Fragile Staaten als besondere Herausforderung für die Entwicklungshilfe


Seminararbeit, 2019

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1. Fragile Staatlichkeit
1.1 Was sind fragile Staaten?
1.1.1 Betrachtung des Wortlautes: Fragilität und Staatlichkeit zunächst unabhängig voneinander deuten
1.1.2 Zentrale Merkmale fragiler Staatlichkeit
1.1.3 Der Ansatz der Weltbank
1.2 Ursachen und Gründe fragiler Staatlichkeit
1.2.1 Unterscheidung zweier Arten der fragilen Staatlichkeit
1.2.2 Struktur-, Prozess- und Auslösefaktoren fragiler Staatlichkeit

2. Umgang mit fragiler Staatlichkeit
2.1 Hemmnisse und Herausforderungen
2.2 Umgang mit fragilen Staaten und Vorgehen in der Entwicklungshilfe
2.2.1 Differenziertes Engagement
2.2.2 Unterstützung von „change agents“
2.2.3 Umgang mit zentralen Funktionsbereichen des Staates in der Entwicklungshilfe
2.2.4 „Good Governance“ als Basis der Entwicklungszusammenarbeit

3. Praxisbeispiel: Kolumbien

4. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Ferdinand Fröhlich

Studiengang: Nachhaltige Entwicklung

Seminar: Globalisierung und disparate Entwicklung

Abgabedatum: 30. September 2019

Abstract

Um in die Thematik einzuführen soll eingangs erläutert werden, was fragile Staatlichkeit genau bedeutet. Nach der Feststellung, dass eine allgemeingültige Definition nicht existiert, werden nach einem sozial- und staatstheoretischen Exkurs zu den Begriffen „Fragilität“ und „Staat“ die wichtigsten Charakteristika (Mangelhaftes Gewaltmonopol; Dramatische soziale Lage; Mangelhafte soziale Grundversorgung; Hohes Maß an Korruption; Systematische Verletzung von Menschenrechten; Defekter Verwaltungsapparat; Partikularismus; Fehlende wirtschaftliche Rahmenbedingungen) eines fragilen Staates herausgearbeitet und erläutert.

Anschließend wird die „Country Policy and Institutional“-Bewertung (CPIA) - ein Bewertungsrahmen der Weltbank und Instrument zur Beurteilung von Politikgestaltung und institutioneller Leistungsfähigkeit seiner Kreditnehmer-Länder - ihrer Struktur und ihrem Inhalt nach beschrieben.

Um Ursachen und Gründe fragiler Staatlichkeit zu beleuchten wird zunächst zwischen Fragilität aufgrund von schlechter Führung und Governance und inhärenter Fragilität unterschieden. Um dann der Frage danach, was Staaten in einen fragilen Zustand treibt, zu beantworten wird weiterhin ausgeführt, inwiefern externe Aggressionen und historische Entwicklungen zum Staatsverfall beitragen und beigetragen haben.

In den 90er Jahren waren Geberländer sehr zurückhaltend, etwas gegen die Zustände fragiler Staaten zu tun. Dazu sollen in aller Kürze die Hemmnisse für Geberländer aufgeführt werden (Verstoß der Nehmerländer gegen „Good-Governance“, Kapazitäten für Staatsaufbau fehlten). Im Anschluss sollen die großen Herausforderungen für die Entwicklungshilfe in fragilen Staaten aufgeführt und erläutert werden. Im Kern soll darauf eingegangen werden, dass es kein Standardmodell für fragile Staaten gibt, sondern jeder Staat ein individuelles Engagement braucht. Des Weiteren muss eine konkrete Nachfrage der Bevölkerung vorhanden sein und Reformen dürfen nicht erzwungen werden.

Bei der Vorgehensweise in der Entwicklungshilfe wird näher darauf eingegangen, dass viele Maßnahmen kombiniert durchgeführt und kontrolliert werden müssen. Es wird genauer auf einzelne wichtige Teilbereiche der Entwicklungshilfe eingegangen und diese werden ausgeführt (Stärkung von „change agents“, Gewaltenmonopol und Rechtsbindung, Korruptionsbekämpfung, „Good Governance“ und „State Building“). Zum Abschluss soll ein Praxisbeispiel mit historischen Hintergründen dargestellt werden und eine Einordnung zu den Ursachen des Staatsverfalls soll vorgenommen werden. Außerdem soll eine Darstellung von Maßnahmen in der Entwicklungshilfe vorgenommen werden.

1. Fragile Staatlichkeit

1.1 Was sind fragile Staaten?

Die Suche nach einer klaren Definition zur fragilen Staatlichkeit liefert nach einer gewissen Suchdauer eigentlich nur ein Ergebnis: Fragile Staatlichkeit ist nicht klar im Konsens definiert. Vielmehr findet man sich als recherchierende Person einem Definitions-Wirrwarr gegenüber: Politikwissenschaftliche Auffassungen dominieren die Menge an Erklärungsversuchen. Jedoch kommen Auffassungen der fragilen Staatlichkeit ebenso aus Sozial-, Rechts- oder Geowissenschaften; manchmal versuchen sich WissenschaftlicherInnen an einer Definition, ein anderes mal wagt eine weltbedeutende Institution wie die Weltbank eine Konkretisierung. Konsens besteht dabei einzig und allein darin, dass die Thematik sich aufgrund ihrer diversen Betrachtungsmöglichkeiten nicht all zu sehr definieren lässt (vgl. Klingebiel 2007, S. 352). Eine „(...) singuläre Erklärung(...)“(Schneckener 2007, S. 109) für fragile Staatlichkeit ist nicht vorhanden. Zu groß ist die Gefahr, dass eine Verallgemeinerung bzw. die Schaffung eines definierten Modells der Fragilität auch zu einer Verallgemeinerung betroffener Länder führt (vgl. Nuscheler 1996, S. 338 f.). Als gutes Beispiel für eine solche Verallgemeinerung ist die Betrachtung des Kontinents Afrika als ein mehr oder weniger homogenes Land anstatt einer vielfältigen Betrachtungsweise, die etliche unterschiedliche Länder und somit auch unterschiedliche Problemstellungen darstellt.1 Eine Annäherung an eine Definition wird daher nachfolgend über die Betrachtung des Wortlautes sowie über eine Erläuterung zentraler Merkmale fragiler Staatlichkeit stattfinden.

1.1.1 Betrachtung des Wortlautes: Fragilität und Staatlichkeit zunächst unabhängig voneinander deuten

Trennt man also die Begriffe stellt sich zunächst die Frage, was Staatlichkeit; was ein Staat ist. Auf den ersten Blick scheint die Frage vielleicht unnötig und entbehrlich. Weil jedoch mit dieser Frage (wie oben beim Gesamt-Begriff bereits festgestellt) erneut nicht nur eine einzelne Disziplin begangen wird, sollte an dieser Stelle eine Klarstellung des Staats-Begriffs stattfinden, um das für diese Arbeit relevante Verständnis herauszustellen. Zudem lässt sich auf dieser Klarstellung aufbauend die Fragilität eines Staates herleiten. Im Kern geht es also um die Frage was eigentlich ein Staat ist und was ihn ausmacht, damit er als solcher auch auf (inter-)nationale Anerkennung stößt. Aus der staatstheoretischen Perspektive prägt auf historisch-abstrakter Ebene Max Weber’s Definition des Staates als „(...) politischer Anstaltsbetrieb, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ (Weber 1980, S. 29) die neuzeitliche Auffassung der Staatlichkeit. Ebenfalls im frühen 20. Jahrhundert entstand die sogenannte Drei- Elemente-Lehre nach Georg Jelinek, die bis heute den Staats-Begriff maßgeblich definiert. Demnach sei ein Staat eine „(...) die mit ursprünglicher Herrschaftsmacht ausgerüstete Körperschaft eines sesshaften Volkes.“ (Jellinek 1929, S. 183) Die drei hier definierten Elemente „Staatsgebiet“, „Staatsvolk“ und „Staatsgewalt“ bilden die Bestandteile der Drei- Elemente-Lehre. Die Staats-Auffassung der (deutschen) staatsrechtlichen Literatur basiert heute grundlegend auf diesen historischen Konzepten von Staatlichkeit. Es lässt sich also zusammenfassend herausstellen, dass ein Staat als solcher anzuerkennen ist, wenn eine übergeordnete Instanz (Staatsmacht) legitim Gewalt über alle in einem geografisch klar definierten Gebiet2 (Staatsgebiet) lebenden BürgerInnen (Staatsvolk) ausübt, um die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Neben diesen vornehmlich staatstheoretischen Erklärungsversuchen kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts auch zunehmend wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Auffassungen hinzu, die den hohen Abstraktionsgrad herunterstuften. Die Politikwissenschaftlerin Marina Ottaway etwa konkretisiert die Staatlichkeit, indem sie eine Verwaltungsstruktur, einen Sicherheitsapparat sowie eine funktionierende Marktwirtschaft als „Mindestvoraussetzungen“ für einen „funktionierenden Staat“ fordert (Ottaway 2007, S. 11).

Einfacher verhält es sich mit der Erörterung zu „ Fragilität “. Hier genügt wohl ein Blick auf eine Sammlung einiger selbsterklärender Synonyme. Die Attribute „Anfälligkeit“, „Zerbrechlichkeit“, „Verletzlichkeit“, „Empfindlichkeit“ umschreiben treffend die Bedeutung des Begriffs.3

Diese Wortlautinterpretation zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass ein fragiler Staat auch als ein in seinen Grundvoraussetzungen zerbrechlicher Staat beschrieben werden kann.

1.1.2 Zentrale Merkmale fragiler Staatlichkeit

Aufgrund des Umstandes, dass keine allgemeingültige Definition der fragilen Staatlichkeit besteht und die obige Wortlautanalyse lediglich einleitend und daher nur unzureichend Aufschluss darüber gibt, was genau den fragilen Staat ausmacht, werden im Folgenden zentrale Merkmale fragiler Staatlichkeit erörtert. So kann anschaulich verdeutlicht werden in welcher Form diese „(.) erheblichen Leistungsdefizite in zentralen staatlichen Funktionsbereichen(.)“(Debiel 2005, S. 12) auftreten.

Ein wesentliches Merkmal fragiler Staatlichkeit zeigt sich in einem mangelhaften Gewaltmonopol der Staatsregierung. Der Staatsapparat ist nicht in der Lage eine schutzvolle Sicherheitspolitik für das Innere und das Äußere zu gestalten. Häufig treten gewaltsame Konflikte wie Bürgerkriege oder Anfeindungen in und/oder aus dem Ausland auf. Eine institutionelle Gewaltenteilung, wie Sie bspw. in Deutschland in Form der Gesetzgebung (Legislative), der ausführenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) vorherrscht, ist kaum, und wenn nur in Ansätzen, erkennbar. Exekutives Handeln etwa von Polizeipersonal sprengt häufig die Grenzen der Verhältnismäßigkeit4 - ist also nicht geeignet, erforderlich und/oder angemessen (vgl. Debiel 2005, S.12; Klemp/Kloke-Lesch 2007, S. 21 und Ottaway 2007, S. 11.)

Dramatische soziale Zustände kennzeichnen ebenfalls den fragilen Staat. Insbesondere finanzielle Armut stellt einen besonders massiven Problemfaktor für Staaten in einem fragilen Zustand dar. Der Politikwissenschaftler Franz Nuscheler beschreibt in seiner Einführung in die Entwicklungspolitik sehr zutreffend, dass sich Armut und der Zustand eines Staates in einem Teufelskreis wechselseitig negativ beeinflussen können: „ Der Staat ist schwach, weil er arm ist, er ist aber auch arm, weil er schwach ist“ (Nuscheler 1996, S. 339). Durch die Bildung von gesellschaftlichen Eliten und partikulare Verbindungen im politischen Miteinander wird eine zum Einkommen adäquate Besteuerung der BürgerInnen erheblich gestört und teilweise gar nicht als politisches Ziel verfolgt. Bezeichnend für die dramatische soziale Lage ist eine Kindersterblichkeit, die doppelt so hoch und eine Müttersterblichkeit, die drei mal so hoch ist wie in sowieso schon armen Ländern. Überdies manifestiert ein deutlich niedrigeres Pro-Kopf­Einkommen und damit korrelierende Unterernährung die sozialen Missstände in fragilen Staaten (vgl. Debiel 2005, S. 12).

Die soziale Grundversorgung 5 der Bevölkerung ist eine wesentliche soziale Dienstleistung des „starken Staates“. Der „schwache“ (fragile) Staat weist hier massive Defizite auf. (Insbesondere arme) BürgerInnen müssen aufgrund eines unzureichend ausgebauten Gesundheitssystems signifikante Einschränkungen in ihrer Gesundheitsversorgung hinnehmen. Sauberes Trinkwasser und sanitäre Anlagen sind schlecht zugänglich und eine für den Alltag ausreichende Stromversorgung ist nur rudimentär gewährleistet. Hinzu fehlt es Familien an Möglichkeiten der externen Kindererziehung bzw. -teilzeitbetreuung.

Als Krebsgeschwür bezeichnet Franz Nuscheler die korruptiven Zustände in fragilen Staaten (vgl. Nuscheler 1996, S. 340). Allgemein gilt Korruption mit dem missbrauch öffentlicher Ressourcen als eines der größten Entwicklungshemmnisse (vgl. BMZ o.J.). Die Bestechlichkeit ist in schwachen Staaten auf etlichen politischen und (privat-) wirtschaftlichen Ebenen zu beobachten. Derartige Verhältnisse schlagen sich in einem geringen Steueraufkommen nieder und führen zu einer ersatzweisen, sehr gemeinschaftsfeindlichen Finanzbeschaffung: indirekte Konsumsteuern, die besonders kaufschwache Haushalte hart treffen, werden erhoben; vermehrter Schleichhandel tritt als Folge von Import- und Exportzöllen auf; eine Ausbeutung des Primärsektors durch gewinnabschöpfendes Staatsverhalten und einer harten Preispolitik schlägt sich in erheblichen Motivationshemmnissen für Landwirte nieder; der fragile Staat greift dann in seiner finanziellen Not auf in- und ausländische Kredite aus, sodass daraus bald eine hohe Auslandsverschuldung resultiert (vgl. Nuscheler 1996, S. 339 f.).

In Staaten mit fragilen Verhältnissen werden Menschenrechte häufig systematisch verletzt. Während die höchste aller Gewaltstufen und Menschenrechtsverletzungen Genozide wie bspw. der Völkermord in Ruanda in den 1990er Jahren darstellen, spielen vor allem Todesstrafen, Folter und gewaltsame Beschränkungen der Meinungsfreiheit eine große Rolle im Bereich der Verletzung von Menschenrechten (Klemp/Kloke-Lesch 2007, S. 21).

Fragile Staatlichkeit bedeutet auch, dass die Administration eines Staates nur unzureichend funktioniert; der Verwaltungsapparat ist defekt. Hier bestehen zwar der Sache nach Parallelen zwischen diesem und dem Problem der oben bereits thematisierten mangelhaften sozialen Grundversorgung. Jedoch geht es hier mehr um den Notstand, dass es massiv an qualifiziertem Personal in der Staatsverwaltung mangelt. Die häufig vetternwirtschaftliche Beschäftigungspolitik führt zu Personalbesetzungen, die lediglich dem bevorteilten Klientel finanziellen Mehrwert schafft (vgl. Nuscheler 1996, S. 339 ff.). Im Zusammenspiel mit einer häufig nur rudimentär vorhandenen modernen Infrastruktur werden Verwaltungsabläufe drastisch erschwert. Franz Nuscheler fasst diesen Umstand gut mit folgenden Worten zusammen: „Wenn - wie in Afrika - noch ganze Regionen nicht durch Allwetterstraßen mit den Verwaltungszentren verbunden sind und Telefonleitungen selten über Kreisstädte hinausreichen, wenn die örtlichen Bürgermeister oder Häuptlinge noch nicht überall den Inhalt von Gesetzen oder Verordnungen verstehen, dann bleibt die Effizienz des Verwaltungshandelns buchstäblich auf der Strecke.“. Überdies sind die verwaltungstechnischen Strukturen von Partikularismus gezeichnet. Interessen kleinerer Gruppen bzw. gesellschaftlicher Eliten werden politisch intendiert dem Wert des Gemeinwohls höher gestellt (Nuscheler 1996, S. 340).

Die von Marina Ottaway vorausgesetzte funktionierende Marktwirtschaft (s.o.) fehlt im fragilen Staat. Fehlende wirtschaftliche Rahmenbedingungen bilden das letzte wesentliche Merkmal der Fragilität eines Staates in dieser Aufzählung.6 Die Konjunktur wird bestimmt von Überregulierung und unklaren Eigentumsverhältnissen. Sowohl private als auch staatliche Investierende führen als Reaktion eine sehr risikoaverse Investitionspolitik. Frühe Privatisierung öffentlicher Unternehmen führte in der Vergangenheit häufiger zu einer Oligopol-Bildung sowie zu einer Stärkung der organisiert kriminellen Schattenwirtschaft (vgl. Ottaway 2007, S, 11 ff. sowie Debiel 2005, S. 12, 17 ff.).

1.1.3 Der Ansatz der Weltbank

Neben Konkretisierungen des Begriffs der fragilen Staatlichkeit anhand von Merkmalen gibt es zudem einige Ansätze verschiedener Institutionen, die die Fragilität eines Staates beschreiben und in wissenschaftlichen Maßstäben ausdrücken. Hier soll einer dieser Ansätze - jener des Ausschusses für Entwicklungszusammenarbeit (DAC)7, der „Country Policy and Institutional Assessment“ (CPIA) - in seinen Grundzügen beleuchtet werden.8 Dieser Bewertungsrahmen, der von der Weltbank (bzw. genauer der IDA, der „International Development Association“) als Instrument für die Beurteilung von Politikgestaltung und institutioneller Leistungsfähigkeit ihrer Kreditnehmer-Länder genutzt wird (vgl. Dorasil, 2007, S. 302), besteht aus 16 Kriterien, gegliedert in vier Dimensionen: Erstens Wirtschaftspolitik, zweitens Strukturpolitik, drittens Sozialpolitik und viertens Transparenz und Management der öffentlichen Verwaltung. 9 Die Bewertung findet dann anhand der 16 Kriterien mittels eines Punktesystems von eins bis fünf statt. Besonders schwere Ausprägungen eines Missstandes erhalten bis zu fünf und eher leichte Ausprägungen erhalten als Minimum einen Punkt. Erreicht ein Niedriglohnland auf dem daraus resultierenden Index einen Wert von 3,2 und niedriger handelt es sich per Definition der Weltbank um einen fragilen Staat (vgl. BMZ o.J.; Debiel S. 12; eine besonders gute Übersicht der Konzeption im Original findet sich zudem in Worldbank 2004, S. 15).

1.2 Ursachen und Gründe fragiler Staatlichkeit

Um eine klare Abgrenzung zwischen den Merkmalen und den Gründen bzw. Ursachen für die Fragilität eines Staates zu ziehen sollte zunächst klargestellt werden, was diese Ursachen und Gründe bedeuten sollen: Gemeint ist der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, also der Kausalzusammenhang. Die Frage nach den Wurzeln der Fragilität bzw. danach, was einen Staat in die Fragilität treibt, ist wesentlich für die Erörterung von den echten Ursachen und Gründen. Eine trennscharfe Abgrenzung von Merkmal und Ursache ist zwar nicht möglich, denn Korruption bspw. kann gleichzeitig Merkmal und Ursache eines fragilen Staaten sein (vgl. z.B. Schneckener 2007, S. 111). Das Ergründen der Ursachen will aber weiter fragen: Wenn die Korruption (ein) Auslöser für die Fragilität war, was war dann der Auslöser der Korruption? Es gilt also über die Grenze der formalen Feststellung von Notständen hinauszublicken. Vielmehr muss eine historisch-ethnische Analyse stattfinden. Dafür werden zwei Ansätze herangezogen. Zum einen bietet Marina Ottaway (2007) eine sinnvolle Differenzierung, indem Sie zwei Arten fragiler Staatlichkeit unterscheidet und daraus Ursachen und Gründe ableitet. Zum anderen soll auf Ulrich Schneckener (2007) und seinem Erklärungsversuch mit drei „destabilisierenden Faktoren für die Staatlichkeit“ auf drei Ebenen Bezug genommen werden.

1.2.1 Unterscheidung zweier Arten der fragilen Staatlichkeit

Die Fragilität eines Staates ist nach der Einordnung in die von Ottaway benannte „Fragilität wegen schlechter Führung und Governance“(Ottaway 2007, S. 12) abhängig vom Regierungssystem des entsprechenden Staates. Demnach entstehe häufig ein „Abwärtsstrudel“(ebd., S.13), wenn auf eine schlechte Regierungsführung eine noch schlechtere Regierungsführung folgt. Als Beispiele lassen sich hier verschiedene gescheiterte Königreiche anführen. Diese eher abrupten und zeitlich in einen recht kurzen Zeitraum einzuordnenden Fälle des Staatsversagens stellen eindeutig nicht mehr die Mehrzahl an heutigen Fällen fragiler Staatlichkeit dar und sind aufgrund der zunehmenden Demokratisierung der internationalen Staatengemeinschaft eher rückläufig.

Daher fokussiert Ottaway ihre zweite Kategorie der fragilen Staatlichkeit - die inhärente Fragilität. Unabhängig vom derzeitigen Regierungssystem wohnt diese Fragilität dem Staat demnach inne. Die Ursachen liegen hier u.a. vor allem in dem konfliktgeladenen Bestehen unterschiedlicher ethnisch-religiöser Gruppierungen, die eine tiefsitzende Spaltung der Gesellschaft hervorgerufen hat. Die Frage nach der Identität eines Staates und seiner Bevölkerung spielt hier häufig eine maßgebliche Rolle. Jugoslawien bspw. litt sowohl in königlicher als auch in kommunistischer Ordnung unter erheblicher Fragilität. Staatliche, aber auch gesellschaftliche (innerstaatliche) Konflikte um Souveränität ließen unabhängig vom Regierungssystem keine funktionierenden Entwicklungsprozesse zum ordentlichen Staat zu. Ebenfalls als ein besonders bedeutendes Beispiel anzuführen ist Irak. Das osmanische Reich bestand fragil bis ins frühe 20. Jahrhundert „(...) aus einer Reihe von Problemprovinzen (...)“(Ottaway 2007, S. 13) und behielt den fragilen Status auch unter britischer Königreichs­Ordnung. Auch Einsätze der US-Armee sowie Präsenz weiterer fremder Mächte änderten bis heute wenig an der Fragilität.

1.2.2 Struktur-, Prozess- und Auslösefaktoren fragiler Staatlichkeit

Inhaltlich dem Ansatz von Ottaway ähnelnd, aber durchaus noch differenzierter, geht Ulrich Schneckener vor. Seiner Auffassung nach sollte man zunächst, um „(.) die Vielzahl an Faktoren zu ordnen“, zwischen „ Struktur-, Prozess- und Auslösefaktoren“ 10 (Schneckener 2007, S. 110) und sodann noch die Ebenen „international/regional“, „national“ und „substaatlich“ unterscheiden. Indem Schneckener damit noch intensiver die Ursachen und Gründe fragiler Staatlichkeit in einen zeitlich-historischen Kontext setzt, erreicht er eine noch trennschärfere Darstellung dessen, was die kausalen Wirkzusammenhänge von fragiler Staatlichkeit ausmachen.11

Der inhärenten Fragilität von Ottaway kommen die „Strukturfaktoren“ nahe. Diese sprechen auf die Umstände an, die einem Land seit jeher beiwohnen und einen permanent-andauernden Charakter besitzen. Als Beispiele sind insbesondere das koloniale Erbe, die demografische Entwicklung, der Einfluss von Groß- und Regionalmächten sowie das Bestehen einer multiethnischen Bevölkerung zu nennen. Historisch bedeutend sind in diesem Zusammenhang auch Strukturmerkmale wie z.B. die Existenz von Bodenschätzen oder die klimatischen Bedingungen von hoher Relevanz.

Weniger historisch, aber dennoch in zeitlicher Relation interpretiert, handelt es sich bei den Prozessfaktoren vor allem um verhaltensorientierte Gründe fragiler Staatlichkeit. Repressives Regierungshandeln, Klientelismus und das Erstarken einer Schattenwirtschaft zeichnen diese Faktoren aus. Eine Staatskrise kann der Theorie nach in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren durch solche Prozessfaktoren ausgelöst werden.

Hingegen sind die sog. Auslösefaktoren bzw. die „triggers“ in der Lage, durch massive politisch-gesellschaftliche Disruptionen „(...) innerhalb weniger Tage oder Wochen einen abrupten Wandel [auszulösen])“ (Schneckener 2007, S. 111). Das Augenmerk wird hier von der historischen Betrachtung auf konkrete Krisensituationen, die eher losgelöst von der historischen Entwicklung entstehen, umgelenkt. Äußere militärische Eingriffe, Putschversuche, revolutionäre Bewegungen, Bürgerkriege und soziale Unruhen im Allgemeinen können als Beispiele aufgeführt werden.

[...]


1 Die Ethnologen Bunke/Bürge/Göpfert (2015) berichten in Ihrem Artikel etwa über den heute üblichen Sprachgebrauch des „afrikanischen Kulturraums“ und der damit verbundenen Gefahr von Generalisierungen und der Verhinderung, zu individuell-problemorientierten sinnvollen Lösungen (auch im Bereich der Entwicklungshilfe) zu kommen.

2 Durchaus kritisch zu betrachten ist der Aspekt des Staatsgebiets. Beispielsweise findet bezüglich des Staatsgebietes und überhaupt der Anerkennung der Staatlichkeit von Palästina intensiver Streit statt. Auch die im wissenschaftlichen Konsens genutzte Drei-Elemente-Lehre ist nicht vollkommen frei von Kritik. Bspw. lässt sich zu Palästina diesbezüglich weiter ausführen, dass zwar 137 der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Palästina als unabhängigen Staat anerkennen. Die deutsche (und viele weitere europäische) Jurisprudenz(en) jedoch gehen davon aus, dass es keinen eigenständigen Staat Palästina gibt. Vertiefend dazu: Deutscher Bundestag 2019, S. 4 ff.

3 Synonyme dem Online-Wörterbuch „Woxikon" entnommen: https://synonyme.woxikon.de/synonyme/ fragilit%C3%A4t.php , 07.09.2019

4 Detaillierte Ausführungen zu den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit sowie zur Gewaltenteilung bietet Maurer (2005), S.239 ff. sowie S. 379 ff.

5 Nach Debiel (2005), S. 17 besteht diese soziale Grundversorgung aus den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Wasser, sanitäre Einrichtungen und Elektritzizät.

6 Diese Aufzählung stellt eine Zusammenstellung entsprechender Merkmale aus relevanter Literatur dar. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, insbesondere vor dem Hintergrund der „Undefinierbarkeit“ der fragilen Staatlichkeit nicht.

7 Der Ausschusses für Entwicklungszusammenarbeit (kurz DAC für „Development Assistance Comitee“) ist das wichtigste Organ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für Fragen der Staatenentwicklung.

8 Weitere Ansätze sollen aber nicht gänzlich unerwähnt bleiben. So gab es bspw. von 1994 bis 2003 die „State Failure Task Force“ der University of Maryland (USA). In diesem quantitativ forcierenden Forschungsprojekt wurden 127 Fälle des Staatsversagens untersucht und analysiert. Als Ergebnis wurden drei zentrale Variablen, die einen Staatszerfall wesentlich bedingen, ausgemacht. Vgl. State Failure Task Force 1999.

9 Die Dimensionen im englischen Wortlaut: „Economic Management“, „Structural Policies“, „Policies for Social Inclusion/Equity“ und „Public Sector Management and Institutions“.

10 Schneckener selber bedient sich bei der Wahl dieser Begriffe bei Matthies 2000, S. 37 f.

11 Nachfolgend werden an dieser Stelle lediglich die Grundzüge dieser Auffassung erläutert. Auf S. 112 bietet Schneckener eine umfassende Darstellung seiner „Faktor-Ebenen-Matrix“.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Fragile Staaten als besondere Herausforderung für die Entwicklungshilfe
Hochschule
Hochschule Bochum
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
18
Katalognummer
V539129
ISBN (eBook)
9783346156181
ISBN (Buch)
9783346156198
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklungszusammenarbeit, Nachhaltigkeit, Nachhaltige Entwicklung, Fragile Staatlichkeit
Arbeit zitieren
Ferdinand Fröhlich (Autor:in), 2019, Fragile Staaten als besondere Herausforderung für die Entwicklungshilfe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539129

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Fragile Staaten als besondere Herausforderung für die Entwicklungshilfe



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden