Achtsamkeit in der Schule. Ist Achtsamkeitsförderung ein sinnvolles Konzept für die Pädagogik?


Fachbuch, 2020

230 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Gegenwartsdiagnosen
2.1 Risikogesellschaft (nach Beck)
2.2 Multioptionsgesellschaft (nach Gross)
2.3 Beschleunigungsgesellschaft (nach Rosa)

3 Lebensalter Kindheit und Jugend
3.1 Entwicklungsaufgaben in der Kindheit
3.2 Entwicklungsaufgaben in der Jugend
3.3 Persönlichkeitsentwicklung

4 Zahlen aus der Kindheits- und Jugendforschung
4.1 Shell Jugendstudie
4.2 Health Behaviour in School-aged Children- Studie (HBSC)
4.3 Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS)
4.4 LBS Kinderbarometer

5 Achtsamkeit in verschiedenen Bereichen
5.1 Die buddhistischen Ursprünge des Achtsamkeitsbegriffs
5.2 Die heutige Verwendung des Achtsamkeitsbegriffs

6 AISCHU (Achtsamkeit in der Schule)
6.1 Vorstellung von AISCHU
6.2 Aufbau und Methodik von AISCHU

7 Schule als pädagogisch relevantes Setting
7.1 Über die primären Funktionen der Schule
7.2 Über den schulischen Erfahrungsraum.

8 Achtsamkeit in der Wirksamkeitsforschung
8.1 Messinstrumente in der Achtsamkeitsforschung
8.2 Zur wissenschaftlichen Verwertbarkeit eines vielschichtigen Begriffs

9 Studien zur Wirksamkeit von AISCHU
9.1 Erste Evaluationsstudie: 2010 bis 2011
9.2 Zweite Evaluationsstudie: 2015 bis 2016

10 Analyse von AISCHU
10.1 Forschungstheoretische Studienbetrachtung
10.2 Vergleich ausgewählter Wirksamkeitsannahmen
10.3 Ermittlung pädagogischer Begründbarkeit

11 Ergebnisse und Fazit
11.1 Beantwortung der Forschungsfrage
11.2 Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

Der Begriff der Achtsamkeit prägt bereits seit einigen Jahren die Themenlandschaft verschiedener Debatten im Rahmen wissenschaftlicher Forschung. Dabei ist die Bandbreite denkbarer Anwendungsgebiete und Verwendungskontexte parallel zum Forschungsfortschritt auf diesem Feld stetig vielfältiger geworden (vgl. Valtl 2018, S. 1). Auch in Alltag und Kultur kommt man inzwischen kaum um die Achtsamkeitsthematik herum (vgl. Horx o.J., S. 2; vgl. Zimmermann 2014). Mit Blick auf alltagsgebräuchliche Ratgeber- und Unterhaltungsliteratur aus der Rubrik Gesundheit und Lebenshilfe zeigt sich, dass diese mehr und mehr bestimmt wird von Achtsamkeitsmagazinen1 und Ratgebern (siehe beispielsweise: „bewusster leben. Sei gut zu dir!“ (Hille (2019)), „flow magazin. Die Zeitschrift ohne Eile, über kleines Glück und das einfache Leben“ (Gruner+Jahr GmbH (2019)), „moment by moment. Das Magazin für Achtsamkeit“ (Hammer (2019), oder auch „Der kleine Achtsamkeitscoach- Wie Sie im Jetzt ankommen und zu wahrer Gelassenheit finden“ (Iding 2012)). Einer beständig wachsenden multiprofessionellen Autor*innenschaft2 nach, bietet die Achtsamkeitspraxis ein praktikables Modell für verschiedenste Kontexte (z.B. Achtsamkeit während der Schwangerschaft (Bardacke 2013), Achtsamkeit beim Essen (Albers 2010), Achtsamkeit in der Kommunikation (Hanh 2014), Achtsamkeit beim Konsum (Romhardt 2017), Achtsamkeit in Beziehungen (Jellouschek 2014), Achtsame Erziehung in der Familie (Siegel/Bryson 2013)) sowie verschiedenste Lebens- und Handlungsbereiche (Achtsamkeit in der Kita (Klein 2018), Achtsamkeit in der Schule (Rechtschaffen 2016, Jensen 2014), Achtsamkeit im Alltag (Kabat-Zinn 2015, Hanh 1992), Achtsamkeit am Arbeitsplatz (Chapman-Clarke 2016)). Darüber hinaus finden sich Beiträge über den Einsatz von Achtsamkeit im Kontext von Coaching (Renn/Bickel-Renn 2012) sowie systemischer Beratungs- und Therapiepraxis (Aguilar-Raab 2017; Schmidt 2016; Tammena/Iwers-Stelljes 2014).

Achtsamkeit, so kann festgestellt werden, liegt im Trend (vgl. Michalak/Heidenreich 2018, S. 1; vgl. Kaltwasser 2016, S. 51; vgl. Schmidt 2016, S. 336; vgl. Kirch o.J., o.S.) und hält in Form von Programmen und Kursen mit unterschiedlichen Motiven Einzug in die verschiedensten Branchen (vgl. Valtl 2018, S. 7, 13; vgl. Horx o.J., S. 2 f.). Das Zukunftsinstitut listet Achtsamkeit bereits in seiner Megatrend-Map als eine von vielen Aspekten aktueller gesellschaftlicher Wandlungserscheinungen und ordnet den Begriff u.a. dem Megatrend der Individualisierung gewissermaßen als Subtrend zu (vgl. Zukunftsinstitut GmbH o.J. a, o.S.).3 Horx spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „[…] Ära der Achtsamkeit“ (Horx o.J. S. 1) und verknüpft diese mit Bekundungen über einen gesellschaftlichen Wertewandel (vgl. Horx o.J., S. 1).

Auch durch die Kenntnis aktueller erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Themenschwerpunkte4 wird ersichtlich, wie unumgänglich und aktuell die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Achtsamkeit (häufig auch im Zusammenhang mit Wandlungserscheinung im Hinblick auf zeitliche Kategorien) ist.

Gouda fasst die Dynamik, die dem zunehmenden Interesse für Achtsamkeit zugrunde liegt, wie folgt zusammen:

“In a world where performance, acceleration, achievement, adaptation and - by extension - conformity to an array of often contradictory and always challenging social norms and pressures are more demanded than ever, human beings in all walks of life are increasingly confronted with their inability to rise to the expectations posed to them while simultaneously striving for a happy, healthy existence. […] The search for antidotes to the more poisonous backlashes of modernity is however also manifest in the increasingly […] interest in mindfulness, a far-eastern tradition that is hailed by a growing number of western voices as a wondrous resort, the golden road to immutable equanimity and peace of mind.” (Gouda 2017, S. 1, Ausl. T.R.).

Diese Beobachtung findet auch bei anderen Wissenschaftler*innen Bestätigung5. Übertragen auf einen pädagogisch relevanten Kontext finden sich bei Zenner (2016) entsprechend hergeleitete Zusammenhänge zwischen dem Vorliegen einer sog. „[…] ‚neuen Morbidität‘ […]“ (Zenner 2016, S. 1, Herv. im Orig.) bei Kindern und Jugendlichen und den gesellschaftlichen Entwicklungen wie sie bei Gouda beschrieben werden. Zenner führt an, dass die Konzeption schulischer Achtsamkeitsprogramme eine Reaktion auf diese Entwicklung sei und sowohl im wissenschaftlichen als auch im praktischen Bereich mit dem Motiv der Förderung von Gesundheit Anklang finde (vgl. Zenner 2016, S. 2).

Achtsamkeit wurde in den vergangenen Jahren verstärkt wissenschaftlich erforscht (vgl. Valtl 2018, S. 1 f., 10). Dabei geht es neben der Wirkweise des Ansatzes6 häufig auch um die Einsatzmöglichkeiten von achtsamkeitsbasierten Interventionen und Maßnahmen7 und deren Passung für unterschiedliche Personengruppen8. Im Zuge der Erforschung von salutogenen Effekten der Achtsamkeitspraxis, wurde der Einsatz von achtsamkeitsbasierten Verfahren auch für den schulischen Kontext interessant (Felver et al. 2016). Im Sinne einer Gesundheitserziehung und einer Schulung von Selbst- und Sozialkompetenzen rückte das Thema für die Schule schließlich auch international immer stärker in den Fokus (vgl. Valtl 2018, S. 11). Vor allem in den USA (Inner Kids Programme (Kaiser Greenland 2010), Learning to BREATHE (Broderick 2013)) und Großbritannien (Mindfulness in Schools Project (MiSP o.J.)9 ) wurden verschiedene Programme zur Schulung und Förderung von Achtsamkeit in der Schule entwickelt (vgl. Valtl 2018, S. 13). Auch in Deutschland gewann die Achtsamkeitsthematik im Bildungsbereich an Bedeutung10. So werden entsprechende Programme und Projekte seit einigen Jahren verstärkt erforscht und im Rahmen studienintegrierter Testphasen in der Schule erprobt11.

Das Thema Achtsamkeit wurde jedoch bislang stärker in Bezug auf Erwachsene erforscht als auf die Lebensalter Kindheit und Jugend (vgl. Meiklejohn et al. 2012, S. 296). So greifen Programme zur Achtsamkeitsförderung oftmals auf theoretische Modelle und Erkenntnisse aus Achtsamkeitsinterventionen mit Erwachsenen zurück. Die theoretischen Grundlagen dieser Programme wurden infolgedessen häufig übernommen. Zudem wurde sich um eine inhaltlich stärker kindgerechte Gestaltung bemüht (vgl. Zoogman et al. 2015, S. 291). Eine erste Meta-Analyse der bisher vorliegenden Studien (-ergebnisse) zu Achtsamkeitsinterventionen in der Schule im englischsprachigen Raum stammt von Felver et al. (Felver et al. 2016). In Bezug auf das Thema Achtsamkeit im Bildungsbereich sei im Besonderen auf Meiklejohn et al. verwiesen (Meiklejohn et al. 2012)12.

Anhand dieser Darlegung zeigt sich der Bedarf an Forschung zum Einsatz achtsamkeitsbasierter Interventionen für verschiedene Lebensalter und verschiedene (vor allem nicht-klinische) Settings wie beispielsweise der Schule. Achtsamkeit ist in Bezug auf die ursprüngliche Begriffsbedeutung ein zweckfreier, für sich selbst und die Erfahrung der Wahrnehmung stehender Ansatz. Achtsamkeit dient somit dem Moment des Erlebens selbst und ist nicht auf die Erreichung eines übergeordneten Ziels ausgerichtet (vgl. Goleman 1988, S. 20). Dem schulischen Funktionsbereich hingegen sind an Fähigkeiten und Kompetenzen orientierte Selektionsmechanismen immanent, welche vor dem Hintergrund eines klar umrissenen Ziels, nämlich einer Ausbildung und Qualifizierung der Schüler*innen für den Arbeitsmarkt, bestehen (vgl. Wiater 2009, S. 70; vgl. Esslinger-Hinz/Sliwka 2011, S. 40, 46). Damit wird ein Leistungsauftrag beschrieben, welchen die Schule gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen hat (vgl. Wiater 2009, S. 70). Somit besteht ein Motiv bei der Beschäftigung mit besagtem Thema in der scheinbaren Unvereinbarkeit zwischen dem Ansatz der Achtsamkeit, welcher das persönliche Wachstum in den Fokus stellt und den zentralen Funktionen von Schule, welche (auch) auf einen gesellschaftlichen Aspekt von Bildung abzielen und somit u.a. übergeordnete, d.h. nicht rein subjektbezogene Ziele verfolgen. Die vorliegende Arbeit zeigt demzufolge auch, dass Bildung sich in der Schule auf mehr als einer Ebene vollzieht und auch der Achtsamkeitsansatz bedingt durch wechselnde Tendenzen des herrschenden Zeitgeists sowie durch fachlich diverse Kontexte unterschiedlich interpretiert und eingesetzt werden kann.

Der Fokus in dieser Arbeit richtet sich auf das Thema der Achtsamkeit im Sinne einer Achtsamkeitsförderung in der Schule. Dabei geht es in erster Linie um die pädagogische Relevanz des Konzepts der Achtsamkeit am Beispiel des schulischen Handlungsfelds unter exemplarische Bezugnahme auf ein schulisches Achtsamkeitscurriculum aus dem deutschsprachigen Raum (AISCHU- Achtsamkeit in der Schule (Kaltwasser 2016)).

Das Erkenntnisinteresse der Thesis besteht folglich in der, durch eine Wirksamkeitsanalyse ermöglichten, Nachvollziehbarkeit pädagogischer Achtsamkeitsarbeit im Bereich Schule. Dabei wird die Entwicklung des Achtsamkeitsansatzes und dessen Einsatz im schulischen Feld analysiert und auf seine pädagogische Bedeutung und Wirksamkeit hin geprüft. Die Beobachtungen von Gouda (2017) und Zenner (2016) werden dabei als Ausgangspunkt für die Überprüfung der beschriebenen Zusammenhänge (zwischen der Entwicklung von subjektiver Überforderung, steigenden Krankheitsraten bei Kindern und Jugendlichen und dem Einsatz von schulischen Achtsamkeitsprogrammen) betrachtet.

Ausgehend vom dargelegten Erkenntnisinteresse geht die vorliegende Arbeit von folgender Fragestellung aus: Unter welchen Bedingungen stellt Achtsamkeitsförderung in der Schule ein wirkungsvolles, pädagogisch tragfähiges Konzept dar? Durch den Zusatz Achtsamkeit zwischen Beschleunigungstendenzen und Persönlichkeitsentwicklung: Eine erziehungswissenschaftliche Analyse schulischer Achtsamkeitsförderung am Beispiel des Curriculums AISCHU wird die Thematik zusätzlich vor einem gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet.

Mit Bezug auf das erläuterte Erkenntnisinteresse wird wie im Folgenden dargestellt vorgegangen. Im zweiten Kapitel werden zunächst einige gesellschaftsbezeichnende Gegenwartsdiagnosen vorgestellt. Auf dieser Grundlage kann dann nachvollzogen werden, welche gesellschaftlichen Entwicklungen zu einem Bedarf nach Achtsamkeit führen. Dabei gilt jenen Gegenwartsdiagnosen besondere Aufmerksamkeit, die als pädagogisch relevant erkennbar sind13. Dadurch soll auch beantwortet werden, ob und warum ein Bedarf nach Achtsamkeit bestehen könnte. Das dritte Kapitel widmet sich den Lebensaltern Kindheit und Jugend und erarbeitet, mit Bezug auf das Konzept der Entwicklungsaufgaben und eine Theorie der Persönlichkeitsentwicklung, grundlegende Merkmale der für die Beantwortung der Fragestellung relevanten Adressat*innen. Im vierten Kapitel erfolgt eine Darstellung aktueller Kindheits- und Jugendstudien sowie deren Ergebnisse in Bezug auf das Wohlbefinden und den Gesundheitsstatus der besagten Personengruppe. Eine differenzierte Erörterung des Achtsamkeitsbegriffs erfolgt schließlich im fünften Kapitel. Unter Berücksichtigung verschiedener Fachrichtungen (Religion, Medizin, Psychologie, Pädagogik) wird der Begriff der Achtsamkeit definiert und seine kontextbedingte Relevanz aufgezeigt. Um die Entwicklung einer ursprünglich spirituellen Haltung aus dem Buddhismus hin zu einem sowohl medizinisch, psychologisch und pädagogisch relevanten Begriff nachvollziehen zu können, wird der Ist-Stand, der sich durch ein großes Angebot achtsamkeitsfokussierender Interventionen und Programme im pädagogischen Bereich auszeichnet als Ausgangspunkt genommen, um den begriffstheoretischen Entwicklungsprozess des Achtsamkeitsphänomens systematisch nachvollziehen zu können. Im Rahmen des sechsten Kapitels wird das Programm zur Achtsamkeitsförderung in der Schule (AISCHU) nach Kaltwasser (2008, 2016) vorgestellt. Dazu gehört zunächst die Benennung der Zielsetzung und der Zielgruppe des Programms. Anschließend werden der inhaltliche Aufbau und die Funktionsweise der im Zuge des Programms eingesetzten Übungen erläutert. Nachdem das AISCHU-Programm vorgestellt wurde, widmet sich das siebte Kapitel der Erörterung der Schule, um auch das Setting, in welchem die Achtsamkeitsförderung stattfinden soll später in die Analyse des Programms mit einbeziehen zu können. Im achten Kapitel wird der Achtsamkeitsbegriff in der Wirksamkeitsforschung thematisiert. Im Anschluss daran werden im neunten Kapitel zwei die Wirksamkeit des AISCHU-Programms evaluierende Studien präsentiert. Im zehnten Kapitel schließlich erfolgt eine Wirksamkeitsanalyse von AISCHU, welche sich aus drei Teilen zusammensetzt: 1. Forschungstheoretische Studienbetrachtung, 2. Gegenüberstellung ausgewählter Wirksamkeitsannahmen, 3. Ermittlung pädagogischer Begründbarkeit. Daraufhin können unter Rückbezug auf die vorangegangenen Kapitel Bedingungen für eine pädagogisch tragfähige und wirkungsvolle Achtsamkeitsförderung formuliert werden, wodurch im elften Kapitel die Forschungsfrage abschließend beantwortet werden kann.

2 Gegenwartsdiagnosen

Im folgenden Kapitel werden Gegenwartsdiagnosen14 vorgestellt, deren Theorien einen für aktuell zu beobachtende soziale Prozesse relevanten Bezug aufweisen.15 Es wurden jene Gegenwartsdiagnosen ausgewählt, die für eine Überprüfung des möglicherweise bestehenden Achtsamkeitsbedarfs herangezogen werden können. Durch diesen ersten Arbeitsschritt sollen folglich erstens die wesentlichen Merkmale der ausgesuchten Gesellschaftstheorien erfasst werden. Zweitens soll eruiert werden, ob eine potenzielle Bedürftigkeit nach Achtsamkeit aus den gesellschaftstheoretischen Gegenwartsdiagnosen abgeleitet werden kann. Dieser Schritt spielt auch im letzten Teil der Arbeit eine Rolle, wenn es zu begründen gilt, ob Achtsamkeitsförderung im pädagogischen Setting am Beispiel der Schule überhaupt diesem Bedürfnis adäquat begegnen kann.

An dieser Stelle wird zunächst zur Auswahl der im folgenden beschriebenen Gesellschaftsdiagnosen Stellung bezogen. Sowohl innerhalb der Theorie der Risikogesellschaft, als auch in den Ausführungen über die Multioptionsgesellschaft und die Beschleunigungsgesellschaft werden im Zuge der jeweils vorgenommenen Gesellschaftsanalysen Perspektiven und Gesichtspunkte benannt, die sich ebenfalls in Diskursen über den Bedarf an Achtsamkeit wiederfinden lassen. Dabei spielt vor allem der Hinweis auf, allen drei Theorien innewohnende, pathologische Bedingungen moderner Lebensführung eine übergeordnete Rolle. Die Identifizierung einer erschöpften und potenziell morbiden Gesellschaftsstruktur bildet auch im pädagogischen Achtsamkeitsdiskurs eine Begründungsgrundlage in der Auseinan­dersetzung mit dem Ansatz16 (vgl. Zenner 2016, S. 1 f.). Elsholz und Keuffer gehen von der gesellschaftlichen Beschleunigung als Grund für Zerstreuungstendenzen auf individueller Ebene sowie einer daraus resultierenden Überregulation und Überreiztheit aus. Dieser führe Ihnen zufolge zu einer Zunahme von Stresssymptomen. So sprechen sie von „[…] Beschleunigung […] und […] Zunahme von Stress zugunsten eines ökonomischen Takts […]“ (Elsholz/Keuffer 2015, S. 150) (vgl. Elsholz/Keuffer 2012, S. 150). Nach Schlack sei von einer „[…] ‚neuen Morbidität‘ […]“ (Schlack 2004, o.S. zitiert nach Zenner 2016, S. 1, Herv. im Orig.) die Rede. Gemeint ist die Entwicklung der Krankheitsschwerpunkte hin zu vermehrt chronifiziert verlaufenden und psycho-sozial bedingten Erkrankungen (vgl. Zenner 2016, S. 1).

Der erste Gliederungspunkt widmet sich der Risikogesellschaft nach Beck. Im darauf folgenden Gliederungspunkt wird die Multioptionsgesellschaft nach Gross vorgestellt. Im dritten Unterkapitel schließlich wird die Beschleunigungsgesellschaft nach Rosa erörtert.

2.1 Risikogesellschaft (nach Beck)

Die erste Gesellschaftstheorie, auf die im Folgenden eingegangen wird, ist die Theorie über die Risikogesellschaft nach Beck aus dem Jahr 1986. Im Rahmen der Theorie setzt sich Beck mit Thesen über die Gestaltung von modernen Sozialstrukturen auseinander. Beck geht davon aus, dass sich im Zuge der Modernisierung neue gesellschaftliche Probleme und Krisen entwickeln. Diese sieht er durch den Modernisierungsprozess selbst herbeigeführt (vgl. Dimbath 2016, S. 205, 207). Entsprechend differenziert Beck zwischen zwei Abschnitten des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Dazu zählt er die so genannte „[…] Erste[…] Moderne […]“ und die „[…] Zweite Moderne […]“ (Volkmann 2000, S. 24, Ausl. T.R.). Zur Ersten Moderne zählt nach Beck der Entwicklungsprozess von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Risikogesellschaft entstünde nach Beck als Folge einer sich im Modernisierungsprozess befindenden Industriegesellschaft. Die Zweite Moderne beschreibt somit den Entfaltungsprozess einer reflexiv werdenden und gewordenen Gesellschaft, die als Weiterentwicklung der Ersten Moderne verstanden werden kann. Dieser Modernisierungsabschnitt sehe sich gegenübergestellt mit den Folgen und u.a. problematischen Nebenfolgen der eigenen Modernisierung. Dieser Theoriebeschreibung einer risikobehafteten und sich ihrer selbst hergestellten Risiken bewussten Gesellschaft, wohnt laut Beck ein unbeabsichtigter Charakter inne. So sei die von ihm beschriebene negativ behaftete Entwicklungsdynamik nicht willentlich herbeigeführt, sondern verdeckt und unbeherrscht als Nebenprodukt der Entwicklung entstanden (vgl. Volkmann 2000, S. 24). Das Risikohafte der besagten Risikogesellschaft besteht in nicht naturbedingten Ereignissen, sondern in ungewollten Folgeerscheinungen einer gewollten Entwicklung. Beispielhaft für diese durch die Modernisierung selbst herbeigeführten Risiken können „[…] Gesundheitsrisiken, Arbeitslosigkeit oder Hunger […]“ (Volkmann 2000, S. 26) angeführt werden (vgl. Volkmann 2000, S. 26). Hinzu kommen ökologische Krisen (Folgen der Umweltverschmutzung) durch technologisch und zivilisatorisch bedingte Eingriffe in die Natur (vgl. Pongs 1999, S. 51). Damit markiert sich bereits ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Abschnitten. In der nach Beck sogenannten Ersten Moderne besteht die zentrale Aufgabe in der Reichtumsverteilung. In der Zweiten bzw. reflexiven Moderne besteht die Aufgabe in der Risikoverteilung: Von den durch Modernisierung entstandenen Risiken sind alle Menschen in relativer Schicht- und Wohlstandsunabhängigkeit betroffen (vgl. Volkmann 2000, S. 26). Mit Bezug auf Beck, habe sich Dimbath zufolge in der Zweiten Moderne der Wohlstand schichtübergreifend erhöht. Soziale Entwicklungen würden demzufolge stärker durch die Entstehung modernisierungsbedingter Risiken, als beispielsweise durch wissenschaftlichen Fortschritt beeinflusst. Auswirkungen hätten die durch die Modernisierung entstehenden Risiken nach Dimbath nicht nur auf die Menschheit sondern auch auf die Tier- und Pflanzenwelt. Die Zuordnung von Verantwortlichen oder Verursacher*innen sei generell schwierig, was die Risiken zur Verantwortung und gleichzeitig zum Problem für die gesamte Menschheit werden lässt. Nicht nur auf globaler und nationaler Ebene, sondern auch innerfamiliär seien Teile der risikohaften Auswirkungen der Modernisierung erkennbar. So ginge im Zuge der Zweiten Moderne mit einer Abkehr von geschlechterkonservativen Rollenverteilungen beispielsweise auch eine wachsende Unabhängigkeit der Frauen gegenüber ihren Männern einher. Im Zuge einer Modernisierung der Arbeit seien Frauen vermehrt berufstätig. Dies könne wiederum u.a. in einem Zusammenhang zu einer Zunahme von Trennungen und Scheidungen betrachtet werden, was auf familiärer Ebene eine strukturelle Inkonsistenz bewirke und als weitere Nebenfolge der Modernisierung dargestellt werden kann (vgl. Dimbath 2016, S. 205 ff.).

Hinsichtlich der denkbaren Auswirkungen der Risikogesellschaft auf die Gesellschaft lassen sich soziologisch verschiedene Annahmen benennen. Nach Dimbath liegt die zentrale Problematik bei der Theorie der Risikogesellschaft darin, dass die Modernisierung sich selbst behindere. Dies treffe insofern zu, als dass sich mit jedem modernisierungsbedingten Fortschritt ungewollte, rückschrittige und destabilisierende Nebenwirkungen einstellen würden. Dimbath schreibt: „Damit verbunden ist, dass den Menschen alle möglichen Gewissheiten und Planungssicherheiten abhandenkommen, auf die sie sich verlassen zu können glaubten. Sie werden aus ihren institutionellen Ordnungen freigesetzt und gezwungen, sich neu zu orientieren.“ (Dimbath 2016, S. 207). In dieser Aussage inbegriffen ist das Erkennen über einen Verlust an orientierungs- und sicherheitsspendenden Strukturen (vgl. Dimbath 2016, S. 207). Bogner nennt dies die Auflösung von Normen und Standards hinsichtlich der Gestaltung von Biografieverläufen (vgl. Bogner 2015, S. 90). Der Autor verweist hier auf den sich im Zuge der sozialen Freisetzung einstellenden Prozess der „[…] Individualisierung […]“ (Dimbath 2016, S. 274). Der Begriff beschreibt eine Form der Isolierung bzw. Loslösung von Personen aus gewohnten Strukturen, die sich u.a. im Zuge von Prozessen der Modernisierung ereignet (vgl. Dimbath 2016, S. 274). Der Individualisierungsprozess kann mit Bezug auf Schroer in dreifacher Weise interpretiert werden. Zum einen kann Individualisierung eine befreiende Wirkung haben, da sie das Ausklammern aus den als möglicherweise hemmend und beschränkend empfundenen sozialen Gruppen und Strukturen ermöglicht. Somit wird das Individuum in eine Position größerer Freiheit und Selbstbestimmtheit versetzt (vgl. Dimbath 2016, S. 274 f.). Eine weitere Interpretationsmöglichkeit des Individualisierungsprozesses bezieht sich darauf, dass Personen im Zuge dieses Prozesses an Einmaligkeit und Besonderheit verlieren. In der Folge führe Individualisierung nach dieser Auslegung zu Unmündigkeit und Souveränitätsverlust. Auch würde das Subjekt immer weniger selbstbestimmt agieren und sich konform zu geltenden Konventionen und bürokratischen Strukturen verhalten. Diese zweite eher negativ konnotierte Auslegung der Individualisierung spiegelt somit ein, im Vergleich zur ersten Interpretationsvariante, komplett entgegengesetztes Bild wider. Statt eines Zugewinns an Freiheiten, beschreibt die zweite Auslegung einen durch Individualisierung drohenden Freiheitsverlust (vgl. Dimbath 2016, S. 275 f.). Die dritte Auslegungsmöglichkeit des Individualisierungs­prozesses ist ergänzend zur positiven und zur negativen Variante als diskrepant einzustufen. In dieser Variante verbinden sich die Aussichten auf Freiheit und Einsamkeit zu einer nicht abschätzbaren Ambivalenz, mit der sich das Individuum konfrontiert sehe. An dieser Stelle nimmt Dimbath ganz explizit auf ein als ambivalent deklariertes Individualisierungsverständnis nach Beck Bezug. Die bereits im Verlauf des Textes beschriebene Ablösung aus sozialen Strukturen und Orientierungsrahmen, welche sich im Zuge einer Entwicklung zur Risikogesellschaft ergibt, führt nach Beck zu einem Verlust an Sicherheit und Orientierung. Auf diesen Zustand folgt eine Wiedereinbindung in andere, neue soziale Strukturen und Ordnungen. Das Erleben von Ablösung, Vereinzelung und Wiedereinbindung wird von Mensch zu Mensch unterschiedlich erlebt und bewertet. Übergeordnet ist lediglich, dass den Einzelnen in verstärktem Maße Eigeninitiative, Selbststeuerungsfähigkeit und Entscheidungsleistung abverlangt werden (vgl. Dimbath 2016, S. 276 ff.). Mit Bezug auf Beck zeichne sich laut Pongs Individualisierung dadurch aus, „[…] daß [sic!] das Individuum aus den vormals ‚traditionell festgeschriebenen Lebenszusammenhängen freigesetzt wird‘ und sich ungeahnten Freiheits- und Entfaltungsmöglichkeiten eigenverantwortlicher Lebensgestaltung gegenübersieht.“ (Pongs 1999, S. 52). Durch die Ablösung aus den sozialen Strukturen liegt die Verantwortlichkeit für Entscheidungen und Handlungen nun allein beim Individuum. Dieses neue, durch gesellschaftliche Entwicklungen hervorgebrachte, Anforderungsprofil werde damit zur Herausforderung. Die Herausforderung wiederum werde zur potenziellen Überforderung hinsichtlich einer individualisiert zu bestimmenden Biografiegestaltung (vgl. Pongs 1999, S. 52). Mit Bezug auf die Theorie der Risikogesellschaft spricht Bogner in diesem Zusammenhang von einer in Folge der Individualisierung risikobehafteten Biografie und meint damit, dass Ordnung und Struktur als den Lebenslauf bestimmende Prinzipien nur noch zeitlich begrenzt erfahrbar seien. (Bogner 2015, S. 92). Zusammenfassend bringt Bogner die damit verbundenen Auswirkungen auf die Individuen wie folgt auf den Punkt: „Für die in ihrer Lebensgestaltung auf sich selbst zurückgeworfenen Einzelnen heißt Individualisierung vor allem: mehr Freiheit und mehr Stress.“ (Bogner 2015, S. 93). (vgl. Bogner 2015, S. 92 f.). Nach Bogner kann neben dem unterschiedlich zu interpretierenden Individualisierungsprozess, der Aspekt der Selbstgefährdung als wesentliches Merkmal der Theorie der Risikogesellschaft hervorgehoben werden (vgl. Bogner 2015, S. 87). Darin ist nicht nur die Gefährdung einer Gesellschaft als Ganzes sondern auch die Gefährdung der einzelnen Individuen enthalten. Diese Risiken zeigen sich u.a. in einer Neuorganisation bestehender rahmengebender Strukturen (z.B. Gestaltung von Beziehungen (Partnerschaft, Familie) oder Status der Berufstätigkeit) (vgl. Bogner 2015, S. 90). Zudem ist die reflexive Moderne durch vielfältige Auflösungsprozesse geprägt. Diese Prozesse wirken auf allen Ebenen des Lebens entgrenzend (z.B. Arbeits- und Privatleben, Arbeits- und Freizeit) und stellen bestehende Strukturen infrage. Durch die sich dadurch bereichsübergreifend einstellende Inkonsistenz entwickeln sich die Modernisierungsrisiken zu einer Krise (vgl. Bogner 2015, S. 99 ff.).

Beck sieht die Lösung dieser Krise in einem sich durch die Individuen anzuverwandelnden Mobilisierungsprozess. In diesem Zusammenhang appelliert Beck an die gesellschaftlichen Akteur*innen, sich ihrer durch die Modernisierung gewonnenen Mittel zur gesellschaftlichen Gestaltung und Partizipation aktiv zu bedienen. Diese Forderung verbindet Beck insbesondere mit einer gestaltungsbezogenen Bemächtigung in den Bereichen Wissenschaft und Politik. Durch die Förderung entsprechender bereichsbezogener Kompetenzen mache sich das Individuum in diesen Bereichen selbst kompetent und damit handlungs- und gestaltungsfähig. Vollkmann spricht in diesem Zusammenhang von „[…] einer Entdifferenzierung […]“ (Vollkmann 2000, S. 36, Herv. im Orig.) und beschreibt damit Becks Vorschlag über einen fachübergreifenden Austausch zur Erarbeitung von Maßnahmen zur Risikobewältigung (vgl. Volkmann 2000, S. 36-40).

Im nachfolgenden Gliederungspunkt wird die Theorie der Multioptionsgesellschaft vorgestellt und entsprechend der theoretischen Herleitung Annahmen über mögliche Auswirkungen dieser Gesellschaftstheorie auf die Individuen dargelegt.

2.2 Multioptionsgesellschaft (nach Gross)

Die dritte zeitdiagnostische Theorie ist die der „[…] Multioptionsgesellschaft“ (Dimbath 2016, S. 215) nach Gross aus dem Jahr 1994. Gemäß Gross ist die Gesellschaft der Moderne geprägt durch die ständige Konfrontation mit Gestaltungsfreiheiten. Damit besteht die Gesellschaftsstruktur ihm zufolge zum einen aus einer Befreiung einstmalig (im Zeitalter der Industrialisierung) bestehender und als beschränkend erlebter Konformitäten und Erwartungen. Zum anderen führe diese Befreiung zu einer Möglichkeitserweiterung hinsichtlich fortwährend bestehender Formen alternativer Lebensgestaltung (vgl. Dimbath 2016, S. 215 f.). Abels zitiert in diesem Bezug Gross, indem er schreibt: „Was uns antreibt, ‚ist ein tief in die modernen Gesellschaften eingemeißelter und ins Herz des modernen Menschen implantierter Wille zur Steigerung, zum Vorwärts, zum Mehr. Auf dem Drang nach Mehr gründet die Moderne.‘“ (Gross 1994, S. 11 zitiert nach Abels 2000, S. 92, Herv. im Orig.).

In der Folge seien Individuen somit befähigt und gefordert eigene Entscheidungsleistungen beinahe immer und überall zu erbringen. Dabei sehen sie sich mit einer beinahe unüberschaubaren Optionenvielfalt konfrontiert. Dies markiert zugleich den positiven und auch den kritisierbaren Aspekt dieser Entwicklung. Die Vielfalt der Optionen ist einerseits Ausdruck gesellschaftlichen Erfolgs, wobei der Erfolg in der Errungenschaft einer größeren individuellen Gestaltungsfreiheit besteht. Andererseits birgt die Steigerung von wählbaren Optionen auch den als herausfordernd erlebten Aspekt der gesteigerten Verantwortung. Das bedeutet: Obgleich die Optionenfülle neue Freiräume und Freiheiten eröffnet, wird durch diesen Zustand die Furcht vor einer falschen Entscheidung geschürt. Eine mögliche Folgewirkung dieser Entwicklung beschreibt Dimbath mit Bezug auf Gross anhand verschiedener Reaktionsmuster der Individuen. Zum einen manifestiere sich der Entscheidungsdruck in Form einer auf Subjektebene erfolgenden, untätigen Erstarrung und Prokrastination. Damit gemeint ist, dass Entscheidungen entweder unter Einschränkung optionaler Revidierbarkeit oder auch gar nicht getroffen werden. Zum anderen könne es auch zu einer Eliminierung vorhandener Optionen oder auch zu einer sinnbildlichen Flucht vor Entscheidungen kommen. Gross prägt in diesem Zusammenhang den Begriff „[…] ‘Realisierungsdruck‘“ (Dimbath 2016, S. 217). Entsprechend dieser Darlegungen übt Gross Kritik an der, diesen Entwicklungen ursächlich zugrunde liegenden, gesellschaftlichen Fortschrittsmentalität. Dimbath formuliert dies wie folgt: „Man sieht nur das was man versäumt hat, oder verpassen wird […]. Ausstiegsmöglichkeiten bestünden nur in individuellen Einstellungs- oder Verhaltensänderungen. So bleibe es dem Individuum überlassen, ob es immer weiter und immer höher strebt, oder ob es sich angewöhne auch einmal im Hier und Jetzt zu verweilen.“ (Dimbath 2016, S. 217) (vgl. Dimbath 2016, S. 216 f.). Abels verweist auf Gross‘ Formulierung, wonach es sich bei der Überwindung dieser Differenz zwischen Ist-Stand und Kann-Szenario um ein fortwährend angestrengtes Bemühen des Strebens handle (vgl. Abels 2000, S. 92). Letztlich habe der Mensch sich diesen Zustand höchster Freiheit, welcher gleichermaßen höchste Verantwortbarkeit bedeute, im Zuge der Modernisierung selbst errungen (vgl. Abels 2000, S. 96 f.). Ebenso wie Beck durch seine Beschreibung der Folgen der Risikogesellschaft, identifiziert Gross die Entwicklung der Individualisierung als eine Folgewirkung der Multioptionsgesellschaft. Mit Bezug auf Beck konzentriert sich Gross vor allem auf die Dimensionen der Vereinzelung der Individuen und der Entkopplung rahmengebender Strukturordnungen, die einen für diesen Veränderungsprozess maßgeblichen Sicherheitsverlust zur Folge hätten (vgl. Abels 2000, S. 98). Gross schreibt der Multioptionsgesellschaft aufgrund der Zerrissenheit zwischen Selbstverwirklichung in Form eines fortwährenden Drangs nach der Ausschöpfung von Möglichkeiten und dem Zustand der Individualisierung schließlich die Hervorbringung von Leid zu (vgl. Abels 2000, S. 100 f.).

Zur Lösung dieses Zustand schlägt Gross vor, die Differenz zu akzeptieren, hinzunehmen und eben diesen Zustand auszuhalten (vgl. Abels 2000, S. 94). Abel bringt diesen Gedanken von Gross auf den Punkt, wenn er schreibt, dass die menschliche Akzeptanz einer scheinbar nicht zu überwindenden Differenz die eigentliche Überwindung der Moderne – also das Erreichen einer postmodernen Gesellschaftsform – bedeuten könne. Eng orientiert an Gross‘ Worten schließt er mit den Sätzen: „Der Ausweg heißt: ‚die Akzeptanz von Differenzen, zwischen Menschen, Lebensstilen, Gesellschaften, Kulturen, Kontinenten und -vor allem- Wirklichkeit und Möglichkeit.‘“ (Gross 1994, S. 363 zitiert nach Abels 2000, S. 105, Herv. im Orig.) (vgl. Abels 2000, S. 105).

Im nächsten Gliederungspunkt wird auf die Theorie der beschleunigten Gesellschaft nach Rosa eingegangen. Dafür werden erneut die Grundidee der Theorie vorgestellt sowie im Anschluss mögliche Auswirkungen auf die Gesellschaft herausgearbeitet.

2.3 Beschleunigungsgesellschaft (nach Rosa)

Die „[…] Beschleunigungsgesellschaft[…] […]“ (Rosa 2013, S. 18, Ausl. T.R.) (bzw. die beschleunigte Gesellschaft) nach Rosa aus dem Jahr 2013 ist ein Begriff, der eine für die Moderne charakteristische und demnach strukturgebende Eigenschaft beschreibt: Das Verhältnis zur Kategorie der Zeit. Rosa greift damit ein in der Soziologie bereits vielfach beschriebenes Thema, den Wandel modernen Zeitempfindens, auf und erarbeitet darauf aufbauend eine eigene Theorie „[…] sozialer Beschleunigung“ (Rosa 2013, S. 17) (vgl. Rosa 2013, S. 15 f.). Nach Rosa kann die Beschleunigungstheorie anhand von drei wesentlichen Formen der Beschleunigung nachvollzogen werden. Zum ersten nennt er die „Technische Beschleunigung“ (Rosa 2013, S. 20). Diese zeichne sich dadurch aus, dass verschiedene Prozessabläufe (Rosa nennt hier beispielhaft Transport, Kommunikation, Produktion sowie Verwaltungs- und Organisationsakte) effizienter gestaltet und im Zuge dessen gezielt beschleunigt würden. Rosa stellt die These auf, dass sich die Beschleunigungsformen jeweils auch auf die sozialen gesellschaftlichen Prozesse auswirken. So habe sich im Zuge der technischen Beschleunigung das Verhältnis zu zeitlichen Abschnitten und Distanzen verändert. Moderne Kommunikationstechnologien wie beispielsweise das Internet hätten durch ihre räumlich ungebundene Verfüg­barkeit die einst gekannten Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben. Auch die bereits angeführten beschleunigten Technologien des Transports ermöglichen die im Vergleich zu früheren Zeitaltern schnellere Überwindung von Distanzen. Die Folge dieser Entwicklung beschreibt Rosa als einen Bezugsverlust zur Räumlichkeit und zur Zeitlichkeit. Einst gekannte Verhältnismäßigkeiten würden aufgehoben. Raum und Zeit seien durch die technische Beschleunigung somit keine strukturierenden und orientierenden Komponenten mehr (vgl. Rosa 2013, S. 20 f.). Zum zweiten nennt Rosa „Die Beschleunigung des sozialen Wandels“ (Rosa 2013, S. 22). Auch diese Beschleunigungsform ist geprägt durch das Wegfallen von Orientierungsstrukturen. Genauer beschreibt die Beschleunigung des Sozialen Wandels eine sich immer schneller und häufiger verändernde Struktur sozialen Lebens. Dazu gehören nicht nur Formen des Zusammenlebens und der Beziehungsgestaltung. Auch die Beständigkeit und Gültigkeit von Wissensbeständen und gesellschaftlich akzeptierten Normen- und Wertvorstellungen verändern sich in stärker frequentierten Abfolgen. Für Rosa besteht die Folge dieser Entwicklung in einer Verkürzung der Gegenwart. Anhand des Grades der Verkürzung der Gegenwart könne die Beschleunigung des sozialen Wandels sichtbar bzw. erfassbar gemacht werden. Die Relevanz und die Tragweite dieser Gegenwartsverkürzung hebt Rosa durch das folgende Zitat hervor: „Nur innerhalb dieser Zeiträume [der Gegenwart] können wir uns auf gemachte Erfahrungen beziehen, um uns in unserem Handeln zu orientieren und aus der Vergangenheit Schlüsse zu ziehen.“ (Rosa 2013, S. 23, Anm. T.R.). Verdeutlichend fügt er hinzu, dass die Gegenwart die einzige Zeit darstelle, die wirklich verfügbar sei und damit „[…] eine relative Orientierungs-, Bewertungs-, und Erwartungssicherheit“ (Rosa 2013, S. 23) bereit hielte. Im Umkehrschluss bedeute die soziale Beschleunigung die wachsende Unverfügbarkeit der Gegenwart. Diese Entwicklung führe zu einem erfahrungs- und erwartungsbezogenen Gültigkeitsverlust (vgl. Rosa 2013, S. 22-24). Beständigkeit sei somit ein schwindender, das soziale gesellschaftliche Leben beeinflussender Aspekt im Rahmen sozialer Beschleunigung. In dieser Feststellung erkennt Rosa Parallelen zu anderen Gegenwartsdiagnosen, wie u.a. der Risikogesellschaft nach Beck (vgl. Rosa 2013, S. 26). Diese wurde bereits im vorangegangenen Gliederungspunkt dargestellt.

Zum dritten nennt Rosa „Die Beschleunigung des Lebenstempos“ (Rosa 2013, S. 26). Gemeint ist das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben. Verbunden sei damit die Tendenz, Zeit zu verdinglichen bzw. die Zeit als zu verbrauchenden Gegenstand zu betrachten und das Bedürfnis gut mit dieser Zeit zu haushalten. Ein beschleunigtes Lebenstempo zeichne sich Rosa zufolge dadurch aus, dass sich die Anzahl der Tätigkeiten und Erlebnisse bei gleichbleibendem zeitlichen Aufwand erhöhe. Als Folge dieses, die Beschleunigung auszeichnenden, Aspekts identifiziert Rosa ein verändertes Zeitempfinden. Dazu gehörten beispielsweise Wahrnehmungen wie Stress, zeitlicher Druck und damit verbunden das Gefühl mit der Geschwindigkeit des Lebens nicht mithalten zu können. Abschließend beschreibt Rosa das paradoxe Verhältnis zwischen technischer Beschleunigung und der Beschleunigung des Lebenstempos. Dieses Paradox bestehe darin, dass durch die Zeitersparnis, welche durch die technische Beschleunigung zu erwarten sei, tatsächlich kein Zeitgewinn für andere Tätigkeiten erfolge. Vielmehr würde die nun zusätzlich zur Verfügung stehende Zeit mit einer sich steigernden Anzahl von Tätigkeiten verbracht. Im Umkehrschluss, würden die Abläufe im technologischen Bereich schneller. Die konkret zur Verfügung stehende Zeit würde jedoch weniger (vgl. Rosa 2013, S. 26-33).

Rosa stellt mit Bezug zu seiner Theorie über die Beschleunigungsgesellschaft verschiedene Thesen darüber auf, welche Auswirkungen der Beschleunigungstrend auf die Gesellschaft und die darin lebenden Individuen haben könnte.

Zentral ist seine Annahme über die Beeinflussung der Beziehung zwischen den Individuen und ihrer (Um-)Welt. Die Beschleunigung verändere diese Beziehung, indem sie die Erfahrung von Raum und Zeit verändere (vgl. Rosa 2013, S. 66). Diese Annahme kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Die sozialen Akteure erfahren ihr individuelles und politisches Leben als flüchtig und richtungslos, also als Zustand rasenden Stillstands.“ (Rosa 2013, S. 64 f.). Diese Dynamiken können nach Rosa pathogene Auswirkungen, beispielsweise durch die Entwicklung von sozial relevanten Störungsbildern, auf die Individuen haben (vgl. Rosa 2013, S. 66). Weiter führt er die Entwicklung von körperlichen und psychischen Reaktionen auf eine durch die Beschleunigung hervorgerufene Überforderung zurück. Beispielhaft verweist er auf Auffassungen anderer Autor*innen, die die Diagnosesteigerung von Depressions- und Burnout-Erkrankungen in einen Zusammenhang mit der sozialen Beschleunigung bringen. Ergänzend merkt er jedoch an, dass Verknüpfungen dieser Art zu differenzieren seien. Die Fähigkeit zur Anpassung an eine sich wandelnde Umwelt sowie die Bewältigung sich dadurch verändernder Anforderungen sei dem Menschen immanent. Aus diesem Grund könne der Zusammenhang zwischen einer als zunehmend belastet empfundenen Gesellschaft und der Beschleunigung dieser Gesellschaft nicht zweifelsfrei angenommen werden (vgl. Rosa 2013, S. 100 f.). Abschließend schlussfolgert Rosa dennoch einlenkend, dass sich die Beschleunigung möglicherweise störungsfördernd auf die Gesellschaft auswirke (vgl. Rosa 2013, S. 106). Im Zuge seiner Kritik am Prozess der sozialen Beschleunigung gelangt Rosa zu der Auffassung, dass die Beschleunigungsdynamik in einen Zustand „[…] der Entfremdung […]“ (Rosa 2013, S. 123) münde. Entfremdung bedeutet für Rosa eine Erschütterung des Verhältnisses zwischen dem Subjekt bzw. dem Individuum und dessen Umwelt. Rosa spricht hier vom sogenannten „[…] Selbst-Welt-Verhältnis […]“ (Rosa 2013, S. 123) und einer durch das Individuum erfahrenen Irritation des […] ‚in-die-Welt-gestellt‘ [-seins] […]“ (Rosa 2013, S. 123, Anm. T.R., Herv. im Orig.) (vgl. Rosa 2013, S. 122 f.). Damit gemeint ist ein wachsendes Diskrepanzerleben zwischen den Plänen und Hoffnungen, die sich das Subjekt im alltäglichen Leben auferlegt und jenen Plänen, die dem ursprünglichen Vorhaben zur Lebensgestaltung entsprechen. Nach dieser Auffassung bedeutet Entfremdung zudem der Verlust von Integritäts- und Sinnempfinden hinsichtlich der eigenen Lebensführung (vgl. Rosa 2013, S. 146). Am eindrücklichsten kann diese Entfremdung am Beispiel der Form von Entfremdung, welche das Subjekt sich selbst gegenüber verspürt, beschrieben werden. Diese „Selbstentfremdung […]“ (Rosa 2013, S. 141) ist das Resultat eines gestörten bzw. aus dem Gleichgewicht geratenen Selbst-Welt-Verhältnisses. Dieses Verhältnis zur Welt, zu den Dingen, dem Erleben und dem Handeln sind die identitätsstiftenden Aspekte des Lebens. Ohne diesen Bezug gerät das Individuum aus seinem Zusammenhang mit der Welt. Rosa verweist in diesem Kontext auf Ehrenberg17, der in dieser Argumentation die Begründung für das sogenannte „[…] ‚erschöpfte Selbst‘ […]“ (Rosa 2013, S. 141, Herv. im Orig.) sieht. Wiederholt tritt auch an diese Stelle die Annahme über die Entwicklung eines depressiven Subjekts. Rosa formuliert abschließend: „Wenn unsere Identität geformt wird über das, woran uns etwas liegt oder worum wir uns sorgen […], dann wird die Unsicherheit über das, was uns wichtig ist, und der Verlust einer stabilen und Orientierung stiftenden Relevanzhierarchie notwendig zu einer Gefährdung oder Störung unsere Selbstverhältnisses führen.“ (Rosa 2013, S. 141, Herv. im Orig.) (vgl. Rosa 2013, S. 141 ff.).

Nach Rosa bedürfe das Subjekt wieder vermehrter Resonanzerfahrungen, um den Zustand der Entfremdung zu überwinden. Resonanz bilde dabei das Gegenstück zur Entfremdung (vgl. Rosa 2016, S. 306). Nach Rosa wird Resonanz definiert „[…] als ein[…] spezifisch[er] Beziehungsmodus, das heißt eine spezifische Art des Auf-die-Welt-Bezogenseins, welche diese Welt als responsiv [in einem aufeinander bezogenen und antwortenden Widerhall befindend] erfährt […]“ (Rosa 2016, S. 289, Herv. im Orig., Anm. T.R.) (vgl. Rosa 2016, S. 285, 289). Während Entfremdung den misslungenen Versuch der Verbindung mit der Welt darstellt (vgl. Rosa 2016, S. 316), bildet Resonanz den Modus der Bezogenheit auf die Welt (vgl. Rosa 2016, S. 298). Die von Resonanz geprägten Beziehungen stellen somit ein gelingendes Selbst-Welt-Verhältnis dar (vgl. Rosa 2016, S. 318).

Zusammenfassung des Kapitels Im vorangegangenen Kapitel wurden drei Gegenwartsdiagnosen mit aktuellem gesellschaftlichen Bezug vorgestellt. Dabei weisen die beschriebenen Theorien neben einigen perspektivischen Unterschieden vor allem Parallelen auf. Die Darstellung der genannten Theorien ermöglicht die Betrachtung von Gesellschaftsstrukturen und Sozialformationen, wie auch damit verbundene Wechselwirkungen mit einzelnen Akteur*innen einer Gesellschaft. Damit konnten die auf makrosoziologischer Ebene kritisch hinterfragenden Darlegungen um Analysen über die Folgen auf individueller Ebene ergänzt werden. Auf diese Weise wurde eine für die Pädagogik relevante Dimension gesellschaftlicher Wandlungsprozesse erarbeitet. Auf Grund der verschiedenen Ansätze konnte zudem ein multiperspektives Bild soziologischer Zeitdiagnostik nachgezeichnet werden.18

Anhand der Darstellung der Risikogesellschaft nach Beck wurde eine Theorie dargelegt, die von einer von zunehmender Unsicherheit geprägten Gesellschaft ausgeht. Diese Unsicherheit, die nach Beck eine durch die Gesellschaft selbst hervorgebrachte Nebenwirkung der Modernisierung ist, wirkt sich auf die Lebensgestaltung Einzelner aus. Durch einen sich im Rahmen der Modernisierung verschärfenden Individualismus wird das Individuum mehr und mehr herausgelöst aus sozialen Strukturen und Konformitäten, sodass es auf sich allein gestellt eine größer werdende Entscheidungs- und Verantwortungslast zu tragen hat. Dies mündet, den Thesen über die Risikogesellschaft folgend, potenziell in einer kollektive Überforderung gesellschaftlicher Akteur*innen.

Mittels der Präsentation, der von Gross geprägten Multioptionsgesellschaft konnten gegenwartsdiagnostische Gesichtspunkte in die Erörterung dieser Arbeit einbezogen werden, die eine ambivalente Zustandsbeschreibung moderner Lebensbedingungen liefern. Ähnlich wie bei Becks Risikogesellschaft verweist Gross auf die Individualisierung als Folgewirkung der Multioptionsgesellschaft. Damit verbunden sind ebenfalls die bereits benannten möglichen Folgewirkungen des Individuationsprozesses (Vereinzelung, Zuwachs an Verantwortung). Der Mensch in der Multioptionsgesellschaft sehe sich somit in einem Spannungsverhältnis befindend, welches geprägt sei durch Realisierungsdrang und Entscheidungsdruck. Durch die multiplen Optionen hinsichtlich der Lebensgestaltung werde somit auch die Verantwortung für individuelles Lebensglück stärker auf das Subjekt übertragen. Dieser Auslegung wird kontrastierend der Zugewinn individueller Freiheiten als positive Folgewirkungen der Multioptionsgesellschaft hinzugefügt.

Durch die Vorstellung der Beschleunigungsgesellschaft nach Rosa wurde eine Gesellschaftstheorie in die Ausführungen eingebracht, die sich ebenfalls mit der Erörterung möglicher Modernisierungsfolgen beschäftigt. Der Schwerpunkt dieser Gegenwartsdiagnose liegt auf der Komponente der Zeit und des sich verändernden Zeitempfindens. In dieser Dynamik sieht Rosa die Ursache für einen sich einstellenden Beziehungs- und Integritätsverlust zwischen Subjekt und Welt. Ähnlich wie die Individuation als Folge der Risikogesellschaft bei Beck führt auch der Beschleunigungsprozess nach Rosa zu einer potenziellen Entfremdung und schließlich einer psychischen Erschöpfung und Überforderung auf Subjektebene.

Alle drei vorgestellten Theorieentwürfe gehen von politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich produzierten sowie gesellschaftlich reproduzierten Entwicklungen im Zuge der Modernisierung aus. Diese Entwicklungen, so konnte gezeigt werden, rufen den Auslegungen zufolge im Wesentlichen Effekte morbider Art hervor, die auf individueller Ebene in Erscheinung treten. Dazu zählen mit Bezug auf die vorangegangenen Gliederungspunkte besonders Auswirkungen in Form von psychischem Druck und Überforderung, Stress oder allgemein Vereinzelungserscheinungen im Hinblick auf die gesellschaftliche Sozialformation (Individualisierung). Der Individualisierungsprozess befördert das Auseinanderbrechen von Orientierungswerten und identitätsstiftenden Sozialstrukturen. Die Beschleunigung des Lebens führt darüber hinaus zu Verhältnissen der Welt- und Selbstentfremdung. Diese rühren her von einem Verlust an Integritäts- und Kongruenzempfinden bezüglich der Lebensgestaltung. Als positive Auswirkungen konnten, ausgehend von den beschriebenen Analysen, ein Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmtheit hinsichtlich der individuellen Lebensgestaltung, eine Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands sowie wissenschaftlicher wie auch technischer Fortschritt identifiziert werden.

Die zu Beginn des Kapitels aufgeworfene Frage, ob sich Anhaltspunkte für eine Bedürftigkeit nach Achtsamkeit aus den vorgestellten Theorien ableiten lassen können, kann an dieser Stelle nicht sicher beantwortet werden. Auch die Frage, in wie weit die in den einzelnen Theorien vorgestellten Lösungsansätze durch die Kultivierung von Achtsamkeit zu bedienen sind, kann nicht abschließend geklärt werden. Ausführlicher kann dies nur unter vorheriger Festlegung einer für diesen Zusammenhang gültigen Definition von Achtsamkeit erörtert werden. Die begriffliche Einordnung des Achtsamkeitsansatzes wird im späteren Verlauf der Arbeit erfolgen. Ausgehend von den vorgestellten Thesen über die gegenwärtige Gestalt moderner Gesellschaften und den damit verbundenen Annahmen über mögliche Auswirkungen auf die Individuen, erscheint die Herleitung eines Achtsamkeitsbedarfs jedoch nachvollziehbar. Hinsichtlich der im vorangegangenen Kapitel vielfach beschriebenen Erschöpfungs- und Überforderungserscheinungen erscheint die Implementierung von Achtsamkeit als eine diesen Auswirkungen möglicherweise entgegenstehende, entschleunigende Kraft. Ob eine Gesellschaft, die einer größer werdenden Risikolast ausgesetzt ist, sich beständig mit multioptionalen Entscheidungsprozessen konfrontiert sieht und sich durch soziale Beschleunigung auszeichnet, aufgrund dieser Aspekte tatsächlich verunsichert, zerrissen und entfremdet ist, kann anhand der vorliegenden Erarbeitung ebenfalls in keinen zweifelsfreien Kausalzusammenhang gebracht werden.

In seinem Buch die „Modernisierung der Seele“ (Dornes 2012) beschäftigt sich Dornes u.a. mit der psychischen Vulnerabilität im Zusammenhang mit makrosoziologischen Entwicklungen (vgl. Dornes 2012, S. 343-349). Mit Verweis auf Habermas (der die Befreiung aus strukturierenden wenngleich auch bindenden Verhältnissen und einer damit zusammenhängenden lebensweltlichen Desintegration beschreibt) und Kaufmann (welcher im Kontrast dazu von einer besonders ausgeprägten Sicherheit und Vorhersehbarkeit moderner Lebensverhältnisse ausgeht)19 beschreibt Dornes verschiedene Perspektiven auf, durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse erzeugte, Einflusserscheinungen bei Individuen (vgl. Dornes 2012, S. 343, S. 345 f.). Dabei kommt er (auch in Bezug auf den Aspekt der Erziehung in der Moderne) zu einem ähnlichen Schluss wie die in diesem Kapitel vorgestellten Gegenwartsanalysen. Dornes zufolge sei die psychische Verfassung gesellschaftlicher Akteur*innen „[…] durch modernisierte Erziehungsmethoden20 und ein Leben in enttraditionalisierten Gesellschaften sowohl autonomer und freier als auch fragiler geworden […]“ (Dornes 2012, S. 349) (vgl. Dornes 2012, S. 349). Dornes zufolge könne jedoch nicht von einer zunehmenden Morbidität der Gesellschaft, weder im Erwachsenen- noch im Kindes- und Jugendalter gesprochen werden21.

Anknüpfend an die erarbeiteten Erkenntnisse des ersten Kapitels geht es im anschließenden Kapitel um die Lebensalter Kindheit und Jugend. Es werden die für die Lebensalter zentralen Entwicklungsaufgaben beschrieben. Dadurch kann der Stellenwert von psychischer Gesundheit und Wohlbefinden für die jeweiligen Lebensalter in ihrer Bedeutungsschwere für die Persönlichkeitsentwicklung weiter hervorgehoben werden. Im daran anschließenden Kapitel erfolgt die Vorstellung konkreter Belege zu Wohlbefinden und psychischer Gesundheit aus der Kindheits- und Jugendforschung. Das dritte Kapitel widmet sich dementsprechend zunächst der Vorstellung vier großer Studien aus diesem Bereich. Anhand dieser werden aktuelle Studienergebnisse über das Wohlbefinden sowie die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland dargelegt. Durch dieses Vorgehen, werden mit Bezug zum zweiten Kapitel, die zuvor präsentierten Gegenwartsdiagnosen hinsichtlich der beschriebenen Auswirkungen auf Individualebene geprüft. Somit kann durch einen damit beschriebenen kapitelübergreifenden Rückbezug sozialphilosophische Gesellschaftstheorie mit pädagogischer Praxisforschung verknüpft werden.

3 Lebensalter Kindheit und Jugend

Das folgende Kapitel widmet sich einer Betrachtung der Lebensalter Kindheit und Jugend. Das im späteren Verlauf der Arbeit zu analysierende Programm zur Förderung von Achtsamkeit in der Schule ist für Adressat*innen im Kindes- und Jugendalter konzipiert22. Für die Analyse des Programms ist demnach die Auseinandersetzung mit diesen Lebensphasen wichtig. Mit der Erörterung der entwicklungsbeeinflussenden Aufgaben, wird das Klientel des AISCHU-Programms im Hinblick auf die für die Lebensalter wichtigen Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung näher bestimmt.23 Durch die Kenntnis entwicklungsrelevanter Herausforderungen des Kindes- und Jugendalters lassen sich Angaben über mögliche Bedürfnisse und potenzielle Krisen von Kindern und Jugendlichen bestimmen. Somit können Aussagen über das besagte Förderprogramm in Relation zur Bedürfnislage der angesprochenen Adressat*innen getroffen werden. Aus pädagogischer Perspektive kann entsprechend eingeschätzt werden, ob das Programm bedürfnisorientiert und altersangemessen aufgebaut ist. Daraus lässt sich schließlich ableiten, in wie weit das entsprechende Programm im Sinne des Anspruchs und des Klientels pädagogisch angemessen ist.

Im folgenden Kapitel werden die Lebensalter Kindheit und Jugend im Hinblick auf das Modell der Entwicklungsaufgaben vorgestellt. Zudem wird der Zusammenhang zwischen der gelungenen Bewältigung dieser Aufgaben und der Persönlichkeitsentwicklung aufgezeigt. Damit einher geht die Darlegung entwicklungsbeeinflussender Faktoren in ihrer Relevanz für die Ausbildung einer gesunden Persönlichkeit. Infolgedessen können die Lebensalter als vulnerable biografische Abschnitte hervorgehoben werden.

3.1 Entwicklungsaufgaben in der Kindheit

Das Lebensalter der Kindheit ist mit verschiedenen für die Entwicklung der Persönlichkeit zentralen Aufgaben verbunden. Im Laufe des Lebens und im Zuge der Sozialisation befindet sich der Mensch in wechselnden Transformationsprozessen (vgl. Bründel/Hurrelmann 2017, S. 25). Damit verbunden ist die Bewältigung von bestimmten, für die jeweiligen Lebensalter als maßgebend geltenden, entwicklungsbezogenen Aufgaben (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 28). Der Begriff der „[…] ‚Entwicklungsaufgaben‘ […]“ (Bründel/Hurrelmann 2017, S. 25, Herv. im Orig.) fasst dieses Modell in Anlehnung an Havighurst zusammen. Auch konflikthaft verlaufende Entwicklungsprozesse können dazu gehören. Nach Bründel und Hurrelmann können die Entwicklungsaufgaben als zu erreichende Kompetenzbereiche des jeweiligen Altersabschnitts beschrieben werden. Dabei stellen sich dem Individuum entwicklungsbezogene Aufgaben auf physischer, psychischer und sozialer Ebene. Die entsprechende Entwicklung geschieht im Rahmen von Konfrontations- und Aneignungsprozessen in der Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt. Die Entwicklungsaufgaben lassen sich in vier Teilbereiche untergliedern, die über den gesamten Lebensverlauf in ähnlicher Form bestehen bleiben. Die vier Teilbereiche sind „Binden […] [,] Qualifizieren […] [,] Konsumieren […] [und] Partizipieren […]“ (Bründel/Hurrelmann 2017, S. 26, Herv. im Orig., Anm. T.R.). Im Folgenden werden die genannten Bereiche mit Bezug auf das Lebensalter Kindheit aufgeschlüsselt. Der erste Bereich beschreibt die Aufgabe der Bindung. Im frühen Kindheitsalter (ca. bis einschließlich fünftes Lebensjahr) gehört dazu zunächst die Aufnahme von Bindungsbeziehungen zu nahen Bezugspersonen. Auch die Aufgabe der geschlechtlichen Identifizierung wird in diesem Lebensabschnitt bearbeitet. Das Kind lernt in dieser Phase am Modell, also zumeist an durch die Eltern zum verkörperten Geschlechtsrepräsentationen. Darüber hinaus ist das Erleben von Beziehungskonstellationen und Partnerschaft im Elternhaus eine wichtige Entwicklungsaufgabe für Kinder. Die Familie, als wichtigste sozialisierende Einheit, dient im Hinblick auf die in ihr vorgelebten Beziehungen als wichtiges Vorbild für das Kind. Der zweite Entwicklungsbereich beschreibt den Bereich der Qualifizierung und Befähigung durch die Aneignung von Fähigkeiten und Kompetenzen. Im frühen Kindesalter gehören dazu beispielsweise die Ausbildung von Bewegungskompetenzen und Fähigkeiten der Sinneswahrnehmung, ebenso wie sprachliche Kompetenzen. Die physisch und sinnlich wahrnehmbare Umwelt ist Dreh- und Angelpunkt vielfältiger Aneignungsprozesse und dient in dieser Phase als entwicklungsbeförderndes Erprobungsfeld. Im späteren Kindesalter (ab dem fünften Lebensjahr) werden darüber hinaus kognitive Kompetenzen ausgebildet. Die Entwicklung von moralischen und wertbezogenen Konzepten ist ebenfalls Bestandteil der Entwicklungsaufgaben im Kindesalter. Mit dem Eintritt in die Schule erlernen die Kinder in dieser Phase zudem gängige kulturtechnische Fähigkeiten. Bründel und Hurrelmann schreiben der Institution Schule eine besondere sozialisationsrelevante Rolle zu. Die Schule biete eine Plattform für verschiedenste nicht-familiäre Beziehungs- und Interaktionserfahrungen und fordere gleichzeitig zu situativer Anpassungsfähigkeit heraus. Der dritte Entwicklungsbereich ist das Konsumieren. Für das Kindesalter werden unter diesem Gesichtspunkt die Gestaltung und der Konsum von Freizeit (-angeboten), sowie der Umgang mit neuen bzw. digitalen Medien relevant. Im Hinblick auf den Umgang mit Medien ist zum einen die Handhabung und die Bedienungskompetenz, nicht zuletzt jedoch auch die Fähigkeit der inhaltlichen Verarbeitung verbunden. Dazu gehört auch die Verarbeitung von potenziell als krisenhaft eingestuften Inhalten. Der vierte und letzte Teilbereich entwicklungsbezogener Aufgaben ist der der Partizipation. Für das Kindesalter ist dieser Bereich geprägt durch Erfahrungen diskrepanter, spannungsgeladener und sich wechselseitig beeinflussender Sozialordnungen. Das Erleben von Unterschieden beispielsweise in Bezug auf den sozialen oder finanziellen Status, verschiedenen Formen von Religiosität oder kulturellen Prägungen wird für Kinder im eigenen sozialen Umfeld erfahrbar und somit in ihr Realitätskonzept integriert. Auf diese Unterschiede der sozialen Umwelt gezielt einzuwirken oder diese partizipativ zu gestalten, ist laut Bründel und Hurrelmann für Kinder nur in sehr geringem Maße möglich (vgl. Bründel/Hurrelmann 2017, S. 25-29).

Im folgenden Gliederungspunkt wird das Modell der Entwicklungsaufgaben auf das Lebensalter der Jugend übertragen.

3.2 Entwicklungsaufgaben in der Jugend

Hurrelmann und Quenzel unterscheiden wie Bründel und Hurrelmann vier Typen von Entwicklungsaufgaben, die sie ebenfalls in die Bereiche Binden, Qualifizieren, Konsumieren und Partizipieren einteilen. In Anbetracht des Lebensabschnitts haben sich im Unterschied zum Kindesalter die konkreten Entwicklungsaufgaben im Jugendalter jedoch verändert. Zunächst nehmen die Autor*innen eine Unterscheidung in „[…] psychobiologische und […] soziokulturelle Dimension[en] […]“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 29, Anm. T.R.) von Entwicklungsaufgaben vor (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 29).

Die psychobiologische Dimension beschreibt mit Bezug auf den Bereich des Qualifizierens den Erwerb kognitiver und sozialer Kompetenzen. Durch diesen Kompetenzerwerb soll die jugendliche Person sich selbst dazu befähigen, mit den Anforderungen in Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen umzugehen. Diese Bewältigung von sozialen und kognitiven Entwicklungsaufgaben ebnet somit den Weg zum Erwerb beruflicher Qualifikationen. In Bezug auf die Aufgabe der Bindung fällt die Entwicklung einer körper- und geschlechtsbezogenen Identität sowie die Fähigkeit, Bindungen einzugehen unter die psychobiologische Dimension. Das Jugendalter ist demnach geprägt durch den Ablösungsprozess von den Eltern und der Gestaltung eigener partnerschaftlicher Beziehungen. Auch die Auseinandersetzung mit körperlichen und psychischen Veränderungen, sowie die Zuordnung zu und die Integration in ein geschlechtliches Identitätskonzept bedingen den Entwicklungsprozess im Jugendalter. Bezüglich der Aufgabe des Konsumierens beschreibt die psychobiologische Dimension der Entwicklungsaufgaben die Rollenfindung im sozialen Umfeld. Die Arbeit an einem eigenen sozialen Netzwerk steht in dieser Hinsicht im Zentrum der Aufgabe. Darüber hinaus wird das eigene Konsumverhalten hinsichtlich der Nutzung von Medien- und Unterhaltungsangeboten, sowie das Verhältnis im Umgang mit genussdienlichen Substanzen erprobt. Entscheidend ist in diesem Punkt die Erfahrung von eigenen Bedürfnissen und der Umgang mit diesen. Durch das daraus resultierende Verhalten erschließt sich die Entspannungs- und Regenerationskompetenz im Umgang mit sich selbst. Die vierte Entwicklungsaufgabe ist das Partizipieren. Aus der Perspektive der psychobiologischen Dimension ist damit die Etablierung eigener Wert- und Normvorstellungen gemeint. Zentral ist die Erfahrung von Vereinbarkeit und Integritätsempfinden dieser Vorstellungen im Hinblick auf die eigenen Verhaltungsweisen und Taten. Auf diese Weise kann die Erarbeitung und Befolgung eigener Wertvorstellungen orientierend wirken (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 29 f.).

Die soziokulturelle Dimension beschreibt mit Bezug auf den Bereich des Qualifizierens die Vorbereitung auf die Rolle als Arbeitnehmer*in. Dazu gehört der Erwerb verschiedener berufsrelevanter Fähigkeiten sowie für den Arbeitskontext als bedeutsam zu erachtender zwischenmenschlicher Kompetenzen. Dem Selbststeuerungsvermögen und der Motivationsfähigkeit kommen wichtige Schlüsselrollen bei der Bewältigung der mit dieser Entwicklungsaufgabe verbundenen Herausforderungen zu. Das Ziel dieses Entwicklungsschritts ist die finanzielle Unabhängigkeit und die Nutzbarmachung des dem Individuum innewohnenden wirtschaftlichen Potenzials für die Gesellschaft. Die Aufgabe Binden bedeutet unter soziokulturellen Gesichtspunkten die Gründung einer eigenen Familie. Das bedeutet die Verselbstständigung des/der Jugendlichen in Hinblick auf einen neuen, sozial einbindenden Kontext. Durch die Familiengründung wird ein institutioneller Rahmen für die Gestaltung eigener Partnerschaften und der Rollenübernahme als Vater oder Mutter geschaffen. Diese Dimension der Entwicklungsaufgabe gilt als gesellschaftlich relevant, da sie die Gesellschaft durch die Etablierung einer eigenen Familie mit reproduziert und damit gesellschaftliches Wachstum begünstigt. Die Entwicklungsaufgabe Konsumieren ist im Rahmen der soziokulturellen Dimension im Sinne einer Rollenübernahme als wirtschaftsbeförderndes Gesellschaftsmitglied zu verstehen. Im Fokus steht hierbei die eigenständige Verwaltung von finanziellen Mitteln angesichts eines breiten Angebots an Konsumgütern. Das Verhältnis zu diesen wird unter Berücksichtigung des persönlichen Bedarfs und in Abhängigkeit zur Verfügung stehender Mittel geprägt. Gelingt die Umsetzung eines ausgewogenen Konsumverhältnisses, kann nicht nur das Freizeitverhalten, sondern auch die wirtschaftliche Komponente der Familienführung bewältigt werden. Zudem wird eine gesunde, auf Erholung und Produktivität ausgerichtete Regenerationsfähigkeit gefördert. Aufgrund eines damit zu gewährleistenden produktiven Leistungsvermögens ist auch diese Entwicklungsaufgabe gesellschaftlich bedeutsam. Die Entwicklungsaufgabe des Partizipierens zielt im Hinblick auf die soziokulturelle Dimension, ebenso wie Anteile der vorangegangenen Aufgaben, auf die Wirtschaftlichkeit der vom Individuum zu erbringenden Leistung und deren Nutzen für die Gesellschaft ab. Im Mittelpunkt stehen die Erarbeitung eigener Werte und Standpunkte und die Befähigung, diese öffentlich in partizipativer Form mitzuteilen. Das Ziel in diesem Entwicklungsprozess besteht neben der Stärkung eines gesellschaftlichen Gemeinschaftsgefühls auch im Erlangen einer selbst erarbeiteten und als solche wahrgenommenen Handlungsfähigkeit des Individuums (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 36 f.).

Im vorangegangenen Kapitel sind die Entwicklungsaufgaben (Qualifizieren, Binden, Konsumieren und Partizipieren) mit Bezug auf das Jugendalter und anhand von zwei Dimensionen (psychobiologisch und soziokulturell) erörtert worden. Die folgende Abbildung zeigt eine vereinfachte Darstellung des Modells der Entwicklungsaufgaben. Die vier Entwicklungsaufgaben (Qualifizieren, Binden, Konsumieren und Partizipieren) ergeben sich aus gesellschaftlichen Normen, Werten und Erwartungshaltungen an die jugendlichen Gesellschaftsmitglieder (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 38).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Das Modell der Entwicklungsaufgaben im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Erwartungen und Entwicklungszielen

(vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 38)

Die Entwicklungsaufgaben stehen, wie in der Abbildung zu sehen ist, in bedingendem Zusammenhang zu zwei übergeordneten und prozesshaft anzustrebenden Zielen. Das erste übergeordnete Ziel ist das „[…] der persönlichen Individuation […]“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 38). Die persönliche Individuation kann als Prozess und Zielzustand im Sinne einer psychobiologischen Dimension von Entwicklungsaufgaben verstanden werden. Hurrelmann und Quenzel zufolge impliziert der Individuationsprozess und die damit verbundene Entwicklung der eigenen Persönlichkeit sowohl die Identitätsbildung, sowie die Erfahrung eigenständig, unabhängig und handlungsfähig zu sein. Das zweite übergeordnete Ziel ist das „[…] der sozialen Integration […]“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 38). Die soziale Integration kann als Prozess und Zielzustand im Sinne einer soziokulturellen Dimension von Entwicklungsaufgaben verstanden werden. Den Autor*innen zufolge zeichnet sich das Ziel sozialer Integration aus durch die Fähigkeit, verschiedene gesellschaftliche Rollenerwartungen zu erfüllen. Damit verknüpft sind die bereits beschriebenen Entwicklungsaufgaben in der Form, als dass mit dem diesen Aufgaben zugeordneten Anforderungsprofil auch die entsprechenden Erwartungen zur Rollenübernahme definiert werden. Diesen zufolge soll das Individuum die Rolle des/der Berufstätigen, des/der Partner*in und bzw. oder Elternteils, des/der Konsument*in sowie des politisch aktiven Gesellschaftsmitglieds erfüllen (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 38 f.). Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben gelingt durch die Vereinbarung von Integrationsanforderung und Individuationsbestreben. Dies kann durch selbstregulierendes Verhalten erreicht werden. Dabei ist „[…] die ständige ‚Arbeit an der eigenen Person‘ […]“ Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 92, Herv. im Orig.) voraussetzend. Das Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses ist die Etablierung von gesundem Problemlöseverhalten, welches die Verhaltensmuster für das gesamte Leben prägt (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 92).

Der anschließende Gliederungspunkt widmet sich dem Konzept der Persönlichkeitsentwicklung. Dieses wird in Bezug zu den für die Lebensalter Kindheit und Jugend wichtigen Entwicklungsaufgaben erklärend dargelegt.

3.3 Persönlichkeitsentwicklung

In letzten Gliederungspunkt dieses Kapitels werden die Entwicklungsaufgaben der Lebensalter Kindheit und Jugend in Zusammenhang mit dem Konzept der Persönlichkeitsentwicklung gebracht. Zu diesem Zweck wird das Konzept zuvor definiert und anschließend hinsichtlich seiner Bedeutung für die jeweiligen Lebensphasen betrachtet.

Nach Bründel und Hurrelmann kann der Persönlichkeitsbegriff definiert werden als „[…] das einem Menschen spezifische Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen […], das sich auf der Grundlage der biologischen Ausstattung und als Ergebnis der Bewältigung von Lebensaufgaben ergibt.“ (Bründel/Hurrelmann 2012, S. 16, Ausl. T.R.). Die Entwicklung der Persönlichkeit lässt sich folglich zusammenfassen als eine Umgestaltung der bestehenden Persönlichkeitsordnung über die Lebenszeit. Pädagogisch relevant ist das Konzept dann, wenn es darum geht die Persönlichkeitsentwicklung förderlich und konstruktiv zu begleiten. Dem sozialisationstheoretischen Ansatz entsprechend, kann die Entwicklung der Persönlichkeit im Kindesalter im Zusammenhang mit der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben gesehen werden (vgl. Bründel/Hurrelmann 2012, S. 16)24. „Die Sozialisationstheorie […]“ (Bründel/Hurrelmann 2012, S. 23) geht davon aus, dass sich die Persönlichkeit im Kindesalter in Abhängigkeit zweier Variablen entwickelt: erstens der genetischen Disposition, die das Kind mitbringt und den gesellschaftlichen und zweitens gegenständlichen Umwelteinflüssen, denen das Kind im Laufe des Heranwachsens ausgesetzt ist. Der Theorie zufolge ist die Persönlichkeitsentwicklung demnach das Produkt aus dem Zusammenspiel beider Variablen sowie dem Umgang des Individuums mit diesen (vgl. Bründel/Hurrelmann 2012, S. 23). Hurrelmann und Quenzel sprechen in diesem Zusammenhang vom „[…] Prozess der ‚produktiven Realitätsverarbeitung‘.“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 57, Herv. im Orig.). Sozialisation als persönlichkeitsbeeinflussender Faktor beginnt im Kindesalter und wirkt ein Leben lang auf das Individuum. Die Verarbeitungsweise und der Umgang mit Ausgangs- und Umweltbedingungen ist einzigartig und personenabhängig verschieden. Potenziell problematisch gestaltet sich der Entwicklungsprozess, wenn beide Variablen nicht in Einklang miteinander gebracht werden können. Verschiedenen Einheiten und Institutionen (Familie, Schule etc.) kommt bei diesem sozialisatorischen Prozess eine Schlüsselrolle zu (vgl. Bründel/Hurrelmann 2012, S. 23 f.). Im Jugendalter kann in Bezug auf diese Institutionen bemerkt werden, dass diesen eine wichtige unterstützende Funktion im Prozess der Entwicklung zukommt. Hurrelmann und Quenzel formulieren dies wie folgt: „Grundsätzlich steht jede Sozialisationsinstanz vor der Aufgabe, den ihr anvertrauten Jugendlichen die Motivationen und Kompetenzen zu vermitteln, die für den zukünftigen Erhalt und die Weiterentwicklung der Gesellschaft funktional sind.“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 97).

Mit Blick auf das AISCHU-Programm, das für das schulische Setting konzipiert wurde, soll an dieser Stelle auch auf die Schule als Sozialisationsinstanz eingegangen werden. Diese sei Hurrelmann und Quenzel zufolge zuständig für die schulische Lehre sowie die Ermöglichung und Förderung von Bildung. Darüber hinaus seien Instanzen wie die Schule oder auch andere Ausbildungs- oder Beratungseinrichtungen für die positive Beeinflussung von bis dahin unproduktiv bearbeiteten Entwicklungsschritten zuständig (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 97).

Es kann zu potenziellen Krisen kommen, wenn die Entwicklungsaufgaben unproduktiv bearbeitet oder gar nicht bewältigt werden. Dies ist der Fall, wenn die bereits beschriebenen übergeordneten Ziele der Individuation und Integration nicht miteinander vereinbart werden können (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 95). Ein integres Individuation-Integration-Verhältnis ist die Voraussetzung für die Entwicklung einer stabilen Identität. Hurrelmann und Quenzel sprechen von der sogenannten „[…] Ich-Identität […]“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 222), die sich im Zuge des Aushandlungsprozesses zwischen äußeren (Rollen-) Erwartungen und innerer Werteentwicklung ausbildet (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 93 f.). Die folgende Abbildung zeigt auf der linken Seite die Ausgangsbedingung des Individuums in Form von innerer und äußerer Realität (individuelle Ressourcenlage) sowie die Entwicklungsaufgaben. Im Zentrum der Abbildung steht „[…] die produktive Realitätsverarbeitung“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 229) als Bezeichnung für den Bewältigungsprozess der Entwicklungsaufgaben. Dieser Prozess erweist sich als durch die individuelle Ressourcenlage beeinflusst (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 228 f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Ausgangsbedingungen und Verlaufsformen der Entwicklungsbewältigung im Zusammenhang zur Persönlichkeitsentwicklung

(vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 229)

Auf der rechten Seite der Abbildung sind mögliche Verlaufsformen der Persönlichkeitsentwicklung als Folge unterschiedlich stark ausgeprägter Bewältigungskompetenzen dargestellt. Diesen Verlaufsformen zufolge kann die Persönlichkeitsentwicklung sowohl positiv und störungsfrei, neutral als auch negativ und beeinträchtigt ausfallen (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 229). Die Konsequenz nicht bewältigter Entwicklungsaufgaben oder ein als unvereinbar erlebtes Verhältnis zwischen Individuation und Integration können die Entwicklung der Persönlichkeit in negativem Maße beeinflussen (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 222). Durch gehäuft auftretende Krisen bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben kann sich potenziell „[…] Entwicklungsdruck“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 95) einstellen. Er ist die Folge von sich gegenseitig bedingenden Entwicklungsproblematiken. Das Scheitern an diesem Bewältigungsprozess kann u.a. auf unzureichend vorhandene Ressourcen25 (z.B. ungünstige familiäre Ausgangsbedingungen als soziale Ressource) zurückzuführen sein. Derartige Entwicklungskrisen können sich negativ auf den Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung auswirken. Beispielsweise besteht im Zuge dessen die Möglichkeit, verschiedene psychosomatische Störungsbilder oder Erkrankungen zu entwickeln (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 95). In der folgenden Abbildung wird zwischen drei möglichen Formen von sogenanntem „[…] Problemverhalten […]“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 231) im Zuge einer gestörten Persönlichkeitsentwicklungen unterschieden.

[...]


1 In der Zeitung Die Zeit wurden sie bereits als sogenannte „[…] Mindstyle-Magazin[e] […]“ (Zimmermann 2014, S.1, Anm. T.R.) betitelt und kritisiert (vgl. Zimmermann 2014, S. 1 f.).

2 In dieser Arbeit wird auf eine gendersensible Sprache Wert gelegt. Entsprechend sind personenanzeigende Begriffe in der Sternchen-Form I formuliert. Abweichungen von dieser Schreibweise finden sich ausschließlich in direkten Zitaten. Die Empfehlungen der AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin (2015) dienten bei dieser Entscheidung als Orientierung (vgl. AG Feministisch Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin 2015, S. 22 f.).

3 Das Zukunftsinstitut ist ein Unternehmen, das seit den 1990er Jahren im Bereich Zukunft (-strends) forscht. Die Beobachtungen und Analysen der Gegenwart stellen dabei die Ausgangspunkte für daraufhin entwickelte wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunftsprognosen dar. Ein Megatrend bezeichnet eine gegenwärtig prominente gesellschaftlich oder wirtschaftlich relevante Entwicklung, die Subtrends können als Unterkategorien einem Megatrend zugeordnet werden und zeigen ihrerseits charakteristische Aspekte des Megatrends an (vgl. Zukunftsinstitut GmbH o.J. b, o.S.).

4 Zu nennen wäre hier u.a. eine Analyse von Achtsamkeitsinterventionen in der Arbeit mit von ADHS betroffenen Kindern und Jugendlichen (vgl. Linderkamp/Lüdeke 2019), eine Untersuchung zum Einsatz von achtsamkeitsfördernden Programmen in der Schule (vgl. Zenner 2016) sowie Diskurse über sich wandelnde Bedingungen im Zuge des Aufwachsens (vgl. Burfeindt 2013, S. 43 f.; vgl. Göppel 2007, S. 85-1084 ) oder Beiträge über Be- und Entschleunigungstendenzen in Bildungsinstitutionen (vgl. Göppel 2007, S. 94).

5 So berichtet u.a. Rechtschaffen über den praktischen Einsatz von Achtsamkeit, um einer durch verstärktes Stresserleben entstehenden Regulationsstörung von Kindern und Jugendlichen zu begegnen (vgl. Rechtschaffen 2016, S. 42 f.).

6 Siehe diesbezüglich den Review von Kaunhoven/Dorjee (2017) zur Rolle von Selbst- und Emotionsregulationsprozessen im Zusammenhang mit Achtsamkeit im Kindesalter oder auch eine Untersuchung von Henelly (2011) über die achtsamkeitsbezogene Wirksamkeit auf Wohlbefinden und schulische Leistungen sowie den Review von McKeering/Hwang (2019) über die durch Achtsamkeitsinterventionen erzielbaren Effekte auf das Wohlbefinden im frühen Jugendalter.

7 Siehe hierzu die Studie von Gouda (2017) zur Rolle von Achtsamkeit als Lerngelegenheit für Lehrkräfte in Bezug auf soziales und emotionales Lernen (SEL) oder eine Untersuchung von Schonert-Reichl/Lawlor (2010) zum Einfluss von Achtsamkeitstrainings auf die Entwicklung sozial-emotionaler Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen in der Schule.

8 Siehe diesbezüglich eine Meta-Analyse von Zoogman et al. (2015) über die auf Achtsamkeit zurückzuführenden positiven Effekte auf Jugendliche mit multipsychopathologischem Befund im klinischen und nicht-klinischen Setting.

9 Entwickelt wurde das Programm von Richard Burnett und Chris Cullen im Jahr 2009. Eine entsprechende Grundlagenliteratur zum Curriculum und der zugrunde liegenden Theorie wurde bisher nicht publiziert (vgl. Valtl 2018, S. 13, 24; MiSP o.J., o.S.)

10 Siehe hierzu unter anderem das Projekt Sonnenblume - Achtsamkeit in der Grundschule von Semaille et al. (2018).

11 Siehe beispielsweise das „[…] NRW-Landesmodellprojekt GIK (Gesundheit, Integration, Konzentration) […]“ (Krämer 2019, S. 30) (vgl. Krämer 2019, S. 30 f.).

12 Meiklejohn et al. (2012) diskutieren in einer Untersuchung einige aktuelle Erkenntnisse aus der Erprobung von Achtsamkeitsprogrammen für Adressat*innen im Kindergartenalter bis zur 12. Jahrgangsstufe. Dabei gehen sie sowohl auf die Achtsamkeitsförderung für Lehrende als auch auf Förderprogramme für Schüler*innen ein (vgl. Meiklejohn et al. 2012).

13 Als pädagogisch relevant werden die Gegenwartsdiagnosen erachtet, wenn aus der Diagnose erwartbare Einflüsse auf Subjektebene bzw. in Fall dieser Arbeit auf das Kindes- und Jugendalter oder die Arbeitsweise in pädagogischen Institutionen abgeleitet werden können. Gemeint sind beispielsweise jene Gegenwartsdiagnosen, die eine Erklärung für einen Bedarfswandel in pädagogischen Handlungsfeldern liefern können. Diesem Bedarfswandel könnten verschiedene Faktoren zugrunde liegen, wie zum Beispiel ein sich gesellschaftlich veränderndes Verständnis verschiedener Lebensalter in Form einer „[…] Verkürzung der Kindheit […]“ (Göppel 2007, S. 93, Herv. im Orig.) oder auch sich dadurch verändernde subjektive Bedürfnisse sowie fachliche Herausforderungen in pädagogischen Handlungskontexten. Göppel bezieht sich hier exemplarisch auf den Bildungsbereich, der abwechselnd kritisiert wird für eine Überbeanspruchung der Kinder oder auch eine fehlende oder ineffektive pädagogische Fördermanier (vgl. Göppel 2007, S. 94).

14 Es sei darauf hingewiesen, dass die Begriffe der Gegenwartsdiagnose (bzw. Zeitdiagnose) und der Gesellschaftstheorie bedeutungsrelevante Schnittmengen aufweisen, obgleich sie anhand ihrer Motive und Ansprüche unterschieden werden können. In einem Differenzierungsversuch legt Dimbath dar, dass beide Begriffe mit der Analyse bestehender Gesellschaftsverhältnisse und daraus resultierender lebenspraktischer Zusammenhänge verbunden seien. Während die Gesellschaftstheorie fester Bestandteil der Soziologie ist, ist die Gegenwartsdiagnose weniger fachlich gebunden und richte sich demgemäß auch an Leser*innen außerhalb des soziologischen Kontexts. Nach Dimbath gestalte sich die Abgrenzung beider Begriffe schwierig, da in der Soziologie bisher kein Konsens über ihre wesentlichen Unterscheidungsmerkmale bestehe. In Anbetracht der Darlegungen Dimbaths, wonach eine abschließende und eindeutige Unterscheidung noch ausstehe, werden die Bezeichnungen im Bewusstsein um die Möglichkeit der Unterscheidung in dieser Arbeit bedeutungsgleich verwendet (vgl. Dimbath 2016, S. 48-51).

15 Als soziale Prozesse können nach Dimbath Phasen gesellschaftlicher Umgestaltung und die darin enthaltenen Motive individueller Handlungsformen verstanden werden (vgl. Dimbath 2016, S. 252 f.).

16 Beispielsweise wird im Hinblick auf den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen angeführt, dass sich der individuelle Belastungsgrad in Bezug auf Stress oder die Qualität psychischen Wohlbefindens erhöht habe (vgl. Weber et al. 2016, S. 175 f.; vgl. Rechtschaffen 2016, S. 42 f.). Als interventive Gegenmaßnahme wird anschließend mit dem Einsatz achtsamkeitsbasierter Verfahren argumentiert, da dieser salutogene Effekte versprechen würde (vgl. Weber et al. 2016, S. 177 f.). Darüber hinaus sprechen sich Forsche*innen für die positive Wirkung von achtsamkeitsbasierten Schulungen oder Interventionen auf die psychische Gesundheit aus (siehe hierzu u.a. Hölzel et al. 2011 b über die Wirkweisen der Achtsamkeitsmeditation sowie Brown et al. (2007) über gesundheitsförderliche Effekte von Achtsamkeit auf das psychologische Wohlbefinden).

17 Rosa bezieht sich an dieser Stelle auf die Theorie über das erschöpfte Selbst (Ehrenberg 2004) nach Alain Ehrenberg. In seinem Hauptwerk beschreibt Ehrenberg die Auswirkungen der modernen Welt auf das Individuum. Er vertritt die Haltung, dass die Menschen im Zuge wachsender umweltbedingter Anforderungen und evoziert durch kapitalistische Dynamiken seelisch erschöpft und depressiv würden. Damit zeigt das Werk, getragen von einem soziologisch und zeitdiagnostisch motivierten Anspruch, die Zusammenhänge auf zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und psychischer Gesundheit (Ehrenberg 2004).

18 Mit den beschriebenen Theorien konnte lediglich ein Bruchteil bestehender Gegenwartsdiagnosen mit aktueller Relevanz vorgestellt werden. Aufgrund des andernfalls nicht zu leistenden Umfangs der Arbeit, wurde sich jedoch (aus zu Anfang des Kapitels benannten Gründen) auf die Theorien nach Beck, Rosa und Gross bezogen.

19 Diese Feststellung Kaufmanns wird von Dornes ergänzend relativiert. So argumentiert er, dass sich eine derartige, faktisch neutrale Beobachtung nicht in individuelles Empfinden übertragen lasse. Durch die von Kaufman dargelegten Entwicklungen käme es zu einer Verschiebung von Dependenzen: Abhängigkeiten vom näheren sozialen Kontext würden abgelöst durch die Abhängigkeit von übergreifenden Vorsorgedienstleistenden. Schlussendlich seien Individuen in Folge der gesellschaftlichen Vereinzelungsdynamiken persönlich verunsichert (vgl. Dornes 2012, S. 346).

20 Nach Dornes können u.a. die folgenden Aspekte als wesentliche Merkmale des erzieherischen Wandels im Zuge der Moderne genannt werden: eine institutionalisierte Kindheit, demokratisierte Erziehungsmodelle, Bedeutungszuwachs der Selbstständigkeit als Erziehungsziel und der Verhandlungshaushalt als Ausdruck eines mehrheitlich bevorzugten Erziehungsstils (vgl. Dornes 2012, S. 295, 297 ff.).

21 Sofern die Häufigkeit psychopathogener Befunde diesen Einschätzungen als Maß zugrunde liegt (vgl. Dornes 2012, S. 352).

22 Das Programm wurde für Schüler*innen ab zehn Jahren entwickelt und kann bis zum Ende der Oberstufe eingesetzt werden (vgl. Kaltwasser et al. 2014, S. 388).

23 Auf eine tiefergehende Betrachtung der Lebensalter hinsichtlich ihrer historischen Entwicklung und der damit verbundenen Anerkennung als eigenständige Lebensphase wird aufgrund des zu erwartenden Umfangs dieser Arbeit verzichtet.

24 Andere Ansätze zur Erläuterung der Theorie der Persönlichkeitsentwicklung (beispielweise nach Banduras, Bronfenbrenner, Piaget oder Freud) (vgl. Bründel/Hurrelmann 2012, S. 16 ff.) werden aus Gründen des zu erwartenden Umfangs in dieser Arbeit bewusst ausgeklammert. Anzuerkennen ist jedoch, dass nur die Darstellung aller theoretischen Ansätze der entwicklungspsychologischen Theoriefindung vollends gerecht werden. Durch die Betrachtung einzelner Theorien zeigt sich, dass die Ansätze in ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive thematisch einseitig verhaftet sind. Die Sozialisationstheorie hingegen bedient sich verschiedener theoretischer Ansätze der Persönlichkeitsentwicklung und kann damit einen übergreifenden und vereinigenden Ansatz abbilden (vgl. Bründel/Hurrelmann 2012, S. 16).

25 Der Begriff der Ressourcen wird in diesem Kontext von den Autor*innen in zweifacher Weise differenziert. Zum ersten nennen Hurrelmann und Quenzel Ressourcen als Umgangs- und Bewältigungsformen des Individuums, angesichts von Herausforderungen („[…] ‚personale Ressourcen‘ […]“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 96, Herv. im Orig.)). Zum zweiten wird auch die Hilfe durch das Umfeld des Individuums als Ressource („[…] ‚soziale Ressourcen‘ […]“ (Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 96, Herv. im Orig.)) beschrieben (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S. 96).

Ende der Leseprobe aus 230 Seiten

Details

Titel
Achtsamkeit in der Schule. Ist Achtsamkeitsförderung ein sinnvolles Konzept für die Pädagogik?
Autor
Jahr
2020
Seiten
230
Katalognummer
V539174
ISBN (eBook)
9783963550706
ISBN (Buch)
9783963550713
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Achtsamkeit, Schule, Emotionsregulation, Aufmerksamkeit, Kinder und Jugendliche, Förderung, Pädagogik, achtsam sein, Gesellschaftstheorien, Gesellschaftsdiagnosen, Kindheits- und Jugendforschung, schulische Konzepte, soziales Lernen, Selbstregulation, Achtsamkeitsbegriff, Buddhismus, Gesundheit, Bildung, Empathiefähigkeit, Kompetenzen, achtsame Haltung, achtsamkeitsbasierte Interventionen, Selbstoptimierung, Selbstbildung, Selbstkompetenz, Beschleunigung, Optimierungsdruck, Achtsamkeit in der Schule, AISCHU, Erziehungswissenschaft, Kinder, Jugendliche
Arbeit zitieren
Teresa Reif (Autor:in), 2020, Achtsamkeit in der Schule. Ist Achtsamkeitsförderung ein sinnvolles Konzept für die Pädagogik?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539174

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