe, das Individuum „zur höchst persönlichen Verantwortung“ (ebd., S. 131) sich selbst und den anderen gegenüber zu erziehen, um den „Lebensdynamismus [zu erhalten], der sich nur in Gegenseitigkeit […] vollzieht“ (ebd., S. 124).

Mit der Gemeinschaft versöhnt zu sein, gilt als bedeutender Beitrag zur eigenen Gesundheit. Eine Krankheitsursache wird „hauptsächlich in der zwischenmenschlichen Beziehung“ (Bujo, 2000, S.72) gesehen, welche nicht nur die Dimension der Lebenden, sondern auch die der Toten umfasst. Daher ist es im Fall einer Verletzung dieser für die Gesundung des Gemeinschaftsmitglieds notwendig, dass sich die vollständige Gemeinschaft an deren Prozess beteiligt (ebd.). B. Bujo verweist auf die Notwendigkeit, „den Menschen ganzheitlich zu betrachten, und das Mysterium, das ihn umgibt, läßt sich nicht nur rational erfassen“ (ebd., S. 26).

Auf die vollständige Ausrichtung des Individuums an der Gemeinschaft Bezug nehmend stellt B. Bujo heraus, dass die Gefahr besteht, „daß die Gemeinschaft das Individuum unter Druck setzen und zum Mitläufertum zwingen könnte und auch oft zwingt“ (Bujo, 2000, S. 131), kritisiert diesen Umstand jedoch als nicht den ethischen Prinzipien entsprechend, da „die afrikanische Ethik zwar keinen Individualismus fördert, aber […] andererseits auch entschieden gegen ein unkritisches Mitläufertum ist“ (ebd.). Missachtung und Auflösung der Identität von der Gemeinschaft zugehörigen Individuen führen zur Selbstvernichtung des ethischen Gemeinschaftsdenkens und bedeuten einen eindeutigen „Widerspruch“ (ebd., S. 132) zu diesem. Die einzelne Person ist dazu aufgerufen, sich innerhalb der Gemeinschaft zum selbstständigen Menschen zu entwickeln: „Das Gemeinschaftsleben verlangt Wachsamkeit und Bewahrung eigener Individualität“ (ebd., S. 128) sowohl in existenzieller als auch in arbeitsethischer Hinsicht (ebd., S. 130).

Die afrikanische Gemeinschaftsethik verlangt von den Menschen Eigenverantwortung und Selbstständigkeit. B. Bujo spricht in diesem Zusammenhang „vom Subsidiaritätsprinzip“ (Bujo, 2000, S. 131): Ein Individuum in Not und Hilfsbedürftigkeit wird von der Gemeinschaft in Solidarität unterstützt, muss jedoch durch diese Unterstützungsmaßnahmen wieder zur Eigenständigkeit zurückfinden und ist generell selbst dafür verantwortlich, eine angemessene und ethisch korrekte Lebensführung vorweisen zu können (ebd.).

Was es im Rahmen der afrikanischen Ethik bedeutet, eine Behinderung zu haben, und wie mit Menschen mit Behinderung umgegangen wird, ist für B. Bujo unbedingt vor dem Hintergrund der Gemeinschaftskonzeption zu sehen. Er mahnt die Notwendigkeit sorgfältiger Differenzierung in Bezug auf die Beurteilung dieser an: In ihr sind „sowohl lebensfördernde, als auch lebensbedrohliche Aspekte“ (Bujo, 2012, S. 91) zu finden. Hinsichtlich des Lebens als höchstes Gut definieren und interpretieren verschiedene ethnische Gruppen für sich, was Leben im Sinne der dreidimensionalen Gemeinschaft, welche die schon Verstorbenen, die Lebenden und die noch nicht Geborenen umfasst, für eine Bedeutung einnimmt und dementsprechend auch, was das Leben und die Lebensgemeinschaft zu bedrohen imstande ist (ebd., S. 87; S. 91; S. 94).

Für B. Bujo ist es „überdeutlich, dass auch in Schwarzafrika das Behinderungsproblem präsent ist, und dass die Kultur nicht immer zugunsten der betroffenen Menschen interpretiert wird“ (Bujo, 2012, S. 92). Im Zusammenhang mit dieser Betrachtung weist er darauf hin, dass im Umgang mit Behinderungen sowohl negative als auch positive Praktiken und Verhaltensweisen zu finden sind. Die Interpretation des Anliegens der Ahnen, die als Wächter über das gemeinschaftliche Miteinander und als Spender der Lebenskraft auftreten, bildet die Grundlage für die Interpretation von Behinderungen (Bujo, 2000, S. 144; Bujo, 2012, S. 92).

[...]

Ende der Leseprobe aus 220 Seiten

Details

Titel
Die pädagogische und therapeutische Arbeit mit Kindern mit Behinderung im Human Dreams Kinderdorf, Tansania, vor dem Hintergrund der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Sonderpädagogik)
Note
1,00
Autor
Jahr
2018
Seiten
220
Katalognummer
V539604
ISBN (eBook)
9783346146328
ISBN (Buch)
9783346146335
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tansania, Behinderung, international, UN-Konvention, Behindertenrechtskonvention, Schwerstmehrfachbehinderung, Kinder, interkulturelle Sonderpädagogik, Soziologie, Kultur, soziale Situation von Menschen mit Behinderungen, Ethik, Behinderungen in Tansania, Kultursensibilität
Arbeit zitieren
Anna Spellerberg (Autor:in), 2018, Die pädagogische und therapeutische Arbeit mit Kindern mit Behinderung im Human Dreams Kinderdorf, Tansania, vor dem Hintergrund der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539604

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