Die Intensivklasse als sozialisatorischer Möglichkeitsraum

Ethnographie einer Klassengemeinschaft im Wandel


Masterarbeit, 2019

107 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Danksagung

1. Einleitung

2. Der Forschungsstand als Hinführung zum Erkenntnisinteresse
2.1 Schulhistorischer Einstieg
2.2 Sozialisationsforschung in der Schule
2.3 Kinder und Jugendliche als Akteure ihres interkulturellen Schulalltages
2.4 Wissenschaftliches und praktisches Erkenntnisinteresse

3. Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen
3.1 Phänomenspezifische Herausforderungen und Erkenntnispotentiale ethnographischen Forschens
3.1.1 Das Forschen mit Kindern
3.1.2 Der fluktuationsbedingte Wandel räumlicher und sozialer Arrangements
3.1.3 Die soziale Bedeutsamkeit sprachlicher und kultureller Heterogenität
3.1.4 Die Nähe zwischen Gegenstand und Forschungsstrategie
3.1.5 Zusammenfassende Betrachtung
3.2 Das Forschungsfeld und sein Zugang
3.2.1 Die Intensivklasse von Frau Ring
3.2.2 Die Vorbekanntheit
3.2.3 Meine ersten Besuche
3.3 Datenerhebung und Datenanalyse
3.3.1 Die Beobachtende Teilnahme als Strategie der Datenerhebung
3.3.2 Die hermeneutische Analyse von Beobachtungsprotokollen

4. Ergebnisorientierte Falldarstellung
4.1 Die Vorstellungsrunde – Zur sozialisatorischen Bedeutung rotierender Teilnehmerschaften
4.2 Bewegungen im Klassenzimmer – Fluktuationsbedingter Wandel sozialer und räumlicher Arrangements
4.3 Übersetzungsgeschehen als sozialisatorische Praxis
4.4 Wenn aus Konflikten „Beschwerden“ werden – Grenzen der Selbstsozialisation?
4.5 Zusammenführung der Ergebnisse

5. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Danksagung

Die letzten Jahre meines Studiums waren eine forschungsintensive, ereignis- und erfahrungsreiche Zeit, die mit der vorliegenden Masterarbeit nun formal endet. Vom ersten Blick hinter die Kulissen der von mir besuchten Intensivklasse bis zur Abgabe dieser Arbeit, standen KommilitonInnen, FreundInnen und Verwandte unterstützend an meiner Seite. Stets boten sie mir einen Reflexionsrahmen, aus dem heraus ich bewährte Ideen weiterdenken und neue Perspektiven einnehmen konnte.

In besonderem Maße danke ich meiner Betreuerin für die Ausdauer, mich mit ihrer wissenschaftlichen Expertise und persönlichen Neugierde über diesen fast dreijährigen Forschungsprozess motivierend und inspirierend zu begleiten. In mehrstündigen Sprechstunden, zahlreichen Kolloquiumssitzungen und wochenlangen gemeinsamen Seminarleitungen verloren wir uns gerne in den unzähligen Möglichkeiten, das Phänomen zu erforschen. Und schließlich kamen wir zu einer Fragestellung, bei der all die wertvollen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse einen würdigen Platz fanden.

Für das Interesse an meinem Forschungsvorhaben und die Genehmigung zur Umset- zung dessen, gilt der Klassenlehrerin und dem Schulleiter mein aufrichtiger Dank. Zu guter Letzt danke ich herzlichst den Kindern und Jugendlichen der Intensivklasse von Frau Ring, die mir mit größter Offenheit begegnet sind, mir ihre Freundschaft angebo- ten und Persönliches anvertraut haben. An ihr und unser inspirierendes Miteinander denke ich gerne zurück.

1. Einleitung

Noch bevor wir beginnen informiert Frau Ring Semira, dass nach den Ferien ein neues Mäd- chen in die Klasse komme. „Wie alt?“, erkundigt sich Semira, als nehme sie gerade ein Proto- koll auf. Das wisse Frau Ring noch nicht. „Welches Land?“, fragt Semira weiter, als rufe sie ei- nen Fragenkatalog ab. Frau Ring antwortet: „Aus Afghanistan“. […] Maja kommt dazu. Auch ihr erzählt Frau Ring von der neuen Schülerin. Spannung verbreitet sich in ihrem Gesicht, Fun- keln in ihren Augen: „Welches Land? Hoffentlich Ghana!“ Frau Ring teilt auch ihr mit, dass das Mädchen aus Afghanistan komme. (BP01: 307-314)

Semira und Maja besuchen zum Zeitpunkt der aufgeführten Szene bereits seit gut einem halben Jahr die Intensivklasse von Frau Ring. Zwischen ihrem Eintritt und dem des angekündigten Mädchens aus Afghanistan liegen sieben Kindergeburtstage, zahlreiche Unterrichtsstunden, mein erster Besuch der Klasse, sechs Wochen Sommerferien, der Beginn eines neuen Schuljahres und neun weitere Zugänge aus vier verschiedenen Ländern. Zwei SchülerInnen haben die Klasse verlassen. Bedingt durch diese hohe, ganzjährige Fluktuation wandelt sich die Klassengemeinschaft einer solchen Klasse kontinuierlich, wie das Muster eines Kaleidoskops durch die Bewegung seiner einzelnen Teile. Es ist kein neues Phänomen, wie Frank-Olaf Radtke bereits in den 90er Jahren konstatiert: „‚Seiteneinsteiger’ hat es als Folge des Migrationsprozesses immer gegeben, weil sich Migrationsentscheidungen der Eltern nicht nach dem Schuljahresrhythmus richten.“ (Radtke 1996: 49) In besonderem Maße trifft dies auf vergangene wie aktuelle Flüchtlingsbewegungen zu.

Entlang vielfältiger Dimensionen begegnet uns eine entsprechend heterogene Schüler- schaft in den speziell eingerichteten Klassen für neuzugewanderte Kinder und Jugendli- che. Neben dem Alter und Lernstand sowie der Herkunft und Sprache, sind es vor allem auch die sozialisatorischen und (bildungs-)biographischen Vorerfahrungen der ankom- menden Kinder, die diese Heterogenität ausmachen. Und, wie in zahlreichen sprach-, erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Beiträgen dargelegt, primär das Bildungssystem und die darin agierenden (Lehr-)Personen vor Herausforderungen zu stellen scheint (vgl. z.B. Nelde et al. 1981, Auernheimer et al. 2001, Trautmann/Wischer 2011, BIM/SVR- Forschungsbereich 2017). An didaktischen und anerkennungstheoretischen Konzepten wird seit den 1970er Jahren getüftelt. Für das alltägliche pädagogische Handeln eine nachvollziehbare und dennoch fragwürdige Akzentuierung, liegen ihr doch eine problem-orientierte Defizitlogik sowie ein stark verkürztes Subjektverständnis zugrunde. Konstruiert und pathologisiert werden Sprach- und Sozialisationsdefizite von SchülerInnen mit Migrationshintergrund im Allgemeinen und so genannten Seiteneinsteigern im Besonderen (vgl. Houbé-Müller 1996). Allgemein gesprochen werden „[…] das Thema Interkulturalität auf ein Didaktikproblem und die Schüler_innen damit auf die Rolle der zu Belehrenden“ (vgl. Kurt/Pahl 2016: 18) reduziert. Isoliert betrachtet wurden bislang vornehmlich migrations- bzw. fluchtspezifische Herausforderungen, während sich die Frage nach der Bearbeitung kindheits- und jugendbezogener Aufgaben im Kontext Schule nur unzureichend gestellt wurde. Die daraus resultierenden schulorganisatorischen Auswirkungen auf den Umgang mit neuzugewanderten Kindern und Jugendlichen, wie beispielsweise die Einrichtung paralleler Beschulungsmodelle oder die Gewährung beziehungsweise Verwehrung herkunftssprachlichen Unterrichts werden zu einem späteren Zeitpunkt in Form eines schulhistorischen Einstieges mit der Intention skizziert, konstitutive Sozialisationsverständnisse und -ziele herauszuarbeiten. Dass für die Zeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein Traditionsreichtum strukturell exkludierender Handlungsmuster verzeichnet werden kann, soll in diesem Rahmen aufgezeigt werden.

Fernab von schulkonzeptionellen Reaktionen auf das Phänomen des Seiteneinstieges kann die Frage nach der sozialisatorischen Bedeutung interkultureller Heterogenität im Schulalltag für Kinder und Jugendliche selbst, sowohl den Einzelnen als auch die Klassen- gemeinschaft betreffend, als Forschungsdesiderat bezeichnet werden. Während sich die Sozialisationsforschung seit den 70er Jahren verstärkt den Dynamiken und Potentialen der Gleichaltrigenbeziehungen in Schule und Unterricht widmet (siehe z.B. Krapp- mann/Oswald 1995, Breidenstein/Kelle 1998), der Migrationshintergrund zwar eine vernachlässigte, aber dennoch berücksichtigte Kategorie ist (siehe z.B. Geier 2011, Artamonova 2016), fehlen Einblicke in den schulischen Alltag so genannter Seiteneinstei- gerInnen bislang weitestgehend.

Einen besonderen Fall des Seitenstieges, soviel sei an dieser Stelle den Ausführungen im Forschungsstand vorweg genommen, nimmt Sina-Mareen Köhler (2012) in ihrer Dissertation zu Peerbeziehungen an globalen Schulen in den Blick. Charakteristisch für diese Schule ist ein temporärer Schulbesuch – auf Zeit sind entsprechend auch die sozialen Beziehungen. „Freunde, Feinde oder Klassenteam?“ stellt sich Köhler da die Frage und leistet mit ihren Erkenntnissen in erster Linie einen Beitrag zur (erziehungswissenschaftlichen) Schul-, Kindheits- und Jugendforschung.

Ergänzend zu dieser Studie mit Pioniercharakter, sei auf das Forschungsprojekt „Interkul- turelles Verstehen in Schulen des Ruhgebiets. Eine wissenssoziologische Analyse von Fremdheitsvorstellungen in multikulturellen Schülerschaften“ (Laufzeit: 04/2008- 08/2011) rund um Hans-Georg Soeffner und Ronald Hitzler hingewiesen. Sie plädieren für einen Perspektivenwechsel in der gegenwärtigen Diskussion, der von den Mitarbeitenden Jessica Pahl und Ronald Kurt (2016) noch einmal herausgestellt wird. Ausgehend von der Annahme, dass kulturell durchmischte Schulen des Ruhrgebietes Orte seien, an denen Interkulturalität praktisch gelebt werde (vgl. 2016: 18), sind die Autoren darum bemüht, das aus dem alltäglichen Miteinander entstehende Sonderwissen der SchülerInnen zu erschließen. Über diesen Zugang schafft es das Projekt, aus der Lebenswelt der Betroffe- nen heraus neue „Typen Interkulturellen Verstehens“ in Erfahrung zu bringen, die sich von den in der Fachliteratur bisher gängigen Aspekten „Interkultureller Kompetenz“ abgrenzen (vgl. ebd. S. 137 ff.). Diese Differenz veranlasst, stärker von der Praxis aus zu denken und zu überlegen, „[…] ob bzw. inwiefern die Gesellschaft von ihren Schü- ler_innen im Hinblick auf den Umgang mit kultureller Differenz etwas lernen kann.“ (ebd. S. 13)1

Diesen Faden aufnehmend möchte die vorliegende Arbeit die bisher einseitig verlaufen- den Diskurse rund um die Beschulung so genannter SeiteneinsteigerInnen um eine sozialisationstheoretische Perspektive bereichern. Zum einen werden neuzugewanderte Kinder und Jugendliche demgemäß als kompetente AkteurInnen begriffen, die sich in sozialisatorische Interaktionen tagtäglich zu den spezifischen Handlungsanforderungen verhalten und dadurch nicht nur ihren schulischen Alltag ko-konstruktiv (Youniss 1994) mit hervorbringen, sondern vor allem auch eine Kultur eigener Art. Sie gehören, um es mit Jessica Pahl und Ronald Kurt zu pointieren, „[…] zu der Gruppe von Expert_innen, die sich in einem bestimmten Bereich des Lebens, der Sinnwelt Schule, besonders gut auskennen, ihr Wissen aber nicht bzw. nur zum Teil explizieren können.“ (2016: 19-20) Statt ihnen eine unzureichende Anschlussfähigkeit zu attestieren und kulturelle Differen- zen zu betonen, wird in der vorliegenden Arbeit das sozialisatorische Potential einer solch heterogenen, sich wandelnden Klassengemeinschaft ins Zentrum des Interesses gerückt.

Folgenreich ist diese Perspektive für das Verständnis von Intensivklassen. Sie stellen dann nämlich Interaktionsräume dar, die nicht auf ihre vorbereitende Übergangsfunktion reduziert werden können, sondern als biographisch und sozialisatorisch bedeutsame Erfahrungsräume verstanden werden müssen (vgl. Köhler 2012: 14). Als gemeinsam geteilte Lebenswelt verkörpert diese Form der Klassengemeinschaft einen sozialisatori- schen Möglichkeitsraum, in dem sich die Kinder und Jugendlichen über den Wissens- und Spracherwerb hinaus mit- und durch- einander sozialisieren.

Spielerisch gewendet kann hier von dem Potential des sozialisatorischen Mit- und Durch- Einanders im Klassenzimmer gesprochen werden, mit denen sich weniger chaotische Zustände als vielmehr hoch komplexe kindliche Entwicklungs-, Erfahrungsbildungs- und Ordnungsbildungsprozesse assoziieren ließen. Tauchen wir zur Illustration dieses Gedan- kens erneut in die eingangs aufgeführte Szene ein: Auf welche bereits bestehende Klassengemeinschaft und -ordnung trifft das Mädchen aus Afghanistan? Ist es Samira, Maja oder eine andere Person, die sich ihrer als SozialisationsagentIn annimmt und welche Einführungs- und Vergemeinschaftungsrituale sind es, die im Falle eines Neuzu- gangs wirksam werden? Denken wir an das Bild des Kaleidoskops, ließe sich aber auch nach den Neuzugängen inhärenten, irritierenden und transformativen Momenten fragen, die eine Neuorganisation sowie Aushandlungsprozesse tradierter Elemente anstoßen. Letztlich laufen diese Überlegung auf die Idee und das Erkenntnisinteresse hinaus, wiederkehrende und schöpferische sozialisatorische Handlungsmuster identifizieren zu können, die auf eine interaktive Eigenwelt dieser sich ständig wandelnden Klassenge- meinschaft schließen lassen (Peer-Kultur im Klassenzimmer).

Der erwähnte Neuzugang stellt diesbezüglich erst den dramaturgischen Beginn der Annäherung an eine solche Typik dar. Einmal eingetreten, birgt das Klassenzimmer eine Bühne für vielfältige sozialisatorische Akte, die sich parallel zum unterrichtlichen Gesche- hen ereignen. Zwischenräume und Zwischenzeiten, wie beispielsweise das Zusammen- kommen am Tischkicker vor Unterrichtsbeginn, das Rücken der Stühle vom Einzeltisch zum Sitzkreis oder die Pausen auf dem Schulhof bieten hier spannende Nebenschauplät- ze, auf denen sich – einmal ins Rampenlicht gerückt – hochkomplexe sozialisatorische Interaktionen beobachten lassen (vgl. Krappmann/Oswald 1995, Breidenstein/Kelle 1998). Ungewiss wann, steht der Austritt aus der Klasse bevor. Mehrfach mit- und mindestens einmal selbst erlebt, fordert auch dieser Akt dazu auf, gestaltet zu werden.

Über einen Zeitraum von ca. 1,5 Jahren wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, die konstitutiven Entstehungsmomente und Verläufe dieser Prozesse einzufangen und sich dem sozialisatorischen Potential einer solch besonderen Klassengemeinschaft anzunähern. Im Anschluss an ein mehrmonatiges Praktikum in einem so genannten Aufnahme- und Beratungszentrum für Seiteneinsteiger (ABZ), durch das die Schulzuweisung von neuzugewanderten Kindern und Jugendlichen basierend auf Erhebungen des Leistungs- und Lernstandes organisiert wird, erwies sich mir der Zugang in eine Intensivklasse dankenswerterweise als unproblematisch. Um mich der bislang unbeleuchteten empirischen Komplexität des Phänomens zu nähern, entschied ich mich methodisch für eine offene ethnographische Vorgehensweise.

Der explorativ-empirische Anspruch dieser Abschlussarbeit spiegelt sich in ihrer Gliede- rung wieder. Sie verkörpert den Fahrplan der knapp letzten drei Jahre. Die Hinführung zum wissenschaftlichen wie auch praktischen Erkenntnisinteresse, findet über eine umfassende Betrachtung des Forschungsstandes (2) statt. Auf diese Weise steckte ich eine theoretisch und methodisch anschlussfähige Forschungslandschaft ab, erkundete deren Befunde und Desiderate. Das Phänomen der sich wandelnden Klassengemeinschaft bringt es mit sich, dass sich soziologische und erziehungswissenschaftliche Forschung nicht klar von einander trennen lassen und sich ein interdisziplinärer Zugang als fruchtbar erweist. In Form eines schulhistorischen Einstieges werden zunächst Beschulungsformen neuzugewanderter Kinder und Jugendlicher sowie konzeptionelle und semantische Verschiebungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nachgezeichnet und mit der Frage konfrontiert, welche Sozialisationsverständnisse diesen jeweils zugrunde liegen (2.1). Während dieser Durchsicht fällt auf, dass keine Zeugnisse vom schulischen Alltag und Miteinander dieser SchülerInnen vorliegen. In einem nächsten Schritt (2.2) widme ich mich daher zunächst allgemeinen Studien der Sozialisationsforschung, die Schule und Unterricht als Rahmen für die Erkundung kindlicher Lebenswelten und Gleichaltrigenbe- ziehungen nutzen (u.a. Krappmann/Oswald 1995, Breidenstein/Kelle 1998). Erst in den letzten zwei Jahrzehnten, darauf wird schließlich in einem dritten Schritt (2.3) verwiesen, nimmt die ethnographisch orientierte Sozialisationsforschung in der Schule die soziale Bedeutsamkeit von Interkulturalität für Kinder und Jugendliche in den Blick (u.a Artamo- nova 2016, Kurt/Pahl 2016).

Was folgt sind grundlegende methodologische Überlegungen (3.1), im Rahmen derer ich phänomenspezifische Herausforderungen sowie Erkenntnispotentiale ethnographischen Forschens darlegen möchte (3.1.1-3.1.5). Daran anknüpfend stelle ich das Feld und seinen Zugang vor (3.2). In diesem Rahmen werde ich die Intensivklasse von Frau Ring (3.2.1), meine Vorbekanntheit (3.2.2) sowie erste Besuche der Klasse (3.2.3) erläutern. Sodann werden stärker methodische Fragen beleuchtet (3.3). Zum einen möchte ich die Beobach- tende Teilnahme als Strategie der Datenerhebung (3.3.1), zum anderen die hermeneuti- sche Analyse der dieser Arbeit zugrunde liegenden empirischen Daten (3.3.2) vorstellen.

Herzstück meiner Masterarbeit ist die ergebnisorientierte Falldarstellung (4.). In einem Wechselspiel aus analytischen Ausführungen und empirischen Einblicken, möchte ich Themen beleuchten, die sich sowohl als sozialisationstheoretisch spannend wie auch alltagspraktisch relevant erwiesen haben. Beginnend werde ich zwei Formen der Teilneh- merschaft sowie die sozialisatorische Bedeutung ihres Zusammenspiels vorstellen (4.1). Die hier zur Geltung kommenden Rotationsbewegungen führen mich zu weiteren Bewegungen im Klassenzimmer (4.2), die ich als Ausdruck des für die Intensivklasse typischen fluktuationsbedingten Wandels sozialer und räumlicher Arrangements in den Blick nehmen werde. Anschließend möchte ich mich den im Unterrichtsalltag häufig beobachteten Übersetzungsgeschehen als sozialisatorische Praxis widmen (4.3). Wurde bis hierin vor allem das sozialisatorische Potential der Klassengemeinschaft herausge- stellt, so möchte ich in einem letzten Schritt auf die Frage nach den Grenzen der Selbstso- zialisation eingehen (4.4). Sie wird beispielsweise dann relevant, wenn aus Konflikten „Beschwerden“ werden. Das Kapitel endet mit einer theoretisierenden Zusammenführung der Ergebnisse (4.5).

Um diese Arbeit abzuschließen, erfolgt im letzten Kapitel eine resümierende Diskussion der Ergebnisse (5.) im Horizont des dargelegten Forschungsstandes sowie der phäno- menspezifischen method(olog)ischen Herausforderungen. Diese Kontextualisierung mündet in einem Ausblick, der sowohl auf das wissenschaftliche wie auch auf das praktische Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit Bezug nimmt.

2. Der Forschungsstand als Hinführung zum Erkenntnisinteresse

Sich einem Phänomen in Zeiten medial aufgeladener Debatten wissenschaftlich anzu- nehmen, stellte mich vor die Herausforderung, wider aller tagespolitischen Brisanz und Themenkonjunktur grundlegende oder auch neue, die gängige Praxis irritierende Fragen zu stellen. Auf ein solches Spannungsverhältnis treffen wir aktuell sehr deutlich in der Auseinandersetzung mit der Integration und Bildung neuzugewanderter Kinder und Jugendlicher. Als ein immer schon dagewesenes Phänomen, wie eingangs bereits mit Frank-Olaf Radtke aufgezeigt (Radtke 1996: 46), erscheint die Beschulung sogenannter Seiteneinsteiger nach wie vor als akute und überwältigende Herausforderung für das Bildungssystem, der mit ad-hoc Erklärungen (vgl. Treibel 1988), überwiegend organisato- risch statt pädagogisch (Diehm/Radtke 1999) und integrationstechnologisch (vgl. Böhmer 2016) begegnet wird. So verwundert es nicht, bei der Sichtung der Forschungslage vornehmlich auf schulkonzeptionelle Überlegungen zu stoßen. Fragen, die aus einer interaktionistisch-konstruktivistischen Perspektive Aufschluss über die alltagspraktische Ausgestaltung theoretisch gedachter, institutioneller Rahmenbedingungen liefern könnten und dabei die lebensweltlichen Erfahrungen sowie das Miteinander der Betrof- fenen zum Ausgangspunkt ihres Erschließungsprozesses machen, wurden bislang nicht gestellt. Diesem Forschungsdesiderat nimmt sich die vorliegende empirische Abschlussar- beit an.

Der Titel gebende Wandel der Klassengemeinschaft lässt sich im weitesten Sinne auch auf die schulhistorische Kontextualisierung des Phänomens beziehen. Basierend auf bil- dungspolitischen Analysen von Beschulungsformen (Heinemann 1975, Willke 1975, Boos- Nünning et al. 1983, Radtke 1996, Wenning 1999, Knabe 2000, Hansen/Wenning 2003), die mich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert führten, sollen in einem schulhistorischen Einstieg (2.1) konzeptionelle und semantische Verschiebungen aus der Warte einer sozialisationstheoretischen Perspektive skizziert werden. Konkret geht es dabei um die Konfrontation vergangener schulpolitischer Traditionslinien mit folgenden Fragen: Was scheint schulkonzeptionell notwendig, um Neuankömmlinge zu Gesellschaftsmitgliedern zu machen? Entlang welcher Dimensionen werden sozialisatorische Voraussetzungen für den Schulbesuch definiert und (schul-)sozialisatorische Vorerfahrungen hierarchisiert? Damit soll weniger auf kausale Zusammenhänge verwiesen als vielmehr für einen reflexiven Umgang mit Konstruktionsprozessen sensibilisiert werden, die in konzeptionel- len Überlegungen zum Tragen kommen.

Im Anschluss daran wird der Radius, auf der Suche nach anschlussfähigen methodischen und theoretischen Zugängen zum Phänomen, zunächst auf klassische Studien im deutsch- sprachigen Raum ausgeweitet (2.2), die der qualitativen Sozialisationsforschung in der Schule zugeordnet werden können (z.B. Krappmann/Oswald 1995, Breidenstein/Kelle 1998). Die umfangreichen Erkenntnisse aus ethnographischen Erkundungen des Schulall- tages von Kindern und insbesondere der darin anzutreffenden Peer-Kultur können für das Vorhaben der vorliegenden Abschlussarbeit fruchtbar gemacht werden. Zeitgeschichtlich zwei Jahrzehnte zurückliegend, müssen sie jedoch auf ihre Aktualität und Übertragbarkeit hin überprüft werden. Dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund hier eine marginale Rolle spielen, so viel sei an dieser Stelle schon vorweg genommen.

Diese Lücke aufnehmend, wird sodann ein dritter konstitutiver Forschungsstrang beleuch- tet (2.3), dem qualitativ-rekonstruktive Studien im Kontext von Schule und Migration zuzuordnen sind. Gemein ist ihnen die Kritik an der dominierenden Deutungsperspektive, kulturelle Heterogenität vornehmlich als institutionelle Herausforderung zu betrachten, der mittels didaktischer und kompensatorischer Fördermaßnahmen begegnet werden kann. Ausgehend davon widmen sie sich der Perspektive von SchülerInnen als AkteurIn- nen ihres interkulturellen Schulalltages (z.B. Kurt/Pahl 2016, Artamonova 2016) und ermöglichen dadurch Einblicke in mikrosoziale, sozialisatorische Prozesse. Die dadurch sichtbar werdenden komplexen peer-kulturellen Eigendynamiken regen dazu an, das spannungsreiche Verhältnis zwischen Sozialisation, Schule und Gesellschaft neu zu denken.

Die drei Stränge zusammenführend, wird schließlich das Erkenntnisinteresse der vorlie- genden Arbeit formuliert.

2.1 Schulhistorischer Einstieg

Meine Recherchen zur Beschulung von neuzugewanderten Kindern und Jugendlichen führten mich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert. Schon diese Reise in die Vergangenheit verweist darauf, dass das gegenwärtig so brisant diskutierte Phänomen als ein histori- sches bezeichnet werden kann und entsprechend der vergangenen Migrationsbewegun- gen sowohl politisch als auch wissenschaftlich wiederkehrend in den Fokus rückte.

Basierend auf ministeriellen Erlassen stellt Manfred Heinemann in seiner bildungshistori- schen Analyse zur „Assimilation fremdsprachiger Schulkinder durch die Volksschule in Preußen seit 1880“ (1975) sehr prägnant die Germanisierungspolitik der Verwaltung heraus. Für den neuen Nationalstaat galt es ein Erziehungs- und Bildungssystem zu institutionalisieren, in dem sowohl deutsche als auch in besonderem Maße nicht- deutsche Kinder „[…] unter denselben Zielen in einem ungefähr acht Jahre dauernden sekundären Sozialisationsprozeß mit den Ordnungen und Werten des Deutschtums vertraut gemacht [wurden].“ (S. 63-64) Es wurde die Absicht verfolgt, SchülerInnen „[…] deutsch sprechen, denken und fühlen […]“ (ebd. S. 63, siehe auch Knabe 2000: 190) beizubringen. Hinter dieser nationalen Bildungspolitik kommt die zu dieser Zeit noch gut sichtbare, transmissionslogische Sozialisationsfunktion der Schule als „Germanisierungs- mittel“ für alle Schulkinder unabhängig von ihrer Herkunft zum Ausdruck (vgl. ebd. S. 55). Da man in der gemeinsamen Beschulung von deutschen und nicht-deutschen Kindern die Gefahr einer negativen Beeinflussung sah, wurden für die damalig zahlenmäßig dominie- rende Gruppe polnischer Schulkinder so genannte „Polenklassen“ eingerichtet (siehe auch Knabe 2000: 195). Betraut mit den „erfahrensten“ Lehrern (Heinemann 1975: 55) – Sozialisationsagenten in national-ideologischer Mission – nutzte man die „Spracharmut der Kinder […] [als] günstigen Ansatz für die Germanisierung“ (ebd. S. 63). Heinemann kritisiert diese separierende Beschulungsform, wenn er meint, dass „[g]erade dadurch […] die Chance eingeschränkt [wird], die verschiedenartigen Enkulturationen und Sozialisati- onen zum Beginn eines neuen sozialkulturellen Lernens zu machen.“ (ebd. S. 67) Mit seiner Idee, die heterogenen Ausgangsbedingungen nicht nur zum Gegenstand, sondern zur Grundlage gemeinsamen Lernens zu machen, ist Heinemann der zu seiner Zeit herrschenden Praxis weit voraus. Wie es deutlich später die Interkulturelle Pädagogik formuliert, lässt sich schon hierin die Idee erkennen, in den sozialisatorischen Interaktio- nen in der Schule ein Potential zu sehen.

Eine weitere Migrationsbewegung, die auf bildungspolitischer und schulkonzeptioneller Ebene Handlungsbedarf erforderte und nachhaltig bis heute vor allem in Generationen- diskursen präsent ist, ist die der Gastarbeiter in den 60er Jahren. Mit der Idee des Verbleibes auf Zeit beschränkten sich politische Bemühungen zunächst auf zwischenstaat- liche und ökonomische statt auf innerfamiliäre Beziehungen. Damals wie heute wird der Aufenthalt von Gastarbeitern vornehmlich isoliert von deren familiären und sozialen Netzwerken gedacht, insbesondere „[…] Kinder sind bei der Beschäftigungskonstruktion nicht vorgesehen, das zeigen auch alle jüngeren erwähnten Ausnahmeregelungen für die Beschäftigung von Nicht-EU-Arbeitskräften.“ (Hansen/Wenning 2003: 129) Erst mit dem Anwerbestopp in den 70ern und dem damit einhergehenden Anstieg des Familiennach- zuges, wurde die Frage der Verwaltung und Beschulung des Nachwuchses unmittelbar virulent und, bis dahin noch privat oder kirchlich organisiert, zur öffentlichen Angelegen- heit. Die Empfehlung einer allgemeinen Schulpflicht für ausländische Kinder kann vor diesem Hintergrund als eine Maßnahme gedeutet werden, die Schule als Sozialisationsin- stanz für die Umsetzung nationaler Interessen zu funktionalisieren. Gemessen am Maßstab monokultureller Sozialisation (vgl. Boos-Nünning 1983: 341) wurde „[…] [d]ie Herkunftssprache […] mehr oder minder negiert, nicht zur Kenntnis genommen oder in die schulische Drittrangigkeit verwiesen, die Herkunftskulturen wurden aus der schuli- schen Normalität verbannt.“ (ebd. S. 311) In ihrer „Mitgliedschaftsrolle als ‚Schüler’“ (Radtke 1996: 50) zunächst nicht anerkannt, wurde ausländischen Kindern eine mangel- hafte sprachliche und sozialisatorische Anschlussfähigkeit attestiert, Sprachprobleme und Verhaltenstörungen entsprechend als Legimitationsgrundlage für kompensatorische Fördermaßnahmen herangezogen. Die so entstandene Ausländerpädagogik kann in diesem Deutungskontext als Bündel einseitiger Eingliederungsmaßnahmen mit Aus- schlusscharakter (vgl. Knabe 2000: 312) betrachtet werden.

In ihrer breit rezipierten Studie über „die Zweite Generation“ unternehmen Achim Schrader, Bruno W. Nikles und Hartmut M. Griese (1976) den „[…] Versuch einer theoreti- schen Konzeptualisierung der Sozialisations- und Akkulturationsprobleme der ausländi- schen Kinder […]“ (S. 12). Mit dem Anspruch einer mehrebenenanalytischen Erfassung dieses Phänomens kann dieser Unternehmung durchaus Pioniercharakter zugesprochen werden. Aus heutiger Perspektive spiegelt sich in der modellhaften Beschreibung jedoch zum einen das dem damaligen Zeitgeist entsprechende, strukturalistisch-deterministische Verständnis von Entwicklung und Sozialisation, wie es für eine schichtenspezifische Sozialisationsforschung symptomatisch war, wider. Zum anderen manifestiert sich in der starken Anlehnung an ein assimilatorisches Integrationsverständnis die Vorstellung kulturell bedingter Machtdifferenzen. Konzeptionell folgen die Autoren damit der bereits konstatierten Problem- und Defizitlogik und bieten ein „unterkomplexes Deutungsange- bot“ im ausländerpädagogischen Diskurs, wie Radtke (1996: 57) kritisch Bezug nimmt. Das in die theoretische Konzeptualisierung eingebettete, sozialisatorische Potential von Peerbeziehungen, „[…] die familiären Orientierungsmuster […] abzubauen und gesell- schaftliche Orientierungsmuster aufzubauen […]“ (S. 181) impliziert und polarisiert beispielsweise in mehrerlei Hinsicht vermeintliche und scheinbar unauflösbare Span- nungsverhältnisse: zwischen Familie und Gesellschaft, zwischen Herkunfts- und Ankunfts- kultur und letztlich auch innerhalb der heterogenen Peergroup. Auf diese Weise erfährt die Peergroup eine funktionale Aufladung, wodurch nicht nur konfliktträchtige Bewäh- rungsszenarien für Kinder und Jugendliche im Allgemeinen konstruiert werden, sondern vor allem auch die davon losgelöste empirische Komplexität ihrer schöpferischen peer- kulturellen Eigendynamiken gar nicht erst mitgedacht wird.

In der Figur des Seiteneinsteigers werden die überdauernden schulischen Ein- bzw. Ausschlussmechanismen bis in die 90er Jahre deutlich. Mit der Einführung des Begriffes wird der „andere Sozialisationskontext“ zur institutionell verankerten Legitimation für die segregierte Beschulungspraxis (vgl. Radtke 1996, Mecheril/Shure 2015). Während einerseits Differenz markiert wird, wird der Abbruch der bisherigen Sozialisation gleichzei- tig und undifferenziert zur Gemeinsamkeit aller neuzugewanderten Kinder und Jugendli- chen erklärt (vgl. Radtke 1996: 50). Institutionelle Homogenitätsillusionen und Normali- tätskonstrukte werden dadurch aufrecht erhalten (vgl. Spetsmann-Kunkel 2009). Die Konsequenzen für die Betroffenen beschreibt Radtke wie folgt: „Die räumliche, zeitliche, inhaltliche und soziale Trennung macht die Seiteneinsteiger zu Außenseitern der Schule - aus organisatorischen und nicht aus pädagogischen Gründen.“ (Radtke 1996: 52)

Als Kritik an diesen schulkonzeptionellen Traditionslinien, findet in und seit den 90er Jahren verstärkt eine Auseinandersetzung mit den historisch gewachsenen institutionel- len Strukturen statt. Bereits in ihrer Einführung zu „Erziehung und Migration“ (1999) arbeiten Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke erziehungswissenschaftlich-rekonstruktiv die den damaligen pädagogischen Konzepten im Umgang mit Migrantenkindern zugrun- deliegenden theoretischen Annahmen heraus. Die konstatierte andauernde Bildung- sungleichheit mit jeweils wechselnden Adressaten und Legitimationsgrundlagen im Bildungssystem spitzen sie provokant auf die These zu, es sei „[…] billiger, schmerzloser und genügt überdies der political correctness, in neue Rahmenpläne etwas über ‚interkul- turelle Erziehung’ hineinzuschreiben als Schulen zu öffnen, Heterogenität zu akzeptieren und die offenkundige Diskriminierung strukturell abzustellen“ (vgl. S. 193). Auf die Aktualität dieser institutionellen Diskriminierung verweisen Frank-Olaf Radtke und Mechthild Gomolla (2009) sowie der mittlerweile in fünfter Auflage erschienene Band von Georg Auernheimer (2013) über „Schieflagen im Bildungssystem“. Für sich spricht auch der Wiederabdruck des Ende der 90er Jahre veröffentlichten Beitrages von Diehm und Radtke über „Organisatorische Probleme im Umgang mit dem Fremden“ (1999) fast zwei Jahrzehnte später in dem aktuellen Band von Mona Massumi et al. (2018).

Während die Realität der faktischen, kulturellen Heterogenität institutionell noch nicht nachvollzogen wurde (vgl. Radtke 2008: 659), hinkt auch die wissenschaftliche Auseinan- dersetzung damit hinterher. Wenngleich Regina Kunz (2008) in ihrem Werk zur schuli- schen Versorgung zugewanderter Kinder und Jugendlicher auf die Vernachlässigung des Themas hinweist und für ein stärkeres Verantwortungsbewusstsein plädiert, so bleibt auch sie auf der Ebene einer Integrationsmaßnahmen prüfenden Bestandsaufnahme. Exemplarisch sei weiterhin auf die gegenwärtig viel zitierte Studie des Mercator-Institutes verwiesen. Darin geht es weniger um „Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem“ (Mercator-Institut 2015) selbst, wie es die Überschrift suggerie- ren könnte, als um den Versuch, deutschlandweite Beschulungsmodelle zu erfassen und Handlungsempfehlungen auszusprechen. Rechtlich und statistisch umfänglich recher- chiert, wird in der konkreten Umsetzungspraxis zwar eine Grenze dieser Unternehmung gesehen. Erste Einblicke in diese finden wir jedoch erst in dem bereits erwähnten Sammelband von Mona Massumi, Nora von Dewitz und Henrike Terhart „Neuzuwande- rung und Bildung. Eine interdisziplinäre Perspektive auf Übergänge in das deutsche Bildungssystem“ (2018).

Der schulische Seiteneinstieg von neuzugewanderten Kindern und Jugendlichen, um den schulhistorischen Einstieg abzuschließen, kann durchaus als präsenter Gegenstand in öffentlichen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bezeichnet werden. Nur wurde er bisher überwiegend in seiner zu vermessenden und zu verwalteten Dimension betrachtet, statt sich seiner alltagspraktischen Bedeutung und Konstruiertheit empirisch zu widmen.2 Werfen wir daher zunächst einen übergreifenden Blick in den bereits beforschten schulischen Alltag von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen.

2.2 Sozialisationsforschung in der Schule

Während davon ausgegangen werden kann, dass peer-kulturelle, sozialisatorische Interaktionen immer schon in der Schule existiert und sich mit den jeweiligen schulkon- zeptionellen Entwicklungen (Massenbeschulung, Koedukation, Inklusion, usw.) verändert haben, so hat die diesbezügliche empirische Forschung erst in den 70er Jahren verstärkt Einzug ins Klassenzimmer erhalten (Zinnecker 1975, Combe/Helsper 1994, Krapp- mann/Oswald 1995, Breidenstein/Kelle 1998, Breidenstein 2008, Horstkemper/Tillmann 2008). Bis dahin lag der Fokus vor allem auf „[…] dem ‚offiziellen’ Auftrag der Schule, nämlich der Wissensvermittlung als gesellschaftlichem Reproduktionsauftrag und Zurechtkommen der Schülerschaft mit diesen Leistungsanforderungen.“ (Houbé-Müller 1996: 49) Darauf verweisen auch Marianne Horstkemper und Klaus-Jürgen Tillmann (2008: 290) für die erziehungswissenschaftliche Forschung, der sie eine „ didaktische Perspektive“ attestieren. Als ein Beispiel hierfür kann die Studie von Werner Helsper und Arno Combe zur Frage „Was geschieht im Klassenzimmer?“ (1994) angeführt werden. Das Schülerverhalten wird hier vornehmlich im Hinblick auf das Lehrerhandeln gedeutet, die Perspektive der SchülerInnen nur am Rande diskutiert. Von nicht geringerer Bedeutung scheint der damalige Einfluss einer psychologisch dominierten Unterrichtsforschung, „[…] die Schule mit Unterricht gleichsetzte und vor allem auf die mehr oder weniger gelingen- de Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten fokussierte“ (vgl. Brake/ Bremer 2010: 8).

Darüber, was „tatsächlich“ im Klassenzimmer geschieht, referieren WissenschaftlerInnen in dem von Jürgen Zinnecker herausgegebenen Sammelband zu „Untersuchungen zum Schulunterricht“ (1975), in dem von einem „heimlichen Lehrplan“ und seinem Einfluss auf das Unterrichtsgeschehen gesprochen wird. Neben der Hervorhebung dieses Lehrplans werden auch die Schüler selbst als aktive Mitgestalter der schulischen Alltagswelt betont.

Die Eigensinnigkeit der sozialen Praktiken von Kindern und Jugendlichen gerät in den Fokus der Betrachtung (vgl. Brake u. Bremer 2010: 10). Und das vornehmlich aus einer symbolisch-interaktionistischen Theorieperspektive heraus. So auch Thomas Heinze (1978), der „Unterricht als soziale Situation“ und die „Interaktion von Schülern und Lehrern“ in den Blick nimmt, um sich vor allem Schülertaktiken als Gegenstand pädagogi- scher Forschung zuzuwenden. Aus der Kritik einer verstärkt quantitativ orientierten Unterrichtsforschung heraus, plädiert Heinze für „[…] das der phänomenologischen Forschungstradition entlehnte Untersuchungsmodell ‚Lebensweltanalyse’ […]“ (vgl. ebd. S. 13). Über diesen Zugang ist es ihm möglich, „[…] Interpretationen, die Schüler für ihre eigene Situation selber geben, ihre Erklärungsmuster und Sinnhorizonte, d.h. die subjekti- ven Selbstdefinitionen […]“ (ebd.) herauszuarbeiten. Methodisch führt Heinze teilneh- mende Beobachtungen durch, auf deren Basis er SchülerInnen anschließend beobach- tungs- und situationsspezifisch befragt. In seinem Werk lässt sich ein Verständnis von Schule herausarbeiten, das diese auch als einen Ort „untergründiger Lernprozesse“ (Heinze 1978: 11) versteht. „[I]ndem nicht mehr nur das Unterrichtsgeschehen selbst Gegenstand der Forschung wird, sondern das gesamte soziale Leben in der Institution sowie die soziale Einbettung der Schule in die außerschulische Alltagswelt der SchülerIn- nen […]“, rücke Schule als „Ort der Sozialisation“ in den Fokus (Brake u. Bremer 2010: 10).

Einen wesentlichen Beitrag zu einer lebensweltorientierten schulischen Sozialisationsfor- schung liefern Lothar Krappmann und Hans Oswald (1995) mit ihrer Studie zum „Alltag der Schulkinder“. Über teilnehmende Beobachtungen und teilstrukturierte Interviews mit Kindern, erheben sie den Anspruch „[…] demonstrieren zu können, daß die soziale Kinderwelt, in der Kinder eigenständige Regeln eines vergnüglichen, hilfreichen, streitba- ren und gelegentlich tröstlichen Zusammenseins ko-konstruieren, noch existiert.“ (S. 23) Und zwar nicht als Ergänzung zur Schulwelt, sondern als eigendynamische Welt in einer diese rahmenden Schulumwelt. Das Aushandeln sei dabei „[…] ein zentraler Fokus der Sozialisation in dieser Kinderwelt […]“ (S. 19), „[…] denn in dem Versuch, das Handeln an einem gemeinsamen sozialen Objekt zu orientieren, sind die Kinder darauf angewiesen, auf ihre mitgebrachten Deutungs- und Ordnungszusammenhänge zurückzugreifen […]“ (ebd.). In diesen Aushandlungsprozessen konstituieren sich verschiedene Formen von Sozialbeziehungen. „Gesellungsformen“ (vgl. S. 20), die selbst wiederum als ein zu verhandelnder Gegenstand betrachtet werden können (Bsp. Freundschaft).

Dem Zeitgeist der Sozialisationsforschung in den 90er Jahren entsprechend, greifen Georg Breidenstein und Helga Kelle die Debatte über Geschlechterdifferenzen in der Schule auf. Anders als zuvor bringen sie den „Geschlechteralltag in der Schulklasse“ (1998) jedoch über die „[…] Praktiken der Geschlechterunterscheidung durch die Kinder selbst […]“ (ebd. S. 8) empirisch in Erfahrung und verweisen damit nicht nur auf dessen konstruktiven Charakter. Auch wenden sie sich mit dieser Perspektivverschiebung ab von einem teleologischen Entwicklungsverständnis und betonen „[…] die Gegenwärtigkeit der Wirklichkeit der Kinder […]“ (vgl. S. 18). Über die Rekonstruktion interaktiver Praktiken arbeiten sie heraus, dass die Geschlechtszugehörigkeit eine praktische, „[…] jederzeit aktivierbare Ressource für Identifikation und Distinktion […]“ (S. 268) sei. „Der Reiz der Polarisierung, von dem viele Spiele und Inszenierungen leben […]“ (ebd.) werde durch kein anderes Kriterium so gut bedient. Fraglich ist, ob die AutorInnen nicht selbst zu stark an dieser Konstruktion mitwirken, wenn sie Alter und ethnische Zugehörigkeit zwar als Referenzkategorien erwähnen, hierfür und für deren mögliche Verschränktheit jedoch keine empirisch belastbaren Belege anführen (können).

Der wachsenden „[…] Sensibilität für die Lerneffekte in den Zwischenräumen“ (ebd.) liegt die Annahme zugrunde, dass „[i]n der Schülergruppe einer Klasse […] viel interaktives Potential, das als ‚Entwicklungspotential’ der Gruppe gewertet wird [, liegt].“ (Houbé- Müller 1996: 49) Während die Begriffe des Lerneffektes und des Entwicklungspotentials noch eine Verhaftung an der dominanten Deutung von Schülerkooperation als schulische Lernprozesse begünstigend vermuten lässt, wird der Perspektivwechsel bei Breidenstein (2008) deutlicher. Mit resümierendem Verweis auf ethnographische Studien der Kind- heits- und Jugendforschung stellt er das „neue“ Verständnis von Schule, „[…] als Ort einer Peer-Kultur, die von eigenen Normen und Verhaltensmustern geprägt ist, die wenig mit Schule und ihren spezifischen Anforderungen zu tun haben, sondern vielmehr der sozialen Logik von Gruppenbildungsprozessen und Praktiken interner Vergemeinschaf- tung und Abgrenzung folgen“ (S. 950) heraus.

„Die Analysen zu Sozialbeziehungen und Aushandlungsprozessen unter Gleichaltrigen […] haben bislang die multikulturelle Perspektive der Kinder wenig expliziert […]“ (vgl. DIJ 2000: 44) und die Bedeutung ethnischer Herkunft für beispielsweise Freundschaften vernachlässigt (Bicer et al. 2014: 5). Gemeinsam ist den aufgeführten Studien weiterhin, dass sie für ihre theoretischen und empirischen Konzeptionen die weitestgehende

Altershomogenität einer Schulklasse wie auch die auf eine bestimmte Dauer festgelegte, gemeinsame Beschulung im Klassenverband voraussetzen. Zwei wesentliche Rahmungen, die sich grundlegend von denen der von mir besuchten Intensivklasse unterscheiden. Bedingt durch die ganzjährige Aufnahme und Zuweisung von neuzugewanderten Kindern und Jugendlichen, die Zusammenfassung von zwei Jahrgängen wie auch familiäre und individuelle Faktoren, treffen wir hier auf eine altersheterogene Klassengemeinschaft mit variierender Besetzung. Darüber hinaus kommen mit den Kindern verschiedenste migrations- und schulbiographische Erfahrungen in solchen Klassen zusammen. Wie und entlang welcher Dimensionen Kinder vor diesem Hintergrund Aushandlungs- und Vergemeinschaftungsprozesse gestalten und darüber eine Art gemeinsame kinderkultu- relle Ordnung hervorbringen erscheint ebenso interessant, wie nach der Anschlussfähig- keit der dargelegten sozialisationstheoretischen Erkenntnisse zu fragen. Denkbar ist die Ergänzung der bisher im Fokus der Forschung stehenden Dimensionen des Alters und des Geschlechtes um phänomenspezifische Relevanzen. So sei beispielsweise „[…] bislang wenig bekannt über die Prozesse, in denen Kinder die Bedeutung ethnischer Unterschei- dungen lernen, wenig über den Gebrauch der Ressource Ethnizität in der pädagogischen Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern bzw. in der Gleichaltrigengruppe.“ (Radtke 2008: 668)

Was dennoch darüber bekannt ist, möchte ich in einem letzten Schritt aufzeigen und mich einem Forschungsstrang widmen, in dessen Zentrum die soziale Bedeutsamkeit von ethnischer Vielfalt und Interkulturalität für SchülerInnen und deren Schulalltag steht.

2.3 Kinder und Jugendliche als Akteure ihres interkulturellen Schulalltages

Den konstruktiven Charakter, den Breidenstein und Kelle (1998) für die Praxis der Geschlechterunterscheidung betonen, machen Dannenbeck et al. (1999) zum Ausgangs- punkt ihrer Untersuchung ethnischer Zugehörigkeiten in inner- und außerschulischen Lebenswelten von Jugendlichen. Während ihres methodisch offenen Vorgehens haben sie von „[…] einer speziellen ‚Ausländerklasse’ erfahren […]“ (S. 35). In der Annahme, dass es sich hierbei um eine Beschulungsform, wie die der Intensivklasse handelt, kann dieser zufällige Befund als beispielhaft für die marginale Rolle bezeichnet werden, die solche Klassen bis dahin in Gesellschaft und Wissenschaft gespielt haben. Unabhängig davon stellten sie fest, dass Differenzsetzungen nicht nur unter den Jugendlichen stattfanden, sondern auch zwischen ihnen und den ForscherInnen (ebd. S. 230). „Ethnische Differenz wird dabei ebenso ins Spiel gebracht wie andere Differenzsetzungen.“ (ebd. S. 234) So kommen die AutorInnen zu dem Schluss, „[…] Zugehörigkeiten als gemeinsam ausgehan- delte Konstruktionsleistungen“ (ebd.) zu beschreiben, in denen situativ und interaktiv auf verschiedene Deutungsparadigmen zurückgegriffen wird. Theoretisch mag dies banal klingen, die empirischen Einblicke der Studie verweisen jedoch auf dessen Komplexität.

„Wie Kinder multikulturellen Alltag erleben“ (2000), fragt sich das Deutsche Jugendinsti- tut und trägt dazu Ergebnisse aus quantitativen und qualitativen Befragungen von Vor- und Schulkindern zusammen. Als Bezugspunkte ihrer Untersuchung ziehen die Projektlei- terInnen soziale Netzwerke und Freundschaften sowie Familie und Sprache heran. So kommen sie resümierend zu folgendem Schluss: „Die Kinder wissen um die Unterschiede der Herkunft, doch sie verwenden die äußeren Dinge, die sie als Teil ihrer Welt vorfinden, als Versatzstücke für eine eigenständige Kultur. […] [Sie] benutzen die kulturelle Vielge- staltigkeit, wie sie ihnen begegnet und wie man es ihnen gestattet.“ (S. 98) Hierin wird auf zweierlei verwiesen: Zum einen auf die schöpferische kinderkulturelle Eigendynamik, die sich hinsichtlich von Mehrsprachigkeit beispielsweise in einer „situations- und personen- bezogenen“ Differenzierung ausdrückt (vgl. S. 96). Zum anderen wird der sozialen Umwelt, sei es die familiäre oder institutionelle, eine wesentliche Bedeutung beigemes- sen. Letzteres veranlasst die AutorInnen dazu, über Rahmenbedingungen und überholte Deutungsmuster in der pädagogischen Praxis nachzudenken (vgl. S. 99-100). Ein Plädoyer, dass sich gleichermaßen an die wissenschaftliche Auseinandersetzung richtet (ebd. S. 99), die kulturelle Heterogenität nach wie vor primär als eine institutionelle Herausforderung versteht und entsprechend didaktische Lösungswege und kompensatorische Maßnahmen zum primären Ziel ihrer wissenschaftlichen Bemühungen erklärt.

Während die Kritik einer Didaktisierung seinerzeit den schulkonzeptionellen Umgang mit geschlechter- oder altersgemischter Beschulung betraf, so stellen Ronald Kurt und Jessica Pahl (2016) eine solche Reduktion jüngst für das Thema der Interkulturalität fest (vgl. S. 18-19). Das veranlasst sie zu einem Perspektivwechsel, der einerseits in ihrem Verständ- nis von Kindern und Jugendlichen als ExpertInnen ihres interkulturellen Schulalltages mit entsprechenden ExpertInnenwissen (vgl. S. 19) zum Ausdruck kommt und sich anderer- seits in ihrem methodisch innovativen und partizipativen Zugang widerspiegelt, der sowohl narrative Erhebungsverfahren als auch eine künstlerische Form des Improvisati- onstheaters einschließt. Mit dem Zitat „gemeinsam gleich und anders sein“ im Untertitel verweisen sie auf die rekonstruierte, Verstehens- und Handlungsmuster im Schulalltag leitende Vorstellung einer „negativen Interkulturalität“ (ebd. S. 138). „Das heißt, die Jugendlichen wissen, dass sie sich in einer sozialen Sphäre bewegen, in der alle darin gleich sind, dass sie von anderen als kulturell Andere aufgefasst werden (können).“ (ebd.) In diesem Wissen, das schon vom Deutschen Jugendinstitut (2000: 98) annähernd herausgestellt wurde, wird Interkulturalität „indifferent gegenüber Differenzen“ (ebd. S. 39 f.), in Form eines „toleranten Nebeneinanders“ (ebd. S. 43 f.), ignorieren (vgl. S. 45 f.) und relativieren (vgl. 46 ff.) könnend wie auch Verständnis zeigend (vgl. S. 51 ff.) gelebt. Ausgehend von der angezeigten Diskrepanz zu in der Fachliteratur populären Dimensio- nen interkultureller Kompetenz (vgl. ebd. S. 137 ff.), ermöglicht „Interkulturelles Verste- hen an Schulen im Ruhrgebiet“ (Buchtitel) Wissenschaft und Praxis, Peer-Interkultur zu verstehen.

Ebenso spannende Einblicke bietet Olga Artamonova (2016) zum „»Ausländersein« an der Hauptschule“. Die ethnographische Sozialisationsforschung zum schulischen Alltagsge- schehen sichtend, stellt sie hierfür die bislang ausgebliebene Auseinandersetzung mit ethnischer Heterogenität und Mehrsprachigkeit fest und setzt sie ins Zentrum ihres Forschungsanliegens (vgl. S. 12-13). In ihren Erkenntnissen über „Zugehörigkeitszuschrei- bungen in einer multiethnischen Klasse“ (S. 109 ff.) sowie „die interaktionale Bearbeitung von ethnischen Zugehörigkeiten“ (S. 145 ff.) wird für die spätere Darstellung der Analyse eine aufschlussreiche Perspektiverweiterung zu bereits beforschten Zugehörigkeitsdi- mensionen (Krappmann/Oswald 1995, Breidenstein/Kelle 1998) gesehen. Verschränkt mit kommunikativen Konstruktionsprozessen werden die interaktionalen Aushandlungspro- zesse von ethnischer Zugehörigkeit nicht nur als situativ wirksam herausgestellt, sondern ebenso die sich darin manifestierenden Muster und Strukturen betont (Artamonova 2016: 285). Gemeinschaft stiftende Interaktionen, wie das gegenseitige Sprachenlernen sind in der untersuchten Hauptschulklasse gleichermaßen zu beobachten wie Differenz markierende Stigmatisierungsprozesse.

Zwei besonderen Schultypen widmet sich Sina-Mareen Köhler (2012) in ihrer vergleichen- den Studie, für deren Existenz Migrationsbewegungen konstitutiv sind: Internationale Schulen in Deutschland und Deutsche Auslandsschulen in Japan. Wie für die vorliegend im Zentrum stehende Beschulungsform der Intensivklasse aufgezeigt, verweist auch Köhler für ihr Forschungsfeld globaler Schulen auf die bislang fehlenden Einblicke in peer- kulturelle Praktiken sowie die überwiegend didaktische und beratende Ziele verfolgenden Auseinandersetzungen. Global mobile Jugendliche, wie Köhler sie nennt, sind also eine ebenso vernachlässigte Gruppe in der Schul-, Migrations- und Sozialisationsforschung, wie die der SeiteneinsteigerInnen. Gruppen- und Einzelinterviews, aber auch eine vorgeschal- tete ethnographische Eingangsphase rekonstruierend, diskutiert Köhler neben der sozialen Bedeutsamkeit von Schule als Peerwelt, Abgrenzungs- und Vergemeinschaf- tungspraxen in Peerbeziehungen aus einer wissenssoziologischen Perspektive. Wissend um die Komplexität der daraus resultierenden Erkenntnisse sei hier hervorgehoben, dass „ [d]ie globalen Schulen von den Gleichaltrigen primär als Beziehungsort konstruiert [werden].“ (Köhler 2012: 17, Hervorhebung im Original) Ein Resümee, an das mit dem vorliegenden Forschungsvorhaben angeknüpft werden soll.

2.4 Wissenschaftliches und praktisches Erkenntnisinteresse

Die dreigliedrige Sichtung des Forschungsstandes resümierend, soll nun das Erkenntnisin- teresse der vorliegenden Arbeit formuliert werden. Im Rahmen des schulhistorischen Einstieges konnte aufgezeigt werden, dass das Phänomen des Seiteneinstieges in seiner dominierenden Deutung als institutionelle Herausforderung bis in die Gegenwart vorwiegend als ein zu verwaltendes Phänomen problematisiert wird. Mit der vorliegen- den Arbeit soll diese normative Ebene verlassen und sich der empirischen Wirklichkeit des Phänomens erstmalig zugewendet werden. Herangezogen werden sollen dazu Erkennt- nisse aus den aufgezeigten allgemeinen sozialisationstheoretischen Studien zum Schulall- tag von Kindern und Jugendlichen wie auch solche, die Interkulturalität ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses rücken. Unabhängig von der ethnischen Herkunft verweisen die Studien auf die Bedeutung von Schule als Ort der Herstellung sozialer Beziehungsformen sowie auf die situative und interaktive Hervorbringung peer-kultureller Praktiken. Vor diesem Hintergrund ist es Anliegen der vorliegenden Arbeit, die sich ständig wandelnde Klassengemeinschaft in ihrer sozialisatorischen Funktion zu beschreiben, deren Logiken zu verstehen und entsprechend phänomenspezifische Besonderheiten herauszuarbeiten. Als Beitrag zur bisher in meinen Ausführungen nur am Rande zum Vorschein gekommenen Auseinandersetzung mit method(olog)ischen Herausforderungen ethnographischer Forschung im Kontext von Schule und Interkulturalität, möchte ich auch diese im Rahmen meiner empirischen Arbeit fortsetzen.

Im Sinne eines praktischen Erkenntnisinteresses versteht sich die Arbeit als ein anschauli- cher Einblick in die Alltagswelt einer Intensivklasse. In Anbetracht der gegenwärtigen Entwicklung von Beschulungskonzepten im Allgemeinen (Inklusion) sowie im Besonderen (Willkommensklassen, Intensivklassen, u.ä.), möchte ich einerseits auf die bereits routinierten Handlungsstrategien der betroffenen AkteurInnen aufmerksam machen und andererseits für die damit einhergehenden Herausforderungen sensibilisieren. Überlegt werden kann, inwiefern pädagogisches Handeln im schulischen Kontext über einen fallbezogenen Zugang in Zeiten gesellschaftlichen Wandels vorbereitet (Ausbildung) und begleitet (Weiterbildung) werden kann.

3. Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen

Von Beginn meines explorativ-interpretativen Forschungsprozesses an hat es vielfältige Inspirationsquellen für die Auseinandersetzung mit den mich kontinuierlich umtreiben- den methodologischen und methodischen Fragen gegeben. Wesentliche Anregungen rühren aus der neueren qualitativen Kindheitsforschung (u.a. Honig et al. 1999, Heinzel 2000, Fuhs 2000, Friebertshäuser/Krüger/Bohnsack 2002, Hengst 2009), die für die 90er Jahre ein erstarkendes Interesse an Kinderwelten und Kinderkulturen sowohl innerhalb als auch außerhalb pädagogischer Institutionen feststellt. Angestoßen wurde dadurch die kritische Reflexion und Eignungsprüfung bewährter, jedoch erwachsenenzentrierter Forschungsmethoden, wie auch der Bedarf an neuen methodischen Zugängen sowohl innerhalb der Disziplin als auch bei der davon nicht unberührt gebliebenen Sozialisations- forschung. Aber auch der Blick in klassische Werke erwies sich als hilfreich für mein Anliegen. Hier finden sich grundlegende methodologische und methodische Überlegun- gen, die phänomenübergreifend Entstehungszusammenhänge, Erkenntnispotentiale sowie Herausforderungen ethnographischer Forschung aufgreifen (Honer 1993, Hirschau- er/Amann 1997, Dellwing/Prus 2012, Breidenstein et al. 2013). Darüber hinaus erhielt ich aus dem Feld der „wissenschaftlichen peers“ (vgl. Dellwing/Prus 2012: 62) zahlreiche bedeutende Impulse. Im Rahmen von Kolloquien und Interpretationssitzungen ermutig- ten sie mich, wo ich Zweifel hatte und öffneten mir den Blick, wo ich Grenzen sah.

Beginnen möchte ich dieses Kapitel mit der methodologischen Erörterung phänomenspe- zifischer Herausforderungen (3.1.1-3.1.4) und dabei die Erkenntnispotentiale ethnogra- phischen Forschens herausstellen. Diese Ausführungen haben bereits analytischen Charakter und münden an der einen oder anderen Stelle in das empirische Material, worin die Zirkularität des ethnographischen Forschens zum Ausdruck kommt. Anschlie- ßend werde ich über das Feld (3.2.1) sowie meine Vorbekanntheit (3.2.2) informieren und von meinen ersten Besuchen berichten (3.2.3). Hier sehe ich wesentliche Entstehungs- momente meines Erkenntnisinteresses verortet. Wurden bis hierhin bereits weiterfüh- rende Gedanken für das methodische Vorgehen kenntlich gemacht, so soll dieses abschließend noch einmal transparent gemacht werden (3.3). Darlegen möchte ich die Beobachtende Teilnahme als Strategie der Datenerhebung (3.3.1) und die hermeneuti- sche Analyse von Beobachtungsprotokollen und weiteren Datentypen als Verfahren der Datenauswertung (3.3.2).

3.1 Phänomenspezifische Herausforderungen und Erkenntnispotentiale ethnographischen Forschens

Das Phänomen der sich ständig wandelnden Klassengemeinschaft stellte mich vor spezifi- sche forschungspraktische Herausforderungen, die es einerseits erforderlich machten, den gesamten Forschungsprozess über eine method(olog)ische Reflexion zu betreiben und andererseits – gerade aus diesem Grund – konstitutiv dafür waren, dass das For- schungsprojekt wie auch ich mit und an ihnen wachsen konnten. Statt mein Vorhaben mit einem verlässlichen, vorab geplanten Forschungsdesign zu starten, hieß es für mich, mit Zuversicht und Offenheit in ein Abenteuer mit ungewissem Verlauf aufzubrechen. Was nun folgt ist eine resümierende Darstellung meiner diesbezüglichen method(olog)ischen Überlegungen entlang der phänomenspezifischen Herausforderungen. Sich für mich als anschlussfähig erwiesene Erkenntnisse aus Kindheits- und Sozialisationsforschung finden dabei ebenso Berücksichtung, wie meine Erfahrungen im Feld und offen gebliebene Fragen.

3.1.1 Das Forschen mit Kindern

Der von der Kindheitsforschung angestoßene paradigmatische Perspektivwechsel, Kinder nicht mehr nur als „Werdende“, sondern als „Seiende“ (vgl. Honig et al. 1996) ernst zu nehmen und sie und ihre Praktiken in ihrer Gegenwärtigkeit zu betrachten (vgl. Brei- denstein/Kelle 1998: 18), hatte methodologisch zur Konsequenz, die kindliche Perspektive als Erkenntnisquelle fruchtbar zu machen. In der Sozialisationsforschung veranlasste dies zu einem Nachdenken über neue methodische Zugänge (vgl. Honig et al. 1999, Mey 2003). Neben der Diskussion und Neujustierung erwachsenenzentrierter narrativer und teil-narrativer Erhebungsverfahren, wurden Vorläufer ethnographischer Ansätze weiter ausdifferenziert und etabliert (vgl. Breidenstein/Kelle 1996: 48). Die im Forschungsstand aufgezeigten ethnographischen Studien veranschaulichen eine Auswahl an Gegenstands- bereichen.

Was sie verbindet ist ihre jeweilige Kritik an einem teleologischen und einseitigen theoretischen Verständnis von Entwicklung und Sozialisation. Sie plädieren für eine Perspektive, die sich für die Alltagswelt von Kindern und Jugendlichen – als eine Welt eigener Art – in ihrer interaktiven Herstellung und sozialen Konstruiertheit interessiert. Nun kann es paradox erscheinen, wenn ForscherInnen dazu eine pädagogische Institution wie die Schule als „natürliche Umwelt“ von Kindern (vgl. Krappmann/Oswald 1995: 25 f.) aufsuchen. Diesem Spannungsverhältnis sah ich mich während meiner Aufenthalte im Feld nicht selten ausgesetzt. In der Deutung mancher Kinder war ich eine Lehrerin, für die Lehrerin schien ich zeitweise eine Verbündete zu sein und der Schulleiter signalisierte sein durchaus schulpolitisches Anliegen. In Anbetracht meines Interesses an der Klassenge- meinschaft als Sozialisationsinstanz, richtete ich mein methodisches Vorgehen dahinge- hend aus, die Lehrperson als Grenzakteur zwar nicht zu ignorieren, sie jedoch zu de- zentrieren. Was methodisch so klar scheint, hat mich in der Praxis jedoch nicht davon entbunden, einen Umgang mit den immer wieder aufkommenden Spannungen zu finden.

Berührt davon war beispielsweise die Frage: „[…] wie ‚aufgeklärt’ ist der Blick auf die eigenen Konstruktionen und wie werden diese transparent gemacht?“ (Breidenstein/Kelle 1998: 49) In besonderem Maße betrifft das die Reflexion der Generationenproblematik des Erwachsenen-Kind-Verhältnisses, die nicht nur im Gegenstandsbereich (vgl. Honig et al. 1996, Hengst 2013), sondern auch in der Forschungspraxis selbst verortet ist (Fuhs 1999). Welche Vorstellung von Kindheit, Kindern und Schule trage ich als forschende Person in das Feld, als ein fortan gemeinsam geteilter Erfahrungsraum, hinein und inwiefern ist davon mein methodisches Vorgehen beeinflusst? Nicht unberechtigt erscheint vor diesem Hintergrund die „[…] Kritik der Reifizierung von gesellschaftlichen Kategorisierungen […]“ (vgl. Ott et al. 2015: 7) wie auch die Gefahr der Romantisierung von Kindern, lösen wir sie aus dem Generationenverhältnis heraus (Klaas et al. 2011).

Denke ich an meine Aufenthalte im Feld zurück, dann stellt sich mir das im Alltagsver- ständnis und gerade in der Institution Schule dominierende Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen forschungspraktisch als ein tendenziell gegenläufiges dar, ohne es negieren zu wollen. In mehrerlei Hinsicht empfand ich mich als auf die Kinder angewiesen: Es bedurfte ihrer Zugangserlaubnis, ihres Vertrauens, ihrer Auskunftsbereit- schaft, ihrer Offenheit, ihrer Geduld, ihrer Übersetzungen und vielem mehr. So erlebte ich meinen Aufenthalt als eine ständige Bewährungsprobe: Wer wird heute fragen, was ich hier eigentlich mache? Werde ich beim nächsten Mal wohl wieder von Fazil vor der Klassenöffentlichkeit als Schülerin adressiert und zum Lösen einer mir den Puls in die Höhe treibenden, weil unvertrauten Aufgabenstellung aufgefordert? Wie werde ich Adjam verklickern, dass ich nicht die ganze Woche am Unterricht teilnehmen kann? Und was sage ich Nergiz, wenn sie mich wieder fragt, ob „morgen Sport?“

Dies führt mich zu einer weiteren Beobachtung. Während ich mir anfangs den Kopf darüber zerbrach, wie ich mich – zunächst als Praktikantin, später als Forscherin – bei den Kindern vorstellen könnte, stellte ich aus der Warte analytischer Distanz fest, dass an meinem Forscherinnendasein eigentlich kaum jemand interessiert war. Vielmehr war ich als Person interessant, die man situativ, explizit oder implizit in diversen Teilnehmerrollen adressieren konnte: als Schiedsrichterin und Streitschlichterin, Lehrerin und Schülerin, Geheimnishüterin, Arbeits- oder Spielpartnerin. In meiner Rolle als beobachtende Forscherin quasi unsichtbar (vgl. Krappmann/Oswald 1995), identifizierte ich mich allmählich mit meinem multifunktionalen Dasein, das mich vor allem als Erkenntnisquelle faszinierte. Wie werde ich zur auserwählten Spielpartnerin? Welche Aufgaben hat ein Schiedsrichter am Rande eines von ganz eigenen Logiken durchzogenen Bolzplatzes? Oder, inwiefern verbündet einen das Nicht-Verstehen einer Aufgabenstellung mit Kindern? Die Situativität und Differenziertheit potentieller Teilnehmerschaften der Forscherperson erscheint mir für das vorliegende Erkenntnisinteresse dahingehend aufschlussreich, als das hierin Vergemeinschaftungs- und Ordnungsprozesse konstituie- rende Momente zum Ausdruck kommen, die Einblicke in die Bewältigungsstrategien, Grenzziehungen und Rollenverhandlungen innerhalb der Klassengemeinschaft zulassen. Denn, so die Annahme, auch in der Interaktion mit der Forscherperson wird der Umgang mit Fremdheit innerhalb des Feldes ausgetragen (vgl. Breidenstein et al. 2013). Sich als ganze Person von den Feldakteuren involvieren zu lassen bedeutet, dass deren prägende Handlungs- und Deutungsmuster bis zu einem gewissen Grad am eigenen Leib erfahren werden können (vgl. Hitzler/Eisewicht 2016). Und das stets in dem Wissen um meinen Sonderstatus, weder (Mit-)SchülerIn werden zu können noch zu müssen und in einem kulturell anderen Herkunftskontext aufgewachsen und sozialisiert zu sein.

Neben der Faszination der mir von den Kindern entgegengebrachten Offenheit, forderte mich diese handlungspraktisch und emotional nicht selten auch heraus. Als Person involviert-zu-werden und/oder involviert-zu-sein (vgl. Hitzler/Eisewicht 2016) bedeutete einerseits, sich auf Unerwartbares einzulassen. So wurde ich von Gesten körperlicher Nähe (Umarmungen oder Händchenhalten) oder spontanen Gefühlsregungen (Wutaus- brüche oder Weinen) überrascht, die mich vor das unmittelbare Handlungsproblem stellten, situationsspezifisch eine Balance zwischen Nähe und Distanz auszuloten. Wohl wissend, es als ständig wiederkehrendes Spannungsverhältnis annehmen zu müssen und dabei nicht auf methodisierte Anleitungen zurückgreifen zu können. Genau hierin kann das Potential der starken Teilnahme gesehen werden, sozial bedeutsame, feldinterne Handlungs- und Deutungsmuster bis zu einem gewissen Grad am eigenen Leib zu erfahren. Involviert-zu-sein und involviert-zu-werden bedeutet aber auch, an anderer Stelle nicht involviert-zu-sein und nicht involviert-zu-werden. Während der Aufmerksam- keitsfokus in einer spezifischen Situation scharf gestellt wird, verschwimmen das schein- bar nebensächliche Geschehen und mit ihm die dortigen Akteure und Interaktionen. Dass sich diesbezüglich ein Muster in mein methodisches Vorgehen eingeschlichen hatte und ich mich häufig in den gleichen Konstellationen wiederfand, kann insofern als Ausdruck einer klassenintern vorherrschenden Verteilungsstruktur von Aufmerksamkeit gedeutet werden, die durch meine Anwesenheit sichtbar wird, wenn man diese als von mir interaktiv und ko-konstruktiv mit reproduziert sieht. Durch mich als Forscherin tritt sowohl in situ (Teilnahme) als auch ex situ (Rekonstruktion) eine weitere Perspektive hinzu, wodurch die Wechselwirkungen der Akteure einerseits Ausdruck, andererseits Deutung erfahren. In der Annahme, dass eine spezifische soziale Ordnung am unmittel- barsten in der sie institutionalisierenden Alltagswelt erfahren werde (vgl. Abels/König 2010: 176), kann hier exemplarisch das Erkenntnispotential ethnographischen Forschens hervorgehoben und auf die lohnende Möglichkeit, „[…] das Verhältnis der Generationen zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen“ (Honig et al. 1999: 21), hingewiesen werden.

Gleichzeitig erschien es mir ausgehend von dieser Beobachtung aufschlussreich, den Radius meiner Aufmerksamkeit zu erweitern. Mein Interesse an dem und den scheinbar Nebensächlichen wuchs und ich begann, mit meinen Positionen im Feld zu spielen. Ich nahm Kontakt zu Kindern auf, wo sich dieser bisher nur auf Blicke beschränkte. Setzte mich in stille Ecken, die zumindest nicht hörbar interessant waren. Und distanzierte mich vom Geschehen, um von dort aus Spezifisches zu beobachten. Aufgrund der hohen Fluktuation und des entsprechend stetigen Wandels sozialer und räumlicher Arrange- ments stellte sich dies fortwährend als Herausforderung dar, die nachfolgend erläutert werden soll.

3.1.2 Der fluktuationsbedingte Wandel räumlicher und sozialer Arrangements

Wie bereits in der Einleitung dieser Abschlussarbeit angedeutet, werden die Kinder das ganze Jahr über einer Intensivklasse zugewiesen. Anders als üblich, markiert der Beginn eines Schuljahres nicht den gemeinsamen Startpunkt einer sich neu konstituierenden Klassengemeinschaft. Das Verhältnis ist ein anderes: jedem Kommen und Gehen wohnt ein potentieller, transformativer Moment inne. Immer wieder anders besetzt, kann man in mehrerlei Hinsicht von einer sich ständig wandelnden Klassengemeinschaft sprechen.

Zum einen schlägt sich dieser Wandel in den vielfältigen räumlichen Arrangements nieder. Nahezu bei jedem meiner Besuche der Klasse, wunderte ich mich über die veränderte Anordnung von Tischen und Stühlen. Und auch im Verlaufe eines Schultages oder einer Unterrichtsstunde wurden Tische gerückt, Sitz- und Stehkreise gebildet oder Kinder umgesetzt. Glaubte und hoffte ich anfangs noch, die einmal aufgezeichnete Sitzordnung würde mich als Gedächtnisstütze durch den Forschungsprozess begleiten, so stellte sich dies schnell als Trugschluss heraus. Gerade aus diesem Grund erwiesen sich alle weiteren Skizzen der räumlichen (An-)Ordnungen als forschungspraktisch hilfreich und analytisch aufschlussreich, wie später noch gezeigt wird (vgl. 4.2).

Auch meine Platzwahl blieb von den Veränderungen nicht unberührt. Während ich zu Beginn meiner Aufenthalte den bequemen Pöeng Ikea-Sessel in der hinteren Ecke des Klassenzimmers ansteuerte, bewegte ich mich zunehmend freier im Raum, hielt Ausschau nach anderen Sitzgelegenheiten und nahm dankbar Angebote von Kindern oder der Lehrerin an. Nicht selten wurden mir Plätze von Kindern zugewiesen, die krankheits- oder anderweitig bedingt fehlten oder sich verspäteten. Bei der Bildung von Sitz- oder Steh- kreisen ließ ich stets den Kindern den Vortritt und wartete zunächst ab, ob sich eine Lücke oder ein Angebot ergeben würde, was oft der Fall war. So hatte ich über den gesamten Forschungsprozess hinweg verschiedene Beobachterpositionen und ging verschiedenste Sitznachbarschaften ein, die denen der Kinder strukturell ähnlich waren.

Letzteres führt mich weiterhin zu den sich stetig verändernden sozialen Arrangements. Die diese Arbeit einleitende Szene ist ein Beispiel für die Ankündigung von Neuzugängen und die von ihr in Gang gesetzten Prozesse. Sie ruft Neugierde und Wünsche hervor, die sich ganz individuell äußern. Mal wird nach dem Alter gefragt, mal nach der Herkunft, mal nach dem Geschlecht. Nicht immer gibt es darauf Antworten und es bleibt bis zu dem Moment des tatsächlichen Eintrittes ungewiss, wer kommen wird. Mit dem Kommen eines Kindes wird nicht nur ein neuer Stuhl besetzt oder die Sitzordnung verändert, mit ihm arrangiert sich auch die Klassengemeinschaft neu: Teilnehmerschaften rotieren. „[…] Versuche, sich akzeptabel darzustellen […]“ (Krappmann/Oswald 1995: 7) vollziehen sich vor dem Hintergrund dieser Dynamiken dann nicht mehr nur einmalig am Beginn des Forschungsprozesses, sondern sind fortlaufend präsent und deutlich komplexer zu verstehen. Es fällt jedoch nicht nur auf, wer neu ist, auch die Abwesenheit von Mitschüle- rInnen wird bemerkt und erfordert Klärungsbedarf. Wie die verschiedenen Teilnehmer- schaften konkret (aus)gestaltet werden und welche sozialisatorischen Funktionen sie jeweils erfüllen, darauf wird in der Analyse näher eingegangen (vgl. 4.1).

[...]


1 vgl. auch Hirsch/Kurt (2010: 263 ff.) und Bender-Szymanski (1999)

2 Einen solchen Perspektivwechsel stoßen Dannenbeck et al. (1999) für den Ausländerdiskurs im Allgemei- nen an, wenn sie nach der alltagspraktischen Bedeutung des ethnisch heterogenen Zusammenlebens von Jugendlichen fragen

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Die Intensivklasse als sozialisatorischer Möglichkeitsraum
Untertitel
Ethnographie einer Klassengemeinschaft im Wandel
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
107
Katalognummer
V539566
ISBN (eBook)
9783346171108
ISBN (Buch)
9783346171115
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialisation, Migration, Schule, Bildung, Ethnographie, Heterogenität
Arbeit zitieren
Ines Birkner (Autor:in), 2019, Die Intensivklasse als sozialisatorischer Möglichkeitsraum, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539566

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