Resozialisierende Behandlung im Strafvollzug. Möglichkeiten und Grenzen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

33 Seiten, Note: 14 Punkte (gut)


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung
1.1. Die Thematik in ihrem Gesamtzusammenhang 1.2. Die Problemstellung vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion

2. Definition der Begriffe „Strafvollzug“, „Resozialisierung“ und „Behandlung“

3. Entwicklung des Behandlungsvollzuges bis zum Inkrafttreten des StVollzG

4. Möglichkeiten resozialisierender Behandlung und ihr Erfolgspotenzial
4.1. Notwendigkeit einer Einschränkung
4.2. Bestimmung eines Erfolgskriteriums
4.3. Unterbringung im offenen oder geschlossenen Vollzug (§ 7 II Nr. 1)
4.3.1. Unterschiede in der Ausgestaltung
4.3.2. Resozialisierungsbeitrag und Vollzugspraxis
4.4. Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt (§ 7 II Nr. 2)
4.4.1. Jüngste Entwicklung, Begriff und Konzept
4.4.2. Behandlungseffekte und Perspektive
4.5. Die Zuweisung zu Wohn- und Behandlungsgruppen (§ 7 II Nr. 3)
4.5.1. Strafvollzug als gruppendynamischer Prozess
4.5.2. Umsetzung in der Praxis
4.6. Arbeit, Ausbildung, Weiterbildung (§ 7 II Nrn. 4, 5)
4.6.1. Die Schlüsselposition von Arbeit und Ausbildung
4.6.2. Empirische Forschung und aktuelle Problemlagen im Überblick
4.7. Besondere Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen (§ 7 II Nr. 6)
4.8. Lockerungen des Vollzuges (§ 7 II Nr. 7)
4.9. Notwendige Maßnahmen zur Vorbereitung der Entlassung (§ 7 II Nr. 8)4.10. Zwischenbilanz

5. Grenzen resozialisierender Behandlung
5.1. Verfassungsrechtliche
5.2. Wirtschaftlich-fiskalische
5.3. Individuelle
5.4. Vollzugsimmanente
5.4.1. Deprivationen, Prisonisierung, Stigmatisierung
5.4.2. Sicherheit der Allgemeinheit
5.5. Gesellschaftlich-politisch-mediale
5.6. Strafrechtssystematische

6. Schlussbetrachtung: Plädoyer für den Behandlungsvollzug

1. Einleitung

1.1. Die Thematik in ihrem Gesamtzusammenhang

„Ich war achtzehn Jahre lang durch meine Mutter im Heim. Nach meiner Geburt bin ich erst mal für fünf Jahre ins Heim gekommen bis zum sechsten Lebensjahr. Nur das sechste Lebensjahr war ich zu Hause. In diesem Jahr hat meine Mutter dreimal versucht, mich zu töten. Hat mich geschlagen, das war kein schönes Leben. Wenn deine eigene Mutter dich nur Tag und Nacht verprügelt, mit dem Feuerhaken auf dich losgeht und versucht, dich umzubringen. Und die Erinnerung, wie sie versucht, mich umzubringen, sitzt tief in mir. Ist das Einzige, was ich aus meiner Kindheit überhaupt noch weiß, wie sie versucht hat, mich umzubringen. Manchmal wache ich noch abends schweißgebadet auf, weil ich die Szenen vor mir habe, wie sie mit einem Messer versucht, mich umzubringen.“1

Nicht jeder Inhaftierte hat eine solch dramatische Vergangenheit hinter sich, wie es Hans-Joachim Neubauer in diesem Auszug aus seinem Werk „Einschluss - Bericht aus einem Gefängnis“ beschreibt. Ebenso klar ist auch, dass selbst die schrecklichste Lebensgeschichte niemals einen Mord, einen Raub oder sonst eine Straftat rechtfertigen kann. Stets stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, wie mit einem zu einer unbedingten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel Verurteilten im Strafvollzug umgegangen werden soll: Wäre es das Beste, ihn einfach nur möglichst lange wegzuschließen? Oder sollte man alles versuchen, ihn wieder in die Gesellschaft einzugliedern? Der deutsche Gesetzgeber hat sich im Strafvollzugsgesetz (StVollzG), das am 1.1.1977 in Kraft getreten ist, für letztere Alternative, genauer gesagt für einen auf Resozialisierung ausgerichteten Behandlungsvollzug, entschieden (vgl. § 2 S.12 ).

1.2. Die Problemstellung vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion

Bereits in den 80er Jahren setzte jedoch eine erste Gegenreformdiskussion ein, die aus vorwiegend ideologischen Gründen eine „Rolle rückwärts“ versuchte und das alleinige Vollzugsziel des § 2 S.1 durch die darüber hinausgehenden allgemeinen Strafzwecke unterlaufen oder gar aufheben wollte.3 Nach dem endgültigen Scheitern dieses Vorhabens 1990 im Bundestag, dauert nun seit Mitte der 90er Jahre eine zweite Reformbewegung an, die unter Verweis auf die aktuellen Problemlagen des Strafvollzuges fordert, das Ziel der Resozialisierung durch einen Sicherungs- und Verwahrvollzug abzulösen.4 Am 03.04.2003 wurde daher auf Initiative Hessens vom Bundesrat ein Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der den Schutz der Allgemeinheit zum zweiten Vollzugsziel erheben wollte.5 In praktischer Hinsicht könnte dies zum einen den Todesstoß für den Resozialisierungsgedanken bedeuten6 und damit zum anderen den Weg in Richtung eines reinen Abschreckungs- und Verwahrvollzuges nach amerikanischem Vorbild ebnen. Nun kann ein solcher Paradigmenwechsel natürlich nicht von vornherein abgelehnt werden, denn es kann durchaus überzeugende Gründe geben, die bestehende Rechtslage zu ändern. Zentrales Problem der vorliegenden Arbeit ist mithin die Frage, ob es innerhalb der Grenzen des heutigen Strafvollzuges ausreichend Gestaltungsspielraum gibt, um mit resozialisierenden Maßnahmen zufrieden stellende Erfolge zu erzielen, so dass es lohnenswert erscheint, an der derzeitigen Konzeption des Strafvollzuges festzuhalten. Zwei wesentliche Gesichtspunkte sind dabei zu berücksichtigen: Dies betrifft zum einen die Frage, wie erfolgreich die derzeitigen Behandlungsansätze sind, was - wie die fortwährenden Reformbestrebungen zeigen - schon von jeher sehr unterschiedlich beurteilt wird. Zum anderen ist von maßgeblichem Interesse, ob und gegebenenfalls welche Möglichkeiten bestehen, den Erfolg des Behandlungsvollzuges durch verbesserte Maßnahmen einerseits und Erweiterung der Grenzen andererseits zu steigern. Erst wenn die Antwort (auch) auf letztgenannten Aspekt negativ ausfiele, wäre es legitim, mit scheinbar „bequemeren” Alternativen wie einer bloßen Verwahrung der Gefangenen aufzuwarten, will man es sich nicht zu einfach machen.

Nach einer Erläuterung der zentralen Begriffe „Strafvollzug“, „Resozialisierung“ und „Behandlung“ (2.) sowie einem kurzen Abriss der historischen Entwicklung des Resozialisierungsgedankens bis zum Inkrafttreten des StVollzG (3.) soll deshalb auf der Grundlage empirischer Befunde im Sinne einer Bestandsaufnahme zunächst festgestellt werden, wo bei den derzeitigen Behandlungsansätzen Defizite bestehen, um anschließend den Blick auf eventuell vorhandene Verbesserungsmöglichkeiten richten zu können (4.3. bis 4.9.). Zuvor muss aber vor dem Hintergrund der Vielzahl der denkbaren Maßnahmen eine Einschränkung vorgenommen werden (4.1.). Außerdem ist die Bestimmung eines Erfolgskriteriums erforderlich (4.2.). Zum einen als Erklärung möglicher Unzulänglichkeiten bei der Verwirklichung des Vollzugszieles und zum anderen - wie bereits erwähnt - als wichtiger Ansatzpunkt einer Erweiterung des Gestaltungsspielraums der Resozialisierungsmaßnahmen werden danach die Grenzen des Behandlungs-vollzuges ins Auge gefasst (5.). Abschließend soll eine Antwort auf das aufgeworfene, zentrale Problem gegeben werden, ob es die zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten auf der einen Seite und die vorhandenen Grenzen auf der anderen in ihrer Gesamtabwägung legitim erscheinen lassen, einen (allein) auf Resozialisierung abzielenden Strafvollzug beizubehalten oder ob eine Reform etwa im Sinne der erläuterten Bundesratsinitiative angezeigt wäre (6.).

2. Definition der Begriffe „Strafvollzug“, „Resozialisierung“ und „Behandlung”

Die im Zentrum der hier gegebenen Thematik stehenden Begriffe „Strafvollzug”, „Resozialisierung” und „Behandlung” bedürfen, wie bereits angesprochen wurde, für das weitere Verständnis erst einmal einer grundsätzlichen Klärung. Der erstgenannte Ausdruck umfasst die Art und Weise der Durchführung von freiheitsentziehenden Kriminalsanktionen von der Aufnahme des Verurteilten in die Vollzugsanstalt bis zu dessen Entlassung.7 Namentlich sind dies die Freiheitsstrafe, die freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung, die Jugendstrafe sowie der militärische Strafarrest.8 Zwar nennt der § 1 des StVollzG bezüglich seines Anwendungsbereiches nur die beiden erstgenannten Kriminalsanktionen, jedoch hat diese positive Umschreiung keinen abschließenden Charakter, so dass eine entsprechende Anwendung des StVollzG auf den Vollzug der Jugendstrafe grundsätzlich möglich ist, soweit nicht die besonderen Erfordernisse des Jugendvollzuges entgegenstehen.9 Der militärische Strafarrest nach § 9 WStG wird - solange der Verurteilte Soldat ist - gemäß der Bundeswehrvollzugsordnung von Behörden der Bundeswehr selbst durchgeführt.10

Weitaus problematischer ist es, den Begriff der „Resozialisierung“ genauer zu bestimmen. Zunächst einmal handelt es sich hierbei um einen vereinfachenden Terminus zur knappen Kennzeichnung des Vollzugszieles11, wie es in § 2 S. 1 beschrieben wird. Hierin heißt es: „ Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ Hinsichtlich einer konkreten Umschreibung dieser Zielstellung ist das StVollzG im Übrigen jedoch sehr zurückhaltend.12 Dies mag u.a. daran liegen, dass der sozialwissenschaftliche Begriff der „Resozialisierung“ in den einzelnen Bezugswissenschaften nicht einheitlich definiert wird.13 Einen geeigneten Ansatzpunkt für eine genauere Bestimmung bietet aber der Wortbestandteil „Sozialisierung”. Hierunter versteht man den Prozess, in dem der Einzelne Normen, Werte, Orientierungen und Handlungsmuster der Gruppen, denen er angehört, erlernt.14 Dies geschieht in verschiedenen Phasen und durch unterschiedliche Institutionen (z.B. Familie, Schule).15 Hierbei kann es zu Defiziten kommen. Diese zu beseitigen muss folglich Gegenstand der Resozialisierung im Sinne des StVollzG sein, wobei sowohl die Inhaftierten selbst als auch ihre Umwelt aktiv in diesen Prozess zu involvieren sind.16 Dabei ist allerdings Voraussetzung, dass der jeweilige Gefangene schon einmal eingegliedert war und einen entsprechenden Sozialisationsprozess erfolgreich durchlaufen hat. Wo dies nicht der Fall ist, muss eine Sozialisation nachgeholt werden, weshalb man in derartigen Fällen vielmehr von einer Neu- als von einer Wiedereingliederung sprechen sollte.17

Unter „Behandlung” ist vor dem Hintergrund des Gesagten die Gesamtheit aller Maßnahmen zu verstehen, mit denen das Ziel der Resozialisierung verfolgt wird.18

3. Entwicklung des Behandungsvollzuges bis zum Inkrafttreten des StVollzG

Auch wenn die besagte Zielstellung eines resozialisierenden Behandlungsvollzuges in Deutschland erst seit knapp drei Jahrzehnten gesetzlich fixiert ist, reichen seine Anfänge weit zurück. Mit der Geburtsstunde eines eigentlichen Strafvollzuges in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kam auch die Idee der Resozialisierung auf. Das erste Zuchthaus in Bridewell bei London im Jahre 1555 war geprägt vom Gedanken des Erziehens zu einem geordneten Leben durch Arbeit und Strafen.19 Diesem Modell folgend entstanden zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch in Deutschland erste Zuchthäuser (z.B. 1609 Bremen), wobei der Behandlungsgedanke jedoch rasch in Vergessenheit geriet und einer kostensparenden Verwahrung der Gefangenen wich, wie es dem allgemeinen Nützlichkeitsdenken im absolutistischen Staat entsprach.20 Ende des 18. Jahrhunderts kam es in Preußen zu ersten Reformbewegungen mit dem Ziel einer Wiederbelebung des Besserungsgedankens, die jedoch scheiterten.21 Vielmehr führte die im 19. Jahrhundert dominierende absolute Straftheorie vor allem in Verbindung mit Feuerbachs „Theorie des psychologischen Zwangs”22 zu einem harten Abschreckungsvollzug, der für spezialpräventive Ansätze wenig Raum ließ. Außerdem wurden in einigen deutschen Partikularstaaten Haftanstalten nach pennsylvanischem Muster gebaut, in denen das Prinzip strenger Einzelhaft vorherrschte.23 Erst in der Weimarer Republik setzte sich der Erziehungsgedanke, der die Rückfallprävention zum vorrangigen Ziel erklärte, durch. Im Vorgriff auf das geplante StVollzG vereinbarten die Länder 1923 „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen”.24 Abgesehen von einer am 1.7.1962 in Kraft getretenen Dienstvollzugsordnung, welche die Vereinheitlichung der Vollzugspraxis in den Ländern anstrebte25, blieb eine gesetzliche Regelung bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts jedoch aus. Dies lag nicht zuletzt auch an der traditionellen Rechtfertigung der Grundrechtsbeschränkungen von Gefangenen durch die Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis“.26 Diese Theorie ist jedoch vom Bundesverfassungsgericht in seinem grundlegenden Beschluss vom 14.3.197227 für verfassungswidrig erklärt worden. Darüber hinaus entschied das höchste deutsche Gericht im sogenannten Lebach -Urteil ein Jahr später, dass die Resozialisierung der Strafgefangenen als das herausragende Ziel des Strafvollzuges anzusehen sei und leitete dies aus der Sicht der Gesellschaft aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG) und auf der Ebene des Individuums aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 GG her.28 Schließlich setzte es dem Gesetzgeber am 29.10.1975 eine letzte Übergangsfrist bis zum 1.1.1977, um eine gesetzliche Grundlage für den Strafvollzug zu schaffen29, was nach zähem Ringen letztlich gelang.

4. Möglichkeiten resozialisierender Behandlung und ihr Erfolgspotenzial

4.1. Notwendigkeit einer Einschränkung

Wenn nun die Möglichkeiten resozialisierender Behandlung näher erläutert und nach Feststellung der bisher mit ihnen erzielten Ergebnisse auf ihr Erfolgspotenzial hin untersucht werden sollen, kann dies aufgrund der großen Zahl der in Betracht kommenden Behandlungsansätze nicht mit dem Anspruch der Vollständigkeit geschehen. Auch das StVollzG stellt in § 7 II nur einen Minimalkatalog verschiedener Möglichkeiten der Behandlung auf, über die im Rahmen eines Vollzugsplanes mindestens entschieden werden muss, wobei andere Maßnahmen wegen des diesbezüglich nicht abschließenden Charakters des Gesetzes keinesfalls ausgeschlossen sind. In jedem Fall ist dem § 7 II aber zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die hierin ausdrücklich genannten acht Behandlungsansätze für zentral hält und damit der Vollzugspraxis ganz zwangsläufig vorgibt, worauf sie den Schwerpunkt ihrer Anstrengungen zu richten hat, so dass es sinnvoll erscheint, die Wertung des Gesetzgebers als maßgebliches Auswahlkriterium für die vorliegende Arbeit zu übernehmen.

4.2. Bestimmung eines Erfolgskriteriums

Neben einer Beschränkung der zu untersuchenden Behandlungsansätze ist eine zweite Vorüberlegung nötig. Diese betrifft die Frage, woran der Erfolg der durchgeführten Maßnahmen zu messen ist. Als entscheidendes Kriterium wird ganz überwiegend die Legalbewährung innerhalb eines meist vier- bis fünfjährigen Beobachtungszeitraums herangezogen.30 Daran soll auch hier festgehalten werden, weil die Rückfallquote am besten zum Ausdruck bringen kann, inwieweit es dem Strafvollzug gelingt, das Vollzugsziel umzusetzen, d.h. die Gefangenen zu einem Leben ohne Straftaten zu befähigen. Überdies sind andere Beurteilungsmaßstäbe wie die soziale Integration zu unbestimmt und von der empirischen Forschung entsprechend schwer zu handhaben. Gleichwohl muss auf zwei wesentliche Probleme hingewiesen werden, die im Zusammenhang mit dem Rückfall als entscheidendem Erfolgskriterium bestehen. Dies betrifft zum einen seine Definition, die nicht einheitlich ist. So kann man beispielsweise jede neue Verurteilung als Rückfall werten oder die Bagatelldelikte herausnehmen. Auch kann man den Rückfallzeitraum verschieden ansetzen und so ebenfalls zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die im Folgenden genannten Rückfallquoten haben diejenige Definition zur Grundlage, die jede erneute Verurteilung als Rückfall wertet. Zum anderen sind bei der Auswertung der Ergebnisse immer die sogenannten „Selektionseffekte“ zu berücksichtigen. Will man also beispielsweise die Wirkung von Sozialtherapie auf die Legalbewährung untersuchen, so ist zu bedenken, dass schon Faktoren wie die Behandlungsbereitschaft, die eine wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme in eine sozialtherapeutische Anstalt ist, eine Vorauswahl von Gefangenen mit ohnehin günstiger Rückfallprognose bewirkt.31

4.3. Unterbringung im offenen oder geschlossenen Vollzug ( § 7 II Nr. 1)

4.3.1.Unterschiede in der Ausgestaltung

Als erste Möglichkeit resozialisierender Behandlung soll zu Beginn die Unterbringung im offenen oder geschlossenen Vollzug (§ 7 II Nr. 1) als eine der wichtigsten Maßnahmen in den Blick genommen werden. Beide Vollzugsarten unterscheiden sich zum einen in baulicher Hinsicht. So sind gemäß § 141 II Anstalten des offenen Vollzuges gar nicht oder nur vermindert gegen Entweichungen gesichert. Insbesondere kann auf eine spezielle Umfassungsmauer, Fenstergitter und Türsicherungen verzichtet werden (vgl. Nr. 2 I der VV zu § 141). Zum anderen bestehen zwischen offenem und geschlossenem Vollzug auch hinsichtlich der Vollzugsgestaltung Unterschiede. So sind tragende Prinzipien von ersterem vor allem Selbstverantwortung und Außenorientierung insbesondere durch häufige Gewährung von Vollzugslockerungen32, während bei letzterem das Sicherungsbedürfnis im Vordergrund steht.33 Letztlich wird dem Gefangenen im offenen Vollzug ein erhöhtes Maß an Vertrauen entgegengebracht, denn er soll in einem weitgehend den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasstem Umfeld durch Selbstkontrolle das erfolgreiche Durchstehen von Versuchungssituationen erlernen.34

4.3.2. Resozialisierungsbeitrag und Vollzugspraxis

In einigen, teils schon länger zurückliegenden Studien konnte eine um etwa 10 % niedrigere Rückfallquote der aus dem offenen Vollzug entlassenen Gefangenen festgestellt werden.35 Bei der Bewertung dieses Ergebnisses ist allerdings zu berücksichtigen, dass gemäß § 10 I für den offenen Vollzug nur Gefangene in Betracht kommen, bei denen weder Flucht- noch Missbrauchsgefahr besteht. Dieser Umstand stellt einen beachtlichen Selektionseffekt dar, der das bessere Abschneiden gegenüber dem geschlossenen Vollzug beeinflusst. Dennoch ermöglicht die offene Vollzugsform gerade in Verbindung mit der Gewährung von Lockerungen einen fließenden Übergang des Inhaftierten in die Freiheit und ist daher die wohl beste Entlassungsvorbereitung überhaupt.36 Zudem bietet sich eine Kombination mit dem Sozialen Training an, das dabei helfen kann, individuell festgestellte Defizite in Bereichen wie Arbeit- und Berufswelt, Wohnen oder sozialen Beziehungen aufzuarbeiten.37

Trotz der geschilderten Bedeutung des offenen Vollzuges und der sich aus der Systematik des § 10 ergebenden Vorrangstellung dieser Vollzugsform38, waren zum Stichtag am 31.8.2005 nur 18 % der Gefangenen im Erwachsenenvollzug in offenen Anstalten untergebracht39. Bemerkenswert ist im Übrigen auch, dass sich die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßenden Gefangenen zu 72,5 % im geschlossenen Vollzug befanden40, obwohl sie nach Ansicht der Gerichte von vornherein nicht in die Haft gelangen sollten und eigentlich kein Sicherheitsrisiko darstellen dürften41.

Begünstigt wird diese (viel zu) zögerliche Anwendung des offenen Vollzuges zum einen durch die Überangsvorschrift des § 201 I Nr. 1, über deren Fortgeltung der Gesetzgeber eigentlich gemäß § 198 IV bis 31.12.1985 befinden wollte, was allerdings bis heute nicht geschehen ist. Zum anderen stellen Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber dieser Vollzugsform ein Hindernis für den weiteren Ausbau dar. Letztlich ist diese Skepsis und Zurückhaltung jedoch unbegründet, weil die bisherigen empirischen Erkenntnisse einem Ausbau des offenen Vollzuges nicht entgegenstehen und man sich vor Augen halten muss, dass er gegenüber der geschlossenen Variante ein effektiveres und kostensparenderes Mittel zur Verwirklichung des Vollzugszieles ist.42

4.4. Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt ( § 7 II Nr. 2)

4.4.1. Jüngste Entwicklung, Begriff und Konzept

Die Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt (§ 7 II Nr. 2) dürfte wohl der Behandlungsansatz sein, der in den letzten Jahren am meisten an Bedeutung gewonnen hat, denn das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ 43 vom 26.01.1998 und der neugefasste § 9 I geben dem Sexualstraftäter seit dem 01.01.2003 ein Recht auf Verlegung dorthin. In der vorangegangenen fünfjährigen Übergangsphase war die heutige „Ist-Regelung” in § 9 I immerhin schon als „Soll-Vorschrift“ ausgestaltet44. Vor dem Hintergrund des Gesagten ist es mithin nicht verwunderlich, dass sich zum einen die Zahl der sozialtherapeutischen Einrichtungen seit 1997 auf nunmehr 45 (Stichtag: 31.03.2005) mehr als verdoppelt hat45 und zum anderen die wegen Sexualdelikten Verurteilten mit 58,5% die derzeit größte Deliktsgruppe stellen (Stichtag: 31.03.2005)46. Vor acht Jahren waren die wegen Eigentums- und Vermögensdelikten noch anteilsmäßig am stärksten vertreten.47

[...]


1 Neubauer, Einschluss, S. 92.

2 Paragrafen ohne Gesetzesangabe sind solche des StVollzG.

3 Vgl. Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 16.

4 Vgl. Calliess / Müller-Dietz, § 2 Rn. 17.

5 Vgl. BT-Drucksache 15/778.

6 Vgl. Steindorfner, ZfStrVO 2003, 3 (6).

7 Vgl. Kaiser / Schöch, § 1 Rn. 1.

8 Vgl. Kaiser / Schöch, § 1 Rn. 4.

9 Vgl. Calliess / Müller-Dietz, § 1 Rn. 8.

10 Vgl. Laubenthal, Rn. 21.

11 Vgl. Calliess / Müller-Dietz, § 4 Rn. 6.

12 Vgl. Walter, Rn. 280.

13 Vgl. Kaiser / Schöch, § 6 Rn. 10.

14 Vgl. Kaiser / Schöch, § 2 Rn. 8.

15 Vgl. Veith, S. 60.

16 Vgl. Veith, S. 63.

17 Näher hierzu Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, S. 161.

18 Vgl. BVerfGE 35, 202 (235).

19 Vgl. Rüping / Jerouschek, Rn. 208.

20 Vgl. Rüping / Jerouschek, Rn. 209.

21 Vgl. Laubenthal, Rn. 105.

22 Näher hierzu Rüping / Jerouschek, Rn. 223 f.

23 Vgl. Laubenthal, Rn. 108.

24 Vgl. Calliess / Müller-Dietz, Einl. Rn. 5.

25 Näher hierzu Calliess / Müller-Dietz, Einl. Rn. 9 f.

26 Vgl. Kaiser / Schöch, § 3 Rn. 23.

27 Vgl. BVerfGE 33, 1 ff.

28 Vgl. BVerfGE 35, 202 (235 f.).

29 Vgl. BVerfGE 40, 276 (284).

30 Vgl. nur Streng, Rn. 263.

31 Näher hierzu Streng, Rn. 269.

32 Vgl. Laubenthal, Rn. 350. Zu den Vollzugslockerungen im Besonderen siehe unten 4.8.

33 Vgl. Kaiser / Schöch, § 10 Rn. 34.

34 Vgl. Dünkel, in: Wiedereingliederung Straffälliger, S. 44.

35 Vgl. Dolde, ZfStrVO 1992, 24 (27 f.); Dünkel, Legalbewährung, S. 274 ff.

36 Vgl. S/B/Ittel, § 10 Rn. 15.

37 Ein entsprechendes Konzept wurde in der offenen Abteilung der JVA Frankenthal entwickelt und mit erstem Erfolg durchgeführt, vgl. Enders, ZfStrVO 2004, 280 ff.

38 Vgl. Calliess / Müller-Dietz, § 10 Rn. 1; Laubenthal, Rn. 363; Böhm, Rn. 146.

39 Statistisches Bundesamt, Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten nach ihrer Unterbringung auf Haftplätzen des geschlossenen und offenen Vollzuges zum Stichtag am 31.08.05, www.destatis.de/download/d/veroe/fach_voe/justizvollzug05.pdf (01.12.05); Prozentangaben nach eigener Berechnung.

40 Statistisches Bundesamt, a.a.O.; immerhin sind in Berlin und Niedersachsen die Mehrheit der Ersatzstrafenverbüßer im offenen Vollzug untergebracht.

41 Vgl. hierzu Dünkel, in: Wiedereingliederung Straffälliger, S. 46.

42 Vgl. Kaiser / Schöch, § 7 Rn. 22; Dünkel, in: Wiedereingliederung Straffälliger, S. 59 f.

43 BGBl. I 1998, S. 160 ff.

44 Vgl. den nunmehr entfallenen § 9 Nr. 3.

45 Vgl. Schulz, Sozialtherapie, S. 6.

46 Vgl. Schulz, Sozialtherapie, S. 15.

47 31.03.1997: 44,5 % / 31.03.2005: 14,0 %, Schulz, Sozialtherapie, S. 15.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Resozialisierende Behandlung im Strafvollzug. Möglichkeiten und Grenzen
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Veranstaltung
„Kriminalwissenschaften” / Spezialisierung „Kriminologie”: „Strafrechtliche Sanktionen / Strafvollzug”
Note
14 Punkte (gut)
Autor
Jahr
2006
Seiten
33
Katalognummer
V53931
ISBN (eBook)
9783638492478
ISBN (Buch)
9783640238019
Dateigröße
603 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Möglichkeiten, Grenzen, Behandlung, Strafvollzug, Spezialisierung, Sanktionen, Strafvollzug”
Arbeit zitieren
Mario Bachmann (Autor:in), 2006, Resozialisierende Behandlung im Strafvollzug. Möglichkeiten und Grenzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53931

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